Konservativismus 2.0

[kommentiert]: Christopher Schmitz über den Konflikt zwischen Ansgar Heveling und der Netzgemeinde.

Das Netz ist in Aufruhr. Auslöser hierfür ist ein vom Bundestagsabgeordneten Ansgar Heveling im Handelsblatt veröffentlichter Kommentar. Hierin wirft der CDU-Politiker der „Netzgemeinde“ vor, zentrale Werte der bürgerlichen Gesellschaft – allen voran den des Eigentums – zu unterminieren. Das „Netz“ reagierte hierauf promt: Empörten Reaktionen auf Hevelings Position folgte bissiger Spott über seine Person, auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken entlud sich binnen kürzester Zeit das, was im Netzjargon gemeinhin als „Shitstorm bezeichnet wird. Doch worin liegen die Ursachen für die tiefe Entrüstung der Netzgemeinde, die an konträre Positionen und plakative Kritik aus den Reihen der etablierten Politik doch längst gewöhnt sein müsste?

Zunächst muss man Hevelings Äußerungen vor dem aktuellen netzpolitischen Hintergrund sehen: In Amerika protestieren Internetnutzer seit Wochen Seite an Seite mit den von ihnen sonst oftmals kritisierten Riesen der Internetbranche gegen die Gesetzesinitiativen SOPA (Stop Online Piracy Act) und PIPA (Protect Intellectual Property Act).[1] Diese gelten unter Kritikern vielfach als Einstieg in eine Praxis der Internetzensur. Gleichzeitig findet in Europa in den einzelnen Nationalparlamenten wie auch im Europaparlament gerade der Ratifizierungsprozess für das ebenfalls umstrittene multilaterale und geheim verhandelte Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) statt, gegen das ähnliche Argumente vorgebracht werden wie gegen SOPA und PIPA.[2]

Hinzu kommt, und das betont beispielsweise auch seine Fraktionskollegin Dorothee Bär, dass Hevelings vornehmliches Interesse als Mitglied der „Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft“ darin bestehen sollte, Gräben zwischen der Position der Netzgemeinde und jener der Politik zuzuschütten, anstatt sie zu vertiefen. Zudem habe die provokante, durch Stilblüten und metaphorische Kraftausdrücke („digitales Blut“, „digitale Maoisten“, „ruinenhafte Stümpfe unsere Gesellschaft“, „verbrannte Erde unserer Kultur“ usw.) geprägte Wortwahl des CDU-Abgeordneten den Unmut weiter verstärkt.

Vor diesem Hintergrund wirkt Hevelings nachträgliche Aussage, er habe der Netzgemeinde bloß den „Spiegel vorhalten“ wollen, da ein „offener Diskurs über grundsätzliche Fragen von Freiheit, Eigentum und Demokratie im Internet nur schwer zu führen“ sei, nicht nachvollziehbar. Seine Strategie einer rhetorischen Polarisierung zwischen „digitalen Horden“ und „realen Menschen“ führt vielmehr dazu, dass sich ohnehin verhärtete Fronten weiter verfestigen.

So erscheint es auch zweifelhaft, ob die Äußerungen Hevelings lediglich als die eines uninformierten Störenfrieds, eines so genannten „Trolls“ zu betrachten sind. Die Absichtserklärung, den Widersachern in der Debatte einen Spiegel vorzuhalten, wirkt wie ein Vorschub, um das eigentliche Vorhaben zu kaschieren: Hinter der Anrede an die Netzgemeinde könnte vielmehr eine Ansprache an das eigene konservative Milieu stecken, das als eigentlicher Adressat offensichtlich wird: Heveling ruft die Bürger zur Vorsicht, mahnt sie an, die Werte der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen – auch im Netz und gegen den Narzissmus der Netzgemeinde.

Hier wirken Hevelings Ausführungen jedoch nicht sonderlich überzeugend. So betont er einerseits das potenziell totalitäre Gedankengut und die Ignoranz von Revolutionen gegenüber der jeweiligen Bevölkerungsmehrheit, zieht später jedoch ausgerechnet das Beispiel der Französischen Revolution – seiner Auffassung nach die Geburtsstunde des Citoyen und der Ideale der Demokratie, Freiheit und des Eigentums – als ein argumentatives Kerngebilde für seine Position heran.

