[analysiert]: Johannes Sosada über die schwierige gesellschaftliche Ausgangslage für einen möglichen Friedensprozess in Israel.
Heute vor zwanzig Jahren, am 4. November 1995, wurde der damalige Premierminister Israels, Jitzschak Rabin, durch den jüdischen Extremisten Jigal Amir ermordet. Der Friedensnobelträger war damals nicht etwa einem palästinensischen, sondern einem extremistischen, jüdischen Attentäter zum Opfer gefallen. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war die israelische Gesellschaft im Hinblick auf einen möglichen Frieden mit den Palästinensern gespalten; wenngleich der Zuspruch zu Rabins Versöhnungspolitik deutlich stärker ausfiel, als es heute je möglich erscheinen würde. Doch wieso wurde Rabins Politik von vielen unterstützt; und was hat sich seitdem in der israelischen Gesellschaft geändert?
Rabin war damals gelungen, große Teile der israelischen Gesellschaft für seine Ziele zu mobilisieren: Über 100.000 Israelis versammelten sich an jenem 4. November auf dem „Platz der Könige Israels“, um sich mit dem von Rabin, Peres und Arafat abgeschlossenem Oslo-Abkommen zu solidarisieren, das den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern voranbringen sollte. Für die Abkommen von Oslo hatten die drei Politiker 1994 den Friedensnobelpreis erhalten. Gegen Ende der Kundgebung führte Rabin noch einmal in eindringlichen Worten aus, was ihn antreibe und auch sichtlich bewegte:
„Ich bin 27 Jahre Soldat gewesen. Ich habe so lange gekämpft, wie der Frieden keine Chance hatte. Jetzt aber gibt es eine Chance, eine große Chance, und wir müssen sie ergreifen, denen zuliebe, die hier sind, und auch um jener willen, die nicht gekommen sind.“[1]
Wenige Minuten später wurde Rabin erschossen. Schon zuvor war er für seine Verhandlungsbereitschaft und die Aufnahme des Friedensprozesses massiv attackiert worden. Die Vereinbarungen von Oslo sahen vor, dass Israel die PLO (Palestine Liberation Organization) unter Arafat als Verhandlungspartner und offiziellen Vertreter der Palästinenser anerkannte. Im Gegenzug verpflichtete sich die PLO, sämtliche Passagen aus ihrer Charta, welche die Vernichtung Israels vorsahen, zu streichen. In einem weiteren Schritt sollten Teile der von den Israelis besetzten Gebiete im Gazastreifen und im Westjordanland an die palästinensische Verwaltung übertragen werden. Gerade dieser letzte Part der Vereinbarung mobilisierte große Teile des jüdischen ultrakonservativen Lagers und der Siedler in der Westbank.[2] Man warf Rabin vor, er würde einen „Ausverkauf Israels“ betreiben – im ultrakonservativen Lager sprach man gar von den „Verbrechen von Oslo“.[3] Je stärker der Friedensprozess an Dynamik gewann, desto mehr Anfeindungen sah sich Rabin ausgesetzt. Seine Frau Lea Rabin erinnert sich an Vergleiche mit dem Diktatorenpaar Ceausescu, an Morddrohungen und Bilder von Rabin in Naziuniform.[4] Mit Rabins Ermordung wurden die Hoffnungen vieler Israelis auf das Erreichen einer zeitnahen Friedenslösung begraben. Und gerade heute hat es den Anschein, als sei die von Rabin beschworene „Chance zum Frieden“ endgültig verstrichen.
Eindrücke von einer Friedensdemonstration in Israel. Fotos: Johannes Sosada
Ein Blick auf das aktuelle Tagesgeschehen zeigt die Ausweglosigkeit der Lage und wohin sich das Land seit der Ermordung Rabins entwickelt hat. In den letzten Wochen hat die Welle der Gewalt nicht abgenommen – und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Kein Tag vergeht ohne neue Medienmeldungen über Angriffe der Palästinenser auf israelische Zivilisten und Soldaten sowie Vergeltungsaktionen der Israelis auf der anderen Seite.[5] Diese Eskalation ist freilich keineswegs ein neues Phänomen: Seit Jahren werden verhältnismäßig „friedlichere“ Phasen von gewalttätigeren abgelöst. Allerdings scheint ihr zeitlicher Abstand immer kürzer zu werden. So hat sich die Stimmung nach dem Gaza-Krieg im vergangenen Jahr (Juni/Juli 2014) schon in diesem Jahr (September/Oktober 2015) schnell wieder gefährlich aufgeheizt.
