Die Tafeln: Wertvolle zivilgesellschaftliche Institution oder bedenkliche Armutsverwaltung?

Beitrag verfasst von: Florian Grahmann
[kommentiert]: Florian Grahmann mit kritischen Bemerkungen zum Konzept der „Tafeln“ und zur Rolle des Staates bei der Armutsbekämpfung

Die Tafeln sind ein bekannter Bestandteil des Bildes deutscher Innenstädte. Die ursprüngliche Idee der Tafeln, die „überschüssigen“ Lebensmittel des Einzelhandels zu retten und sie unter Bedürftigen zu verteilen, ist nach 26 Jahren schon lange kein „Phänomen“ mehr.[1] Sie ist eine Institution geworden, die mit einer Lobbyvertretung in Berlin mit 60.000 ehrenamtlichen Helfern 1,5 Millionen Bedürftige in Deutschland mit Lebensmitteln unterstützt.[2] Das Projekt, das 1993 in Berlin ins Leben gerufen wurde und sich an dem amerikanischen Vorbild des New Yorker City Harvest orientierte, hatte zunächst das Ziel, vor allem Obdachlose zu unterstützen. Diese Zielgruppe bildet allerdings mittlerweile die Minderheit unter den vielen verschiedenen Gruppen, die die Tafel nutzen.[3]

Doch stellt sich grundsätzlich die Frage, – unabhängig davon, dass das bürgerschaftliche Engagement in einer sozialen Einrichtung wie der Tafel nur zu begrüßen ist – ob nicht die ausreichende Versorgung der bedürftigen Bevölkerung mit Lebensmitteln Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sein sollte. Denn Tatsache ist, dass die Bekämpfung von Armut gerade durch die  Industrialisierung und der Einführung des Kapitalismus immer ein Projekt der Politik war.[4] Doch ist Armut in Deutschland neben Klimawandel, Abgaskrise und Brexit derzeit kein populäres Thema, stattdessen überlässt man die Versorgung der Armutsbetroffenen mit Lebensmitteln lieber der bereits etablierten zivilgesellschaftlichen Institution der Tafeln. Allerdings mahnen viele Sozialwissenschaftler, unter anderem Stefan Selke, der in der deutschen Tafelforschung tätig ist,[5] dezidiert an, dass die Tafeln gerade für ihre „Kunden“ menschenunwürdige Verhältnisse schafften. Weitere Kritiker sprechen von „Almosenökonomie“ und von den Tafeln als „Sozialkonzern“.[6][7] Letzteres bezieht sich auf das professionelle Auftreten in der Öffentlichkeit und die hohen Einnahmen, die sich beispielsweise 2017 auf über 6 Millionen Euro beliefen.[8]

Aber warum wird eine solche Kritik geäußert? Um diese Frage beantworten zu können, muss auf die aktuellen Strukturen und Probleme der Tafeln eingegangen werden. Eines der größten Probleme, vor dem diese in Deutschland momentan stehen, ist die Summe an Menschen, die sie zu versorgen haben. Durch die Hartz-IV-Reformen von 2005 sahen sich die Tafeln mit einem erhöhten NutzerInnenanstieg konfrontiert, dadurch stieg auch ihre Anzahl im bundesdeutschen Gebiet. Allerdings nicht sehr gleichmäßig und in Abhängigkeit davon, ob es in den städtischen Bereichen eine gehobene Mittel- oder eine untere Oberschicht gab, die die ehrenamtliche Arbeit übernahm.[9] Durch die erhöhte Zahl an NutzerInnen sahen sich die Tafeln gezwungen, auf immer weiter entfernte Supermärkte als Lieferanten noch verzehrbarer aber nicht mehr für den Verkauf geeigneter Lebensmittel zurückzugreifen, um die Versorgung zu gewährleisten. Irgendwann schaltete sich der Dachverband Deutsche Tafel e. V. ein, um die Streitereien zwischen den einzelnen Tafeln und Tafelläden über die „Einzugsgebiete“ zu schlichten. Trotz dieser Ordnung der Deutschen Tafeln kommen die einzelnen Vereine zunehmend mit ihrer Versorgung an ihre Grenzen. Wenn neben der ursprünglichen Gruppe der Obdachlosen noch prekär Beschäftigte, Hartz-IV-EmpfängerInnen, Alleinerziehende, RentnerInnen mit zu geringer Rente, Studierende und Migranten hinzu kommen, wird es für die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen in einer Ausgabestelle immer schwieriger, eine gerechte Verteilung zu finden, die jeden mit seinen Wünschen in gleichem Maße berücksichtigt.[10]

