[präsentiert]: Teresa Nentwig über die Fachtagung des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen „Digitales Edieren im 21. Jahrhundert“.
„Analog ist seit Jahren out, zumindest für bestimmte Altersklassen.“ Unter anderem mit dieser Tatsache begründete der Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Frank Bischoff, die Online-Veröffentlichung der nordrhein-westfälischen Kabinettsprotokolle aus den Jahren 1946 bis 1980. Nachdem bislang lediglich zwei Bände der Edition, die Wahlperioden 6 und 7 (1966 bis 1975) betreffend, digital zur Verfügung gestanden hatten, wurden Anfang November dieses Jahres auch die Protokolle der Wahlperioden 1 bis 5 sowie 8 online gestellt.[1] Der Nutzer kann jedoch nicht nur die bloßen Kabinettsprotokolle, sondern u.a. auch Kurzbiografien der in den Dokumenten vorkommenden Personen aufrufen.
Mit dieser umfangreichen Edition nimmt Nordrhein-Westfalen unter den deutschen Bundesländern eine Vorreiterrolle ein; denn abgesehen vom Bundesarchiv, das die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung aus den Jahren 1949 bis 1983 im Netz zur Verfügung stellt, kann derzeit lediglich das bevölkerungsreichste Bundesland eine digitale Edition seiner Kabinettsprotokolle vorweisen. Die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen bietet auf ihrer Internetseite zwar für die Jahre 1946 bis 1951 eine PDF-Version der gedruckten Edition an; doch anders als in der nordrhein-westfälischen Edition fehlen hier interne wie externe Verlinkungen.[2]
Fotos: Teresa Nentwig
Eingebettet war die Online-Veröffentlichung der NRW-Kabinettsprotokolle in die Tagung „Digitales Edieren im 21. Jahrhundert“, zu der am 3. und 4. November 2015 vor allem Archivare in die Düsseldorfer Villa Horion gekommen waren. In diesem altehrwürdigen, 1910/11 erbauten Haus, wo zwischen 1959 und 1999 der jeweilige nordrhein-westfälische Ministerpräsident seinen Amtssitz hatte und die Kabinettssitzungen stattfanden, ging man z.B. der Frage nach, ob wissenschaftliche Editionen in der heutigen Zeit digital oder analog zu veröffentlichen seien.
Über vieles bestand Konsens. So konnte die Frage des ersten Tagungsabschnitts, ob wissenschaftliche Editionen Ballast oder Mehrwert seien, eindeutig beantwortet werden: Editionen seien keineswegs ein Auslaufprodukt. So könnten bspw. edierte Kabinettsprotokolle Forschungsthemen anstoßen und überdies zur „Transparenz des Regierungshandelns“ beitragen, wie Bernd Neuendorf, Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport, in seiner Rede anlässlich der Freischaltung der Kabinettsprotokolle seines Bundeslandes betonte.
Einigkeit bestand auch darüber, dass analoge zukünftig neben digitalen Editionen bestehen könnten, wobei immer wieder auf die Vorteile von Online-Editionen verwiesen wurde. Gerade bei sehr großen Dokumentenmengen würden sie sich anbieten. Sie seien zudem weltweit verfügbar, könnten laufend ergänzt und gegebenenfalls korrigiert werden und böten die „Einbettung in einen Hyperraum“, wie es Francesco Roberg vom Hessischen Staatsarchiv Marburg ausdrückte. Mit Blick auf digitale Editionen von Kabinettsakten bedeutet das: Die bloßen Dokumente können z.B. mit Abbildungen, Video- oder auch Audiodateien verknüpft werden. So ist für die nordrhein-westfälische Online-Edition geplant, Zeitzeugeninterviews mit Mitgliedern der Kabinette Heinz Kühn und Johannes Rau der achten Wahlperiode (1975 bis 1980) in die Kabinettsprotokolle einzubinden.[3] Staatssekretär Neuendorf sprach deshalb zu Recht von einer „interaktiven Entdeckungsreise durch die Landespolitik“, die damit ermöglicht werde. „Trockene Elemente“ könnten „mit Leben gefüllt werden“.
