Es reicht immer noch

[debattiert]: Katharina Trittel analysiert einen fiktiven Wahlerfolg der CDU.

Es war eine Wahlnacht ohne große Überraschungen. Früh stand die CDU als Wahlsieger fest und geht nun mit Merkel in die dritte Verlängerung. Knapper gestaltete sich der Abstiegs- bzw. Aufstiegskampf, in dem die FDP den Klassenerhalt knapp verpasste, weil sie Stimmen an die Alternative für Deutschland (AfD) verlor. Dabei waren die CDU-Wähler nicht gewillt, den schwächelnden Koalitionspartner zu retten. Die Piraten und die AfD zogen indes nicht in die Bundesliga der Politik ein. Die Überlegenheit der CDU hingegen war bereits im Vorfeld recht eindeutig.[1] Und so brachte ihre Führungsspielerin sie zu einem ungefährdeten Heimsieg, der unspektakulär, aber nach Mehrheitsmeinung der Wähler verdient war. Denn wer vom Abstieg bedroht ist oder glaubt, es zu sein[2], der hält das gesicherte Mittelfeld für erstrebenswert, zumal wenn man von jemandem dorthin geführt wird, die in Krisenzeiten eine ruhige Hand behält, kein Risiko eingeht und die im Moment, wie sie selbst sagen würde, »alternativlos « erscheint.

Wie aber kommt es zu diesem Sieg von Angela Merkel, die immer noch, immer wieder und: immerhin muss man sagen, Kanzlerin ist? Für die Politik ein »Nullsummenspiel – eine Ansammlung von Positiva und Negativa, eine stete Aneinanderreihung von Erfolg und Misserfolg«[3] ist? Die auch jetzt keine pathetischen Siegesreden hält, weil das einfach nicht ihr Stil ist? Der Schlüssel des Erfolges der CDU liegt in einem Adverb: »immer noch«. Dieses »immer noch« bildet den Kern ihrer Erfolgsressourcen: bei der Wählerschaft, in ihrer Geschichte und bezüglich ihrer Kanzlerin.

Trotz der zunehmenden Spaltung ihrer Anhänger in verschiedene Milieus[4] und der schwindenden Erklärungskraft traditioneller Faktoren für das Wahlverhalten, trotz der Ausdünnung ihrer Kernklientel und der Tatsache, dass sich die These des Alterskonservatismus nicht bewahrheitet, bindet die CDU immer noch vor allem Wähler über sechzig und diejenigen mit mittleren oder niedrigeren Bildungsabschlüssen, obwohl die demographische Ressource als zuverlässige Quelle einer Stammwählerschaft immer weiter austrocknet. Darüber hinaus: Die deutliche Präferenz der Katholiken für die CDU schleift sich zwar allmählich ab, erreicht aber immer noch ein recht hohes Niveau.

Die Wahlen heute werden in der Mitte gewonnen und diese zu erneuern gelang Merkel bedingt, indem sie ihre Partei modernisierte und damit darauf abzielte, eine breite Zustimmung aus den heterogenen Gruppen der Bevölkerung zu erhalten. Dahinter stand, »die Idee einer starken Mittepartei zu rekonstruieren, Neuwähler – namentlich der SPD – hinzuzugewinnen, dabei Stammwähler zu halten und so die Wählerbasis zu erweitern«[5]. Mit einigem Erfolg: 34 Prozent der SPD-Anhänger gaben an, Merkel als Kanzlerin wählen zu wollen.[6] Der Wandel des Wählerprofils in der postindustriellen Gesellschaft gilt als typisches Dilemma der Volksparteien, als die sich die CDU immer noch bezeichnet – immer noch ist der daraus resultierende Stabilitätsverlust offensichtlich verkraftbar.

Bei der Analyse der historischen, politischen und persönlichen Faktoren will jedoch auch die Vorsilbe post Berücksichtigung finden. Sie suggeriert Vergangenes und Vergänglichkeit und betont daher umso mehr das immer noch, welches die CDU stärkt. Keine andere Partei blickt auf eine ansatzweise vergleichbare Erfolgsbilanz zurück – ein Hinweis, dass sie über spezifische und privilegierende Machtressourcen verfügt, die auch historisch bedingt sind. Und so gilt für heutige Wähler im Angesicht der Krise immer noch bzw. wieder, was bereits vor über sechzig Jahren galt: die Deutschen wollen »Ruhe, Sicherheit, ein erträgliches Einkommen, […] politisch entpflichtet sein.«[7]

Dabei hat sich die Gleichsetzung von Sicherheit und Wohlstand mit christdemokratischer Regierungsführung tief in die Volksseele der Deutschen eingebrannt.[8] Die Sicherung des materiellen Wohlstands und Stärke in der Außenpolitik sind damals wie heute Pfeiler des Erfolgs. Gerade in Zeiten der Euro-Krise gelingt es Merkel, diese Werte wieder zu verkörpern. Genau wie ihre Vorgänger Adenauer und Kohl deklariert sie die CDU als Partei der Mitte und behauptet ihre Vormachtstellung.

