Als am 9. Oktober 1989 auf den Straßen Leipzigs der Ruf »Wir sind das Volk« erschallte, konnte kaum jemand ahnen, dass damit eine Zäsur von weltpolitischer Bedeutung einen ihrer Ausgänge nahm. Was als Selbstermächtigung der DDR-Bürger gegenüber der Staatsmacht begann, endete im Zusammenbruch der Blockkonfrontation, die so fest gefügte Nachkriegsordnung implodierte, teils wurde sogar schon – wenngleich, wie sich zeigen sollte, vorschnell – das Ende der Geschichte ausgerufen.
Heute, dreißig Jahre später, scheint zwar noch immer sicher, dass sich in 1989 das Ereignis und die Wahrnehmung eines tiefen Einschnitts in der Geschichte in Deckung bringen lassen. Gleichwohl weisen nicht wenige der vorliegenden Beiträge in der aktuellen Ausgabe der INDES darauf hin, dass auch drei Dekaden nach 1989 noch unterhalb des Bruchs Kontinuitäten fortwirken, die eine Befragung des Zäsurcharakters von 1989 notwendig erscheinen lassen.
Zunächst: Der Glaube an einen unwiderruflichen Schritt voran in der Menschheitsgeschichte, die Hoffnungen, die mit dem Ende der Blockkonfrontation einhergingen, sie haben sich weltweit längst deutlich abgekühlt. Ein neu-alter Kalter Krieg wird gleichermaßen proklamiert wie die Rückkehr des Autoritarismus. Erst recht hat sich kein Zeitalter von Frieden, Humanismus und allgegenwärtiger Demokratie in der Nachfolge einer Epoche von Krieg, Konflikt und Unfreiheit segensreich entfaltet. Beinahe im Gegenteil – zeigte sich doch nun, dass der Außendruck der weltumspannenden Systemgegnerschaft innerhalb der jeweiligen Blöcke spannungsmindernd gewirkt hatte, wohingegen der Wegfall der kommunistischen Herrschaftsalternative separatistische Bestrebungen begünstigte und in zahlreichen Nationalitätenkonflikten resultierte.
In den westlichen Industriestaaten griff – und greift – sodann eine rechte Regression ebenso um sich, wie sich der Klimawandel, der neoliberale Umbau von Staatlichkeit und die Spaltung von Arm und Reich zu neuen Höhen aufgeschwungen haben. Wie mit dieser potenzierten Unübersichtlichkeit umgegangen werden kann, ja muss, und was das für die Erforschung der jüngsten Zeitgeschichte bedeutet, beschreibt etwa der Beitrag von Angela Siebold: Das Ende der Geschichte, es war womöglich weniger eine Zäsur denn eine Atempause, die fortbestehende Kontinuitäten zwischenzeitlich überdeckte.
Dies gilt noch für die Gegenwart. Die jüngsten Debatten um Ostdeutschland nach 1989, speziell die Versuche, eine ostdeutsche Identität zu bestimmen: Sie stehen in diesem Sinne stellvertretend für den klassischen Versuch, Geschichte und Geschichten eine idealtypisch gedachte Generation später noch einmal neu zu befragen, sie zu ordnen und einzufügen in den Fluss der Geschichte. So ist 1989/90 namentlich für »den Westen« viel stärker Fortsetzungs- denn Bruchgeschichte. Bezeichnend: Nicht das postmaterielle Programm der SPD – seinerseits ein Bruch mit der wirtschaftsproduktivistischen Parteitradition – sondern die Kontinuität schwarz-gelber Regierungspraxis überdauerte den Bruch.
Zugleich zeigte sich, als die CDU im Osten die Wahlen des Jahres 1990 und hier vor allem die vormaligen »roten« Hochburgen Sachsen und Thüringen gewann, dass aber auch in den späteren neuen Bundesländern die Wirklichkeit der DDR manche Tradition bereits vor der Wende nachhaltig verschlissen hatte. Darüber hinaus manifestierte sich in den brennenden Asylbewerberunterkünften der frühen 1990er Jahre, erst im Osten der vereinten Bundesrepublik und dann auch im Westen, die Wiederkehr des untergründig stets Vorhandenen auf beiden Seiten der einst trennenden Mauer.
Mithin: Die Einteilung in ein Davor und Danach, so sehr sie sich für 1989 auch anzubieten scheint, sie erzählt nicht die ganze Geschichte von 1989. Dass sich etwa ostdeutsche Konsumpraktiken nicht entlang dieser Jahreszahl aufspalten lassen, belegt bspw. Clemens Villinger in seinem Beitrag. Und dass der rechte Mob in Dresden wieder »Wir sind das Volk« brüllt, ist auch deshalb so wenig aus dem Heute allein erklärlich, weil der Bruch von 1989 – anders als die Aufarbeitungsbemühungen dies suggerieren wollen – gerade nicht auf seine langen Linien hin befragt worden ist, wie Ilko-Sascha Kowalczuk ausführt. Andererseits ist in der Einheitseuphorie und bei den nachfolgenden Jubiläen allzu bereitwillig übersehen worden, wie toxisch sich der Volks-Begriff des Jahres 1989 auch auswirken konnte, worauf im vorliegenden Heft Ralph Jessen hinweist.
Kurzum, bei allem gesicherten und teilweise schon wieder halb vergessenen Wissen – sei es über den Kontrollverlust der Staats- und SED-Parteiführung, über Dritte Wege oder insgesamt die Ereignisse um 1989 herum – scheint eines offenkundig: Die Debatte um den Ort von 1989 befindet sich im dreißigsten Jahr der Revolution von 1989 wissenschaftlich und publizistisch dort, wo sie hingehört – in einer Phase neuer, stärker reflektierender Befragung, vielleicht sogar an einem neuen Anfang mit ungewissem Ausgang, dem die vorliegende Ausgabe der INDES, wenn auch nur in Ausschnitten, einen Unterbau zu liefern versucht.
Die Ausgabe 1-2019 ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. [zur Leseprobe]