Mit „Entdeckt, erdacht, erfunden. 20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum“ hat das Göttinger Institut für Demokratieforschung das dritte Buch zu Göttingen herausgebracht, was sich gezielt mit kurzen Texten auch an ein nicht-wissenschaftliches Publikum wendet. Warum?
Nentwig: Zum einen ist unserem Institut der Transfer von Erkenntnissen in die breite Öffentlichkeit sehr wichtig. Wir wollen, wie man so schön sagt, beizeiten aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft heraustreten und Aspekte aus der Stadt, in der wir arbeiten und leben, zwar aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive, aber eben auch gut lesbar und kurzweilig, einem breiteren Publikum präsentieren. Zum anderen haben wir auf unsere beiden bisherigen Göttingen-Bücher[1] eine sehr gute Resonanz erfahren. Daher nun ein drittes.
Der neue Band beschäftigt sich mit Erfindungen im weitesten Sinne. Was verstehen Sie darunter und warum haben Sie diese Perspektive gewählt?
Nentwig: Denken wir an Erfindungen, denken wir häufig sogleich an Innovation, an Fortschritt, an einen schöpferischen Akt. Der Ausgangspunkt kann eine kluge Frage, eine Notwendigkeit oder ein verrückter Traum sein – oder: Zufall. So ist die Entdeckung von etwas, wie beispielsweise von einem bestimmten Pilz, meist Zufall, die daraus resultierende Erfindung, wie etwa Penicillin, dann jedoch ein zielgerichteter Akt. Mithilfe bekannter Mittel kann ein neues Ziel erreicht werden, oder es können für ein bekanntes Ziel neue Methoden zu dessen Erreichung entdeckt werden. Erfindungen müssen jedoch nichts Gegenständliches sein; vielmehr werden in unserem Buch auch Begriffe, Theorien und soziale Errungenschaften aufgegriffen, z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch, als dessen „Vater“ der Göttinger Ehrenbürger Gottlieb Planck gilt, oder der von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi geprägte Begriff „Leitkultur“.
Die von uns ausgewählten Erfindungen müssen allerdings nicht zwangsläufig mit einer Erfolgsgeschichte zu tun haben. Sie beziehen sich auch auf gescheiterte Ideen, die sich nicht durchsetzen konnten, aus heutiger Perspektive vielleicht auch skurril anmuten mögen oder sogar der Ursprung großen Leids gewesen sind.
„Fortschritt“ ist, so wird in Ihrem Buch deutlich, ein zweischneidiges Schwert, ein ambivalenter Prozess. Zudem ist nicht jede Erfindung zugleich ein wissenschaftlicher Fortschritt.
Trittel: Jenseits der – manchmal anekdotisch anmutenden Geschichten – sagen die Erfindungen gleichzeitig auch etwas über die Stadt, in der sie gemacht wurden, aus, über die Bedingungen von Wissensgenese. Sie sind Grundlage neuer Wissensbestände, die z. T. kanonisiert wurden, mithin von Fortschritt, der oftmals per se als positiv, wünschenswert und zukunftsträchtig angesehen wird. Hinzu kommt: Der Wunsch nach unverrückbaren „Expertenmeinungen“, eine gewisse Faktenhörigkeit hat in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte einen enormen Stellenwert, wenn öffentlich „Wahrheiten“ gesetzt werden sollen. Dabei wird oftmals vergessen – und das Buch soll darauf aufmerksam machen – dass Wissen niemals eindeutig ist, sondern konstruiert, gedeutet, interpretiert wird und oftmals zu Herrschaftswissen gerinnt, welches hilft, normative Positionen zu begründen oder infrage zu stellen, mitunter auch Erfindungen abzusichern, die großes Leid bedeuten, gerade im Fall der deutschen Geschichte während der nationalsozialistischen Diktatur, als Leitwissenschaften grundlegend für den Zivilisationsbruch wurden. Deshalb nehmen die einzelnen Texte des Bandes immer auch die Ambivalenz von Wissen und Wissensgenese in den Blick, die Grenzen von Wissenschaftlichkeit werden thematisiert. Das unbedingte Streben nach Erkenntnisgewinn mag zwar sowohl der Wissenschaft als auch der Moderne inhärent sein, zeitigt jedoch Folgen, die es zu benennen gilt. Das eindringlichste Beispiel hierfür mit direktem Bezug zu Göttingen ist vielleicht die – mittlerweile mit hoher Symbolkraft aufgeladene – Entwicklung der Atombombe.
Inwiefern?
Trittel: Die mit ihr verbundenen Wissenschaftler[2] haben z. T. selbst über die Verantwortung, die das von ihnen generierte Wissen mit sich brachte, reflektiert. So nahm Carl Friedrich von Weizsäcker etwa mit Werner Heisenberg während des Zweiten Weltkrieges an einem Projekt zur Erforschung der Kernspaltung teil. Von Weizsäcker war sich dessen bewusst, dass er als Naturwissenschaftler eine politische Verantwortung trug; Wissenschaftler müssten in die Politik eingreifen, die dort getroffenen Entscheidungen kritisch überprüfen und gegebenenfalls Widerstand leisten – so seine zumindest später geäußerte Überzeugung.[3] Von Weizsäcker erkannte die Ambivalenz seiner Wissenschaft, deren Sinnbild die Atombombe ist. Das Hauptproblem des Naturwissenschaftlers, der verantwortlich handeln wolle, sei jedoch seine Verflechtung in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge, die Tatsache, dass er eben nicht abgeschieden Wissenschaft um ihrer selbst willen betreiben könne.
