Im Bund mit dem Zeitgeist

[debattiert]: Michael Lühmann über einen fiktiven Wahlerfolg der Grünen.

Endlich nicht mehr Platz fünf von fünf. Die Grünen sind der große Gewinner der Bundestagswahl 2013, das Ziel, mehr als sechs Millionen Wählerstimmen zu holen,[1] ist geglückt. Strahlende Gesichter vor grüner Leinwand, eine sichtlich bewegte Claudia Roth, eine noch immer im Wahlkampfmodus befindliche Steffi Lemke, ein gelöster Jürgen Trittin, daneben Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, lächelnd und sichtlich erleichtert. Daumen werden in die Luft gereckt, es wird sich viel umarmt, die Basis feiert die Partei und sich selbst. Sie alle da oben und unten haben schließlich einen gewichtigen Anteil am Wahlsieg. Mehr noch aber das unter starker Einbeziehung der Basis formulierte Programm, ein ökosozialer Mix aus Umverteilung und Energiewende.

So befanden sich die Grünen etwa – trotz massiver Kritik der bürgerlichen Leitmedien – steuerpolitisch im Einklang mit der Bevölkerungsmehrheit. So bewerteten im April 53 Prozent der Bevölkerung die Verhältnisse in Deutschland als insgesamt ungerecht, so fanden 58 Prozent Steuererhöhungen für Besserverdiener »richtig«.[2] Kurzum, was die Grünen einfahren, so wird verkündet, sind die Lorbeeren der langen, inhaltlich konstruktiven Jahre in der Opposition in Berlin bei gleichzeitiger Wiedereroberung der Bundesländer. Auch ein den Grünen zugeneigter Zeitgeist mag, selbstredend als Produkt grüner Politik, am Rande geholfen haben.

Das war nicht immer so. Noch 2005 befanden sich die Grünen im koalitionspolitischen Niemandsland, an der »Schwelle zur eigenen Irrelevanz «.[3] Ermattet, ziellos und – einst als rot-grünes Reformprojekt angetreten – ohne jede Idee von sich selbst[4], mussten sich die Grünen nach Fischer erst wieder selbst aufrichten, ja wiedererfinden. Vor allem die ökologische Idee, in ihrer ihr eigenen Radikalität lange Zeit ein Schattendasein fristend, wurde nun mit Wucht in den Vordergrund geschoben. »Wir sind das Original«, so der trotzige Ruf der Partei,[5] die in der kommenden Legislaturperiode mit ansehen musste, wie Merkel sich als Klimakanzlerin in Szene setzte, dafür den Applaus der Bevölkerung kassierte[6] – und dennoch die Wahl verlor. Gleichwohl, der Traum von einer grünen Volkspartei blieb ein Phantasieprodukt, »der Ausgang der Bundestagswahl [war] weniger der schwarz-gelbe Triumph, als eine satte grüne Niederlage.«[7] Dass die Grünen damit indes am Anfang eines Höhenfluges standen, der Ihnen mit großen Schwankungsbreiten nun im Jahr 2013 ein Traumergebnis beschert hat, war noch nicht absehbar. Und doch lag er in der Luft.

Das wir »Zeitgenossen einer unzweifelhaft großen Krise« sind, dürfte unbestritten sein.[8] Die Vierfachkrise aus Banken-, Euro-, Schulden-, und Umweltkrise rüttelt dabei nicht nur an den Grundfesten der Demokratie, sondern, darüber hinaus, auch an der Deutungsfähigkeit solcher Krisenerscheinungen. Denn die Dauerkrise führt zur Erosion des narrativen Kerns der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte: Dem Versprechen von dauernder, wiederholbarer Prosperität, vom Wohlstand für alle.[9] Diese Verheißung ist, Herfried Münkler folgend, die politische Achillesferse der bundesrepublikanischen Wohlstandsfixierung, denn »in ihren sinnstiftenden Erzählungen ist die Bundesrepublik auf Prosperitätsversprechen angewiesen. «[10] Aber, so Münkler weiter, »die Prosperitätserzählungen haben wenig Potential, mit schwierigen Zeiten politisch umzugehen. Sie sind auf gute Zeiten fixiert.«[11] Exportweltmeisterschaften, Außenhandelsüberschüsse, eine vermeintlich gute Lage auf dem Arbeitsmarkt – im Angesicht ökonomischer Unsicherheiten und zunehmender Verteilungskonflikte erodiert das Zentralnarrativ und öffnet sich der diskursive Raum für wirksame Gegenerzählungen.

Eine solche Gegenerzählung muss sich folglich zum einen zumindest rhetorisch von Wachstum und Fortschritt als Leitprämissen einer politischen Grammatik distanzieren, zum anderen einen Ausweg illustrieren, der als alternative Erfolgserzählung verfängt. Ein solches Narrativ vermag die parteigewordene Ökologiebewegung zu liefern, und dies in biblischem Duktus: »Der Sündenfall: die Atomenergie. Die Propheten, die zur Umkehr aufriefen: Petra Kelly und ihre Mitstreiter. Die vielen Apostel: Bürgerinitiativen und Bunte Listen. Das Volk, das die Reise durch die Wüste der naturzerstörenden Profitwirtschaft antrat: die Grünen selbst. Das gelobte Land: die Energiewende in einer Gesellschaft des ›Green New Deal‹.« Insbesondere im gebildeten Bürgertum verfängt eine solche Rhetorik, vor allem dann, wenn sie von Krisen begleitet wird,[12] von großen Umwälzungen, von kräftigen Modernisierungsschüben. Wie sich die vor allem bildungsbürgerlich geprägte Lebensreform am Fin de Siècle, nach der Great Depression, gegen die Zumutungen der Moderne wendete,[13] wie sich in den Siebziger Jahren der bürgerliche Postmaterialismus gegen Krise und Beschleunigung wandte, so scheinen auch die Krisen der vergangenen Jahre – in Verbindung mit den fundamentalen Umwälzungen der Digitalisierung bei massiver Beschleunigung – in Teilen des bundesrepublikanischen Bürgertums Abwehrreflexe gegen die Zumutungen der sogenannten Post- oder zweiten Moderne hervorzurufen.[14] Die alte Prosperitätserzählung wird so zur Reibungsfläche einer Wachstums- und Fortschrittskritik, auch von Konsumkritik, die auf lange Sicht nicht den Ausstieg aus der Megamaschine zum Ziel hat, sondern auf eine andere Moderne setzt, eine reformerische, ein ökologische, eine nachhaltige Moderne.[15] Nichts anderes liefern die Grünen mit ihrer Erzählung eines ökologischen Morgens, der im Green New Deal mit einem anderen, einem grünen Wachstums- und Fortschrittsbegriff gekoppelt ist.