Zu den Hauptursachen hierfür zählen die zunehmende Radikalisierung auf beiden Seiten sowie Ratlosigkeit und Perspektivlosigkeit, die sich allmählich einstellen. Ein Großteil der Israelis ist ernüchtert und glaubt nicht, dass es überhaupt noch zu einer Aufnahme des Friedensprozesses kommen kann. Denn zu oft sind inzwischen gerade die Bemühungen der gemäßigten Teile der palästinensischen und israelischen Gesellschaft um einen Dialog zerstört worden von den radikalen, extremistischen Kontraparts beider Seiten. Etwaige Bemühungen wurden meist von Zwischenfällen überschattet, die diese Versuche scheitern ließen und stattdessen zu einer neuen Spirale der Gewalt führten.[6] Gewaltausbrüche wie die zweite Intifada (2001 bis 2005) und die Gaza-Kriege 2008/09, 2012 und 2014 haben dazu geführt, dass innerhalb der Bevölkerung die Bereitschaft abnimmt, sich an einem Friedensprozess zu beteiligen.
So gaben in einer Umfrage 2014 nach dem Gaza-Krieg fünfzig Prozent der Israelis und 38 Prozent der Palästinenser an, dass sie ein permanentes Siedlungsabkommen unterstützten. Im Vorjahr 2013 waren es noch 54 Prozent der Israelis und 46 Prozent der Palästinenser gewesen. Überhaupt nur 47 Prozent der Israelis und 36 Prozent der Palästinenser glauben derzeit an eine Wiederaufnahme von Verhandlungen. Nach der erneuten Eskalation in diesem Jahr ist zu befürchten, dass die Zustimmungswerte bei der Umfrage gegen Ende dieses Jahres weiter sinken werden.[7]
Dass der Friedenprozess wieder an Dynamik gewinnen wird, erscheint vor diesem Hintergrund höchst unwahrscheinlich. So brachten schon 1995 viele tausend Menschen in den verschiedenen Friedenskundgebungen ihre Übereinstimmung mit den Friedensbemühungen zum Ausdruck – heute sind es deutlich weniger, die dies sichtbar tun. Von palästinensischer Seite verkündete Präsident Abbas vor Kurzem sogar, dass er sich nicht länger an das Osloer Friedensabkommen gebunden fühle.[8] Zuletzt ist es auf israelischer Ariel Scharon gewesen, der mit seiner Partei brach und die Räumung des Gazastreifens gegen massive Kritik durchsetzte und so dem Friedensprozess zumindest für einen kurzen Moment neues Leben einhauchte. Zwar sprachen auch auf den aktuellen Friedenskundgebungen u.a. Reuven Rivlin, der Staatspräsident, und andere Politiker; aber bisher ist keinem gelungen, die Menschen so stark zu mobilisieren wie dereinst Rabin. Doch woran scheitern diese Akteure bzw. was war bei Rabin anders?
Um den Friedensprozess neues Leben einzuhauchen, bedarf es charismatischer Personen, wie einst Rabin, die große Teile der israelischen Gesellschaft hinter sich sammeln können und auch nicht davor zurückscheuen, Teile der Gesellschaft und vielleicht sogar ihrer Partei oder Koalition gegen sich aufzubringen. Die Friedensentwicklung muss ein wesentliches Anliegen ihrer politischen Bemühungen sein und sie müssen ferner ein hohes Maß an Dialogfähigkeit mitbringen. Beides ist absolut notwendig, um mit dem Kontrahenten überhaupt verhandeln zu können – und auch zu wollen. Ohne eine große Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung bzw. die Fähigkeit, diese Zustimmung zu erreichen, wäre das Oslo-Abkommen damals nicht zustande gekommen. Rabin ist dies zu einem großen Teil gelungen – ohne die entsprechende Legitimierung wäre er zuvor nicht Premierminister geworden. Die hohe Teilnehmerzahl an den Kundgebungen spricht ebenfalls eine recht eindeutige Sprache.
Rabin war sich dieser Aspekte bewusst und forderte eindringlich dazu auf, diese „Chance zum Frieden zu ergreifen“. Gleichzeitig sah er aber auch die Notwendigkeit, dass diese Bemühungen nicht nur von einem Teil, sondern von der gesamten israelischen Bevölkerung mitgetragen werden mussten, damit wirklich alle friedliche Lebensbedingungen finden, also auch „um jener Willen, die nicht gekommen sind“.