Diese Argumentation wirkt vor allem aus folgendem Grund verdreht: weil die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft ihre Bedeutungsdynamik überhaupt erst durch kritische Veröffentlichungen aufgeklärter Bildungseliten an den staatlichen Zensurbemühungen vorbei gewannen. Aktivität in Diskussionsforen, Logen sowie die Teilhabe an einer lebendigen wie auch kritischen Zeitschriftenkultur beschreiben das Wirken und Handeln des Citoyen für die Idee der Aufklärung trefflicher als Hevelings Beharren auf die Begrifflichkeit des geistigen Eigentums. Dies erweckt dabei die Assoziation eines Besitzanspruchs, gemeinhin folgt daraus ein Anspruch an Vergütung und Verwertung.

Heveling unterstellt dem Citoyen als „Zoon Politikon“ der Aufklärung Profit- und Verwertungsinteressen im Sinne einer genuin ökonomischen Begriffswelt. Die weitläufig akzeptierte definitorische Abgrenzung, die zwischen den politischen Idealen des Bildungsbürgers (versinnbildlicht durch den Citoyen) und der ökonomisch-materiellen Interessensvertretung eines Großbürgers (repräsentiert durch das Bild des Bourgeois), wird bewusst eingerissen. So erscheint es geradezu paradox, dass unter Rückgriff auf die Ideale der Aufklärung gegen Grundsätze die Netzgemeinde polarisiert wird.

Wer mit der Geschichte des Internets und des WordWideWeb vertraut ist, wird in seinen zentralen Publikations- und Kommunikationskanälen (Foren, Blogs, Mailing-Listen usw.) funktionale wie strukturelle Parallelen zu der Diskussions- wie Publikationskultur der Aufklärung wiederfinden. Kurzum: Was damals über als ebenso neu empfundene Publikationsmittel kommuniziert wurde, passiert heute im Internet. Der Netzjargon kennt hierfür den Begriff des „Netizen“ – frei übersetzt: der Netzbürger. Die Existenz dieses Begriffes deutet dabei an, dass in der Netzgemeinde durchaus ein Bewusstsein für diese Traditionslinie vorhanden ist. Dies demonstrierte etwa Frank Rieger, der Sprecher des Chaos Computer Clubs in seiner Stellungnahme zu Hevelings Kommentar.

Insgesamt wirkt das Vorgehen vertraut: Mit Hilfe populistischer Rhetorik wird ein Feindbild konstruiert, an dem sich das eigene Milieu abarbeiten und in einer klaren Rollen in einem ansonsten diffus wirkenden Wirklichkeitsraum positionieren kann. Durch ihre überwiegend überhitzten und zum Teil auch wenig souveränen Reaktionen erweist sich die Netzgemeinde dabei einen Bärendienst. Ungewollt bestätigt sie das Bild der „digitalen Horde“, welches Heveling zuvor als Schreckensvision gezeichnet hat. Sachgerechte Auseinandersetzungen mit den Argumenten sind dadurch in den Hintergrund gerückt.

Vielleicht deutet dieser Vorfall jedoch einen Wendepunkt an, dessen Einfluss und Reichweite noch nicht abzuschätzen ist. Hevelings Beitrag könnte den Beginn eines neuen Umgangs des Konservatismus mit dem digitalen Wandel markieren: Nachdem der Einstieg in den pragmatischen Gebrauch des Internets als Kommunikationsmedium vollzogen ist, wird nunmehr die ideologische Basis des Internets zu verändern, zu verbürgerlichen versucht. So wie einst die Sozialdemokraten die Deutungshoheit in der sozialen Frage an Bismarck verloren, könnte der Netzgemeinde damit ein ähnliches Schicksal drohen: Der Verlust der Deutungshoheit über die libertären Grundwerte und die anarchische Architektur des Netzes.

Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. hierzu z.B.: http://www.heise.de/tp/artikel/36/36253/1.html

[2] vgl hierzu auch: http://www.heise.de/thema/ACTA