Hier aber liegt ein entscheidendes Problem. Denn einerseits bricht die grüne Moderne nicht mit dem wachstumsbasierten Prosperitätsversprechen. Vielmehr streicht sie es grün an und kann deshalb am Ende der Krisen verlust- und reibungslos in die bundesrepublikanische Meistererzählung integriert werden. Zum anderen, in einen größeren Zusammenhang gehoben, ignoriert der Green New Deal, dass es womöglich darum gehen muss, »Exits aus dem bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu finden, weil das wachstumswirtschaftliche Prinzip Nachhaltigkeit nicht zulässt «.[16] Es ist das Grundproblem der anderen, der grünen, der nachhaltigen Moderne, dass sie selbstreflexiv in einer modernisierungstheoretischen Grundannahme verharrt, wonach der Fortschritt als Subjekt seiner selbst zu »eine[r] weltgeschichtliche[ n] Kategorie geworden [ist], deren Sinn es ist, alle Rückschläge als vorübergehend, ja letztlich als Stimulans zu neuen Fortschritten zu interpretieren.«[17]

Sollte die Fortschritts- und Wachstumsmoderne an ihre Grenzen gelangen, könnte den Propheten des grünen Fortschritts die erfolgversprechende Gegenerzählung fehlen, die sie bei dieser Bundestagswahl noch getragen hat.[18]

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der Text erschien ursprünglich in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2/2013.


[1] Ulrich Schulte, Wir wollen nicht nur spielen, in: die tageszeitung, 08. 05. 2013.

[2] Vgl. dazu Deutschlandtrend April 2013.

[3] Ingolfur Blühdorn, Reinventing Green Politics. On the Strategic Repositioning of the German Green Party, in: German Politics, Jg. 18 (2009) H. 1, S. 36–54, Zitat S. 36.

[4] Saskia Richter u. a., Das rot-grüne Projekt – Rückblick auf eine Koalition, in: Böll-Jahrbuch 2007, S. 10–25.

[5] Vgl. den Beschluss »Für einen radikalen Realismus in der Ökologiepolitik « der Partei Bündnis 90/Die Grünen auf ihrer 26. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz vom 1.–3. Dezember 2006 in Köln, URL: http://www.gruene-partei.de/cms/default/dokbin/159/159557.fuer_einen_radikalen_realismus_in_der_oe.pdf [eingesehen am 25. 04. 2013].

[6] Ingolfur Blühdorn, Win-Win-Szeanrien im Härtetest. Die Umweltpolitik der Großen Koalition 2005–2009, in: Sebastian Buckow u. Wenke Seemann (Hg.), Die Große Koalition. Regierung – Politik –Parteien 2005–2009, Wiesbaden 2010, S. 209–225.

[7] Claus Leggewie u. a., Verantwortung der Grünen, in: die tageszeitung, 29. 9. 2009.

[8] Franz Walter, Ruhe im Sturm? Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise, in: Indes, Jg. 2 (2013) H. 1, S. 6–12, hier S. 6.

[9] Herfried Münkler, Mythische Zauber – Die großen Erzählungen und die Politik, in: Otto Depenheuer (Hg.), Erzählungen vom Staat. Ideen als Grundlage von Staatlichkeit, Wiesbaden 2011, S. 145–150, hier S. 149.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Die grundsätzliche Furchtsamkeit breiter Mehrheiten der Bundesbürger zeigt sich im Deutschlandtrend vom Januar 2013. Einer 2/3-Mehrheit, die den Höhepunkt der Euro- und Schuldenkrise erst noch erwartete, stand nur eine Minderheit von 25 Prozent der Befragten entgegen, die den künftigen Gang der Dinge »eher gelassen« sah.

[13] Janos Frecot, »Die Lebensreformbewegung«, in: Klaus Vondung (Hg.), Das wilheminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 138–152.

[14] Zur Konzeptionalisierung unterschiedlicher Modernen vgl. Andreas Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: Thomas Raithel u. a., Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 181–201.

[15] So bereits das Leitmotiv bürgerlicher Zivilisationskritik um 1900, vgl. Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999, S. 344.

[16] Harald Welzer u. Cem Özdemir, Worauf müssen wir verzichten, in: Philosophiemagazin, Jg. 3 (2013), H.1, S. 15–19, hier S. 17.

[17] Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 171.

[18] Vgl. auch Michael Lühmann, Gefangen im Korsett der Moderne. Kann ein Green New Deal unseren Fortschritt retten?, in: 360 °, Das studentische Journal für Politik und Gesellschaft, Jg. 7 (2012), H.2, S. 15–23.