Eine Konsensfläche bilden gemeinsame Werte, die als Maßstäbe für politisches Entscheiden und Handeln angelegt werden können. »Im Zeitalter der dauerhaften Krise, der permanenten Status und Lebensunsicherheit wird nichts stärker nachgefragt als klar konturierte grundlegende Werthaltungen und Orientierungspunkte.«[9] Die CDU schöpft dieses Wertefundament vor allem aus ihrer Tradition, aus der »die anfangs illusionslose, pragmatische und flexible Politik der Union«[10] erwuchs und die Merkel immer noch erfolgreich zu reaktivieren vermag.

Ist es Merkels Persönlichkeit, ihr Kurs innerhalb der Partei oder ihr Politikstil, der ihr im achten Jahr ihrer Kanzlerschaft die höchsten Beliebtheitswerte in der Geschichte des Landes bescheinigt?[11] Sie scheint zu Deutschland 2013 zu passen: Auf der einen Seite steht die bodenständige, besonnene, unideologische Kanzlerin, die Pragmatismus zur Methode erhebt. Merkels Markenzeichen ist ihr Postheroismus, der kein Pathos kann.[12] Auf der anderen Seite machtpolitische Härte und Kalkül: Zauderkünstlerin[13] und Solistin[14].

Das Wichtigste aber ist: Merkels Integrität. Die Tatsache, dass sie Politik um der Sache Willen macht. Ein Wert, auf den die Konservativen, mit der Kanzlerin nicht eben in inniger Zuneigung verbunden, eigentlich stolz sein könnten. Und: Mit der Generalrevision nach Kohls Rücktritt ging von Anfang an die Bereitschaft einher, »auch die radikalsten Innovationen noch als Tradition umzudeuten.«[15] Einiges von dem, was die CDU traditionell ausmachte, erlebt unter Merkel insofern eine Renaissance. Denn schon früher war es diese »nüchterne, illusionslose Anthropologie der CDU, die der Partei in der Konkurrenz mit den Sozialdemokraten viele Jahre den Vorteil brachte.«[16] Mithin lässt sich die Union auch heute noch als Partei der gegebenen Realitäten beschreiben – immer noch.

Jedenfalls: Die große Popularität Merkels war der entscheidende Faktor im Wahlkampf. Während die SPD sich mühte, deren drückende Mehrheit durch inhaltliche Diskussionen wegzureden, verfolgte sie höchstens eine Strategie der »asymmetrischen Demobilisierung« oder: sie tat nichts. Das reichte. Die Personalisierung des Wahlkampfes und die damit einhergehende Entpolitisierung ermöglichten ihr, ihr großes Plus, Glaubwürdigkeit und Authentizität, für sich arbeiten zu lassen.

Komplexe Problemlagen wie die Euro-Krise ermöglichen einen veränderten Führungsstil, der den Gegebenheiten der Postdemokratisierung entspricht und wichtige politische Entscheidungen jenseits der eigentlichen demokratischen Organe fällt. Merkels Erfolg wird erst nach der Krise zu bewerten sein, in der Krise jedoch gelingt es ihr, einen Vertrauensvorschuss der Bürger zu gewinnen, divergierende Interessen zu bündeln und richtungsweisende Entscheidungen zu treffen.[17] Merkels Handlungsmaxime liegt im Herbeiführen von Gewissheiten, was ihr den Ruf als Zauderin eingebracht hat – für Merkel nicht etwa ein Zeichen von Führungsschwäche, sondern eine Tugend. Und dass die Opposition in den wichtigen Euro-Fragen die Regierungspolitik mitgetragen hat, erschwert eine politische Wechselstimmung erst recht.

Der Gestus, den Europa fordert, das Präsidiale, Moderierende, passt im Übrigen perfekt zur Kanzlerin und verstärkt ihr Image einer überparteilichen Politikerin.[18] Ihre Politik der kleinen Schritte führt dazu, dass sie die Ergebnisse erfolgreich als alternativlos verkaufen kann, TINA (there is no alternative) Merkel. Die Eurokrise wird als »exekutiver Augenblick« empfunden, in dem man eine Kanzlerin wie sie braucht, um das »historische Projekt Europa«[19] anzugehen. Diese Gewichtigkeit täuscht darüber hinweg, dass sich Merkels Kurs gerade bei innenpolitischen Themen häufig ändert – bis hin zu 180-Grad-Kehrtwenden, so geschehen in Sachen Atomausstieg. Umstrittene Alleingänge, kalte Machtdemonstrationen in personellen Fragen, die Kehrseite ihrer Unentschlossenheit[20], offenbart in der Diskussion um die Frauenquote – all dies rüttelte nicht daran: die Kanzlerin ist das Versprechen der CDU auf die Macht, das macht sie im Moment unangreifbar.