Auf diese Weise lässt sich ein Problem beheben bzw. zumindest eingrenzen, auf das der frühere nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch in seinem Tagungsbeitrag hinwies: Kabinettsprotokolle seien „klinisch sauber“, „aseptisch“. Das, was zwischen vier oder sechs Augen besprochen worden sei, tauche dort nicht auf. Hirsch bezeichnete die Kabinettsprotokolle aufgrund dessen als eine „Teilwirklichkeit“. Doch gerade mithilfe von internen und externen Verlinkungen wie auch mithilfe eines wissenschaftlichen Apparats können die Editoren die digitalen Protokolle „zum Sprechen bringen“, wie es Karl-Ulrich Gelberg von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften plastisch formulierte. Denn auch darüber herrschte unter den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern weitgehend Einigkeit: Auch Online-Editionen sollten über bestimmte Komponenten verfügen, z.B. über eine Einführung, welche die Dokumente in den historischen Kontext einordnet.
Mögliche Nachteile von digitalen Editionen, so bestand ebenfalls nahezu vollständiger Konsens, würden gegenüber den Vorteilen in den Hintergrund treten. „Am gravierendsten“ könnten lediglich die Auflösung der Trägerinstitution und damit der Wegfall der Finanzierung sein, so Wolfgang Tischner von der Konrad-Adenauer-Stiftung, die derzeit die bereits analog publizierten Protokolle des CDU-Bundesvorstands aus den Jahren 1950 bis 1973 im Internet zur Verfügung stellt.
Doch so einvernehmlich und nüchtern-sachlich verlief die Tagung nicht an jeder Stelle. Dafür sorgte v. a. der Heidelberger Literaturwissenschaftler Roland Reuß, der für seine engagiert und pointiert vorgetragenen Stellungnahmen bekannt ist. Reuß, der erst kürzlich in der FAZ ganzseitig gegen eine „von Freibierphantasien benebelte Bibliothekslobby“ gewettert hatte, die „alles digitalisieren“ lasse und „es kostenlos in Umlauf“ bringe,[4] machte in seinem Tagungsbeitrag aus seiner Ablehnung digitaler Editionen keinen Hehl; wobei er insbesondere die Möglichkeit der Manipulierbarkeit als Problem ansah – im Gegensatz zu dem Kölner Editionswissenschaftler Patrick Sahle, der die Debatte um mögliche Fälschungen als ein „Scheingefecht“ bezeichnete.
Reuß hielt sich auch darüber hinaus nicht mit Kritik zurück: Er wandte sich gegen zu enge Vorgaben der wissenschaftlichen Förderinstitutionen, polterte gegen die voll auf Digitalisierung setzende Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und trat – wie schon in dem von ihm initiierten „Heidelberger Appell“ von 2009 – als strikter Gegner von Open Access auf. Und so überrascht kaum, dass auch Twitter und Facebook nicht verschont blieben: Über beides bekomme man keine Öffentlichkeit, sondern lediglich ein „weiteres Moment im Rauschen“, wobei Reuß Twitter einen „extremen Suchtfaktor“ bescheinigte; es werde benutzt, um „Existenz zu simulieren“, und führe zur „Ausbildung einer narzisstischen Struktur“. Reuß kritisierte in diesem Zusammenhang heftig eine immerzu twitternde Kollegin.
Seine klaren Worten behagten nicht jedem, aber regten zur lebhaften Diskussion an, ja stimmten den einen oder anderen Tagungsteilnehmer auch nachdenklich.
Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und war Bearbeiterin der 2012 erschienenen Edition der „Kabinettsprotokolle der Hannoverschen und der Niedersächsischen Landesregierung 1946 bis 1951“.
Galerie (Fotos: Teresa Nentwig)
- Foto 1: Villa Horion
- Foto 2: Im Mai 2007 wurde die Bronzeskulptur in Erinnerung an Johannes Rau enthüllt.
- Foto 3: Der frühere Kabinettssaal
- Foto 4: Roland Reuß
- Foto 5: Burkhard Hirsch
[1] Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind sieben Bände (1946 bis 1975) in gedruckter Form erschienen. Band 8 wird im Jahr 2017 als Printversion veröffentlicht werden. Das heißt, die Protokolle dieses Bandes wurden zuerst online zur Verfügung gestellt.
[2] Vgl. dazu auch Schlemmer, Martin: Eine „Leitquelle“ des Landes. Die (digitale) Edition der Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, in: Archivar, Jg. 68 (2015), H. 3, S. 270 f., hier S. 270.
[3] Vgl. dazu auch Schlemmer: Eine „Leitquelle“ des Landes, S. 271.
[4] Vgl. Reuß, Roland: Eine Kriegserklärung an das Buch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2015.