Rabins Ermordung verwies schon damals auf ein bis heute anhaltendes Problem. Nicht nur die palästinensische Seite radikalisiert sich immer weiter, sondern es kommt auch immer häufiger zu Attacken von extremistischer jüdischer Seite – nicht nur auf Palästinenser, sondern auch auf säkulare Israelis. Beispielhaft seien hier der Angriff auf die Brotvermehrungskirche in Tabgha (Juni 2015), zahlreiche Anschläge auf palästinensische Siedlungen oder die Messerattacke eines jüdischen Extremisten auf Teilnehmer der Jerusalemer Gayparade (Juli 2015) genannt.
Die ohnehin pluralistische israelische Gesellschaft spaltet sich so immer weiter auf. Auch die Bevölkerungsentwicklung führt dazu, dass ein Friedensprozess in naher Zukunft unwahrscheinlich erscheint. Mitte der 1990er Jahre gab es ca. 150.000 Siedler in der Westbank; ein wesentlicher Teil von ihnen konnte dem ultrakonservativ-religiösen Lager zugerechnet werden. Eine ultraorthodoxe Partei, die Schas, war bereits damals an der Regierung unter Rabins Arbeitspartei Awoda beteiligt.[9] Der Einfluss der Siedler ist seitdem jedoch gestiegen. In der Westbank leben nunmehr über 350.000 Siedler.[10] Bei der Wahl im Frühling dieses Jahres gelang Benjamin Netanjahu eine Regierungsbildung nur in Form einer rechts-religiösen Koalition unter Einbezug einer nationalreligiösen und zweier religiöser Parteien – Parteien, die offen für eine Zweistaatenlösung eintraten oder sich zum Friedensprozess bekannten, wurden hingegen mit schlechten Ergebnissen abgestraft.
Falls es, entgegen dem jetzigen Anschein, zu einer erneuten Dynamisierung der Friedensgespräche kommen sollte, so fehlen neben einer Verankerung in der Bevölkerung auch eine klare Friedensstrategie und eine Person, die diese vermitteln kann. Rein verbale Bekenntnisse zu einer Zweistaatenlösung oder zum Frieden helfen in der verfahrenen aktuellen Situation nicht, einen solchen Frieden zu realisieren. Vielmehr bedarf es klarer Regeln und der Benennung sehr kleinschrittiger konkreter Ziele, die befolgt bzw. erreicht werden können. Es wäre fatal, wenn wieder fast dreißig Jahre, also eine ganze Generation lang, gekämpft werden müsste, „weil der Frieden keine Chance hatte“.
Johannes Sosada ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Zitiert nach Rabin, Lea: Ich gehe weiter auf seinem Weg, München 1997, S. 21.
[2] Vgl. Shapira, Anita: Israel, a History, Brandeis 2012, S. 430 f.
[3] Ebd., S 434.
[4] Siehe Rabin 1997, S. 12 f.
[5] Beispielhaft sei hier der Angriff auf den zentralen Busbahnhof in Beer Sheva genannt: Harel, Amos: Beer Sheva Attack Indicates Calm Is Still Far Away, in: Haaretz Online, 19.10.2015, URL: http://www.haaretz.com/israel-news/.premium-1.681111 [eingesehen am 29.10.2015].
[6] Hier kann beispielhaft die Ermordung der drei jüdischen Religionsschüler im Westjordanland im letzten Jahr genannt werden. Nach einer verhältnismäßig ruhigeren Periode eskalierte die Gewalt nach der Entführung und es kam zum Gaza-Krieg 2014.
[7] Das Truman Institut in Jerusalem führt in Kooperation mit verschiedenen Partnern regelmäßig palästinensisch–israelische Umfragen durch. Die aktuellste Umfrage vom Dezember 2014 kann hier eingesehen werden: http://truman.huji.ac.il/.upload/Joint%20Poll%20Dec%202014.pdf [eingesehen am 29.10.2015].
[8] Siehe o.V.: Abbas kündigt Friedensprozess mit Israel auf, in: Zeit Online, 30.09.2015, URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/mahmud-abbas-palaestina-oslo-friedensprozess-nahost-abkommen-israel [eingesehen am 29.10.2015].
[9] Vgl. Shapira 2012, S. 434.
[10] Vgl. Sherwood, Harriet: Population of Jewish settlements in West Bank up to 15.000 in a Year, in: The Guardian, 26.07.2012, URL: http://www.theguardian.com/world/2012/jul/26/jewish-population-west-bank-up [eingesehen am 29.10.2015].