Allein: Auch noch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Physiker um Otto Hahn und Werner Heisenberg en gros als unpolitische Wissenschaftler, die eine „reine Wissenschaft“ – in ihren Augen also Grundlagenforschung – zunächst von deren Anwendungsbezug trennten, geriert; ein Selbstbild, das sie insbesondere retrospektiv für die Zeit des Nationalsozialismus entwarfen.
Griffen sie doch, wie in der berühmten „Göttinger Erklärung“ von 1957, in das politische Geschehen ein und artikulierten einen Standpunkt, wurde ihr Handeln sogleich als „couragierter Akt des Gewissens und der Moral gelobt“[4]. Diese Lesart darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass die Physiker ebenfalls „aller Welt klarmachen [wollten], mit militärischer Forschung partout nichts zu tun zu haben, und die Menschen für ihr ziviles Forschungsanliegen begeistern“[5] wollten. „Damit suggerierten die Göttinger Achtzehn die Möglichkeit, klar zwischen militärischer, ‚schlechter‘ und friedlicher/ziviler, also ‚guter‘, Kernkraft trennen zu können.“[6]
Der „Vater der Wasserstoffbombe“, der übrigens auch zeitweise in Göttingen wirkende Edward Teller, beharrte sogar zeitlebens auf der Trennung von Wissenschaft und Politik. Teller selbst sagte, „die Pflicht des Wissenschaftlers sei es, […] Wissen zu produzieren und dessen technische Umsetzung zu ermöglichen – ‚ohne Beschränkung und unter allen Umständen‘. Die konkrete Anwendung und damit die Verantwortung bleibe Sache politischer Entscheidung. Einstein hat am Ende seines Lebens bereut, Roosevelt zum Bau der Bombe bewegt zu haben. Teller: ‚Ich würde das Bereuen bereuen.‘“[7]
Das Buch spannt einen weiten Bogen, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Welche Erfindung ist Ihre „Lieblingserfindung“?
Trittel: Die, über die ich selber schreiben durfte. Der Philosoph Karl Christian Friedrich Krause hat Anfang des 19. Jahrhunderts versucht, eine eigene Sprache zu erfinden, der es gelänge, die Welt und ihre Komplexität angemessen abzubilden. Was heute nach einem Spinner klingen mag, fiel damals in die Zeit des Vormärz und auch der sprachpuristischen Bewegung; darüber hinaus war er ein Querdenker im besten Sinne, der akademisch nie reüssieren konnte, aber trotzdem zeitlebens versuchte, sein Anliegen zu realisieren. Das imponiert mir.
Nentwig: Bei mir fällt die Antwort nicht ganz so eindeutig aus, weil unser Sammelband so viele interessante Themen, so viel Beeindruckendes vereint, darunter die Geschichten des Vitamin D und des Kokains. Vielen weiteren spannenden Erfindungen konnten wir aus Platzgründen leider keinen einzelnen Text widmen, etwa der essbaren Pommesschale, die in Göttingen erfunden wurde, oder dem hier entwickelten Dendrometer, einem Gerät, mit dem sich Umfang und Höhe von Bäumen messen lassen und das wegen seiner Form als „Göttinger Flaschenöffner“ bekannt ist. Die Gebrauchsanweisung gibt es heute nicht nur auf Deutsch, sondern u. a. sogar auf Arabisch, Japanisch, Koreanisch, Rumänisch und Türkisch.
Das alles spricht für einen zweiten Band über Göttinger Erfindungen.
Nentwig: Themen gäbe es dafür auf jeden Fall! Zunächst wollen wir aber gern ein Buch über Proteste in Göttingen machen. Ob der „Konsumstreik“ der Studierenden im Jahr 1790, die Proteste gegen die Erweiterung des Truppenübungsplatzes der Bundeswehr auf dem Kerstlingeröder Feld Mitte der 1980er Jahre oder die Demonstrationen gegen „Faschismus und Polizeiterror“ nach der Ermordung des 21-jährigen Alexander Selchow durch Skinheads in der Silvesternacht 1990/1991: Göttingens Geschichte ist auch eine Geschichte der Proteste.
Dr. Teresa Nentwig und Dr. Katharina Trittel sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Das Interview führte Pauline Höhlich.
[1] Marg, Stine/Walter, Franz (Hrsg.): Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt, Göttingen 2012; Walter, Franz/Nentwig, Teresa (Hrsg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016.
[2] Etliche von ihnen sind porträtiert in Marg/Walter (Hrsg.): Göttinger Köpfe.
[3] Vgl. etwa Dönhoff, Marion Gräfin/Sommer, Theo: „Der Wandel des Bewußtseins ist unterwegs“, in: Zeit Online, 26.06.1992 (Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker), URL: https://www.zeit.de/1992/27/der-wandel-des-bewusstseins-ist-unterwegs/komplettansicht [eingesehen am 20.08.2019].
[4] Lorenz, Robert: Erklärung, Aufklärung und Verklärung, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 11.04.2017, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/goettinger-erklaerung-1957-erklaerung-aufklaerung-und-verklaerung [eingesehen am 20.08.2019].
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Geiß, Matthias: Bloß keine Selbstzweifel, in: Zeit Online, 28.04.1995, URL: https://www.zeit.de/1995/18/Bloss_keine_Selbstzweifel [eingesehen am 20.08.2019].
Abb. 1: Buchcover.
Abb. 2: Titelbild des von Gottlieb Planck verfassten BGB-Kommentars, hier der erste Band in der 3. Auflage von 1903.
Abb. 3: Pflegerl, Siegfried: Lexikon der Begriffe der Wesenlehre Karl Christian Friedrich Krauses, Hamburg 2008, S. 80, URL: http://www.internetloge.de/krause/krause_lexikon_begriffe.pdf [eingesehen am 20.08.2019].