Eines der größten Probleme, mit denen TafelnutzerInnen konfrontiert werden, ist der Gang zur Tafel selbst, der bei den meisten mit Scham besetzt ist. Das liegt mitunter am Standort der Tafelläden. Ist eine Tafel gut einsehbar oder müssen die NutzerInnen draußen vor der Tafel in einer Schlange auf den Einlass warten, wird das von vielen so empfunden, als ob man am gesellschaftlichen „Pranger“ stünde.[11] Der Gang zur Tafel manifestiert somit in der eigenen Wahrnehmung oftmals das eigene Scheitern, vor allem, weil NutzerInnen hier von den Almosen anderer abhängig sind und ein Stück weit ihre Autonomie verlieren. Schließlich handelt es sich bei den Tafel-Leistungen nicht um finanzielle Unterstützung, bei der man noch selbst die Kontrolle darüber hat, für welche Lebensmittel man das erhaltene Geld ausgibt. Bei der Tafel sind die NutzerInnen vielmehr darauf angewiesen, das entgegenzunehmen, was am jeweiligen Tag vom Einzelhandel eingesammelt wurde und was ihnen aufgrund der Summe an NutzerInnen überhaupt zusteht. Das sorgt dafür, dass sich die NutzerInnen entgegen der allgemeinen Vorstellung, unter Bedürftigen herrsche Solidarität, als KonkurrentInnen betrachten. Die TafelnutzerInnen, die Stefan Selke in seinem Buch „Schamland“ zu diesem Thema befragte, erklärten ihm, dass man gegenseitig die Tüten des anderen genau unter die Lupe nehme und sich frage, „ob der auch ja nicht zu viel bekommen“ hätte, man „fresse sich gegenseitig auf“.[12] Selbstverständlich bilden diese Aussagen nicht das Gesamtbild der TafelnutzerInnen ab, sie weisen aber auf die oben angesprochene Kritik der Wissenschaft über die Tafel hin.

Dass die Versorgung der Armen in der deutschen Öffentlichkeit kaum mehr problematisiert wird, bleibt eines der größten Probleme. Von der Politik werden keine Alternativkonzepte entwickelt, die eine Änderung des etablierten Systems der Tafeln herbeiführen könnten.[13] Das liegt mitunter daran, dass die Tafeln durch ihr professionelles Auftreten und die Organisierung und Strukturierung von Armut Normalität erzeugen, die dazu beiträgt, dass sich die Gesellschaft kaum noch über die Bekämpfung von Armut Gedanken macht. Selke hält daher fest: „Wenn die Tafeln erst so selbstverständlich geworden sind, dass sich niemand mehr eine wirkliche Alternative ausmalen will, dann wird das Ende der Unschuld dieser sozialen Bewegung endgültig erreicht sein.“[14] Die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen der Tafeln in Deutschland helfen dabei, die Auswirkungen von Armut zu lindern, doch dies bleibt leider eine Verwaltung von Armut und eine Veränderung der Verhältnisse kann durch sie nicht herbeigeführt werden. Und deshalb sollten sich die Gesellschaft und insbesondere die Politik neben der praktischen und einfachen Lösung, die die Tafeln scheinbar liefern mögen, weiterhin und verstärkt fragen, ob sie solche Verhältnisse akzeptieren möchten.

 

Florian Grahmann arbeitet als studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 

[1] Tafel Deutschland Geschichte, URL: https://www.tafel.de/ueber-uns/die-tafeln/geschichte/ [eingesehen am 17.05.2019].

[2] Tafel Deutschland Zahlen und Fakten, URL: https://www.tafel.de/ueber-uns/die-tafeln/zahlen-fakten/ [eingesehen am 17.05.2019].

[3] Hartig, Jessica: Tafelnutzer im Profil: Eine empirische Analyse am Beispiel Hessen, Baden-Baden 2018, S. 186. Obdachlose bilden nur noch 1,8 % der NutzerInnen.

[4] Groenemeyer, Axel/Kessl, Fabian: Die „neue Almosenökonomie“. Ein neues System der Armutshilfe, in: Böllert, Karin/Alfert, Nicole/Humme, Mark (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Krise, Wiesbaden 2013, S. 17–34, hier  S. 22.

[5] Hochschule Furtwangen Universität, URL: https://www.hs-furtwangen.de/personen/profil/208-stefanselke/ [eingesehen am 17.05.2019].

[6] Groenemeyer/Kessl, S. 26 ff.

[7] Selke, Stefan: Solidaritätsbrüche durch moralische Unternehmen. Grenzverschiebungen im System der Sozialraum der Tafeln, in: Aschauer, Wolfgang/Donat, Elisabeth/Hofmann, Julia (Hrsg.): Solidaritätsbrüche in Europa Konzeptuelle Überlegungen und empirische Befunde, Wiesbaden 2016, S. 123–148, hier  S. 124.

[8] Jahresbericht 2017 Bilanzen, URL [eingesehen am 13.06.2019].

[9] Groenemeyer/Kessl, S. 24 ff.

[10] Hartig, S. 185.

[11] Selke, Stefan: Schamland. Die Armut mitten unter uns, Berlin 2013, S. 133 ff.

[12] Ebd., S. 143 ff.

[13] Selke, Stefan, S. 129. „Horst Köhler sprach 2007 […] ganz offen von der Existenz der Armut in der deutschen Gesellschaft und lobte die Tafeln als einen der möglichen Wege zur Solidarität.“

[14]Selke, Stefan: Tafeln und Gesellschaft. Soziologische Analyse eines Polymorphen Phänomens. In: Selke, Stefan (Hrsg.): Tafeln in Deutschland Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention, Wiesbaden 2011, S. 15–46, hier S. 26.