In anderen Fällen gilt die Maxime: Keine Position äußern, aber die, die etwas anderes wollen, »ernst nehmen« – so geht Volkspartei heute. Dazu scheint die Bemerkung Steinbrücks über Merkel zu passen, die Kanzlerin hebe ihren Finger nicht, um die Richtung zu weisen, sondern um zu testen, woher der Wind weht.[21] Ist Angela Merkel eine postpolitische Kanzlerin? Weil sie sich nicht festlegt, kaum Überzeugungen hat und auf den richtigen Zeitpunkt wartet? Weil sie Risiken nur eingeht, wenn es keine mehr sind? Soviel steht fest: Merkel ist immer noch Kanzlerin. Immerhin.

Und so könnte Merkel die erste Kanzlerin sein, der es gelingt, in drei Legislaturperioden mit drei Parteien zu koalieren, schwarz-grün auf Bundesebene wäre ebenfalls ein Novum und nach einer Öffnung der CDU für grüne Themen[22] und bei unattraktiven Koalitionsalternativen nimmt das Hirngespinst vielleicht Gestalt an.[23] Ihre aktuelle Biografie ist jedenfalls schon mal im schwarz-grünen Layout erschienen. Ebenfalls könnte sie die erste Kanzlerin sein, die während einer Amtszeit freiwillig zurücktritt. »Man darf nie vergessen: Merkel hat bei Kohl sehr genau aufgepasst und sie weiß, dass ihr einstiger Mentor irgendwo zwischen 1992 und 1996 den Absprung verpasst hat. Es kann wohl als sicher gelten, dass Merkel diesen Fehler vermeiden will.«[24] Merkel »ist mit sich im Reinen. Sie hat länger regiert, als ihr jemals zugetraut wurde. Sie hat überhaupt regiert – was am Wahlabend 2005 nicht unbedingt sicher war. Und sie lebt in der Gewissheit, dass auch acht Jahre Kanzlerschaft eine durchaus respektable Leistung sein werden.«[25]Bereits die dritte Amtsperiode ist eine Adelung. Allerdings ist Merkel nun mit dem Wissen belastet, dass ihre Zeit ausläuft. Ob sie das Spiel also bis zum Ende spielen wird, bleibt offen. Vielleicht hegt ja auch Merkel den Wunsch, der viele der Großen vor ihrem Karriereende umtreibt: der Wunsch, einmal europäisch zu spielen.

Katharina Trittel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der Text erschien ursprünglich in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2/2013.


[1] Die Umfragen gemäß Deutschlandtrend vom April 2013 sprechen für Merkel und ihre Partei: 68 Prozent sind mit Merkel als Politikerin zufrieden, sechzig Prozent würden sie direkt als Kanzlerin wählen; 48 Prozent wünschen sich, dass die nächste Bundesregierung von der CDU

geführt wird.

[2] 58 Prozent beurteilen die wirtschaftliche Lage als gut, die Stimmung bessert sich im Vergleich zu Beginn der Krise. Obwohl ein Großteil glaubt, der schlimmste Teil der Krise stehe noch bevor (75 Prozent), glauben 65 Prozent, Merkel habe richtig und entschlossen in der Krise behandelt, wobei die Zustimmung im Zeitverlauf steigt.

[3] Stefan Kornelius, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt, Hamburg 2013, S. 9.

[4] Der CDU gelingt es, sechs von zehn Milieus (aufgestellt von Sinus Sociovision), mehrheitlich für sich zu gewinnen: so wählen die Etablierten, Konsum-Materialisten, Konservativen, Traditionsverwurzelten, modernen Performer und die bürgerliche Mitte [insgesamt 66 Prozent der deutschen Bevölkerung] jeweils mehrheitlich CDU.

[5] Walter u. a., S. 215.

[6] Vgl. Deutschlandtrend April 2013.

[7] Walter u. a., S. 15.

[8] Vgl. im Folgenden Walter u. a., S. 16 ff.

[9] Walter u. a., S. 17.

[10] Ebd.

[11] Vgl. Kornelius, S. 7.

[12] Vgl. Mariam Lau, Die letzte Volkspartei. Angela Merkel und die Modernisierung der CDU. München 2009, S. 234 ff.

[13] Nikolaus Blome, Angela Merkel. Die Zauder-Künstlerin. München 2013.

[14] Markus Dettmer u. a., Die Solistin, in: Der Spiegel, 22. 04. 2013.

[15] Lau, S. 7.

[16] Walter u. a., S. 20.

[17] Claudia Ritzi u. Gary S. Schaal, Politische Führung in der »Postdemokratie «, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 2–3/2010, S. 9–15.

[18] Vgl. Blome, S. 65: 2012 sagen 55 PRozent der Deutschen, Merkel wirke eher wie eine überparteiliche Politikerin.

[19] Diese bedeutsamen Ausdrücke wählt Kornelius, S. 9, 13 und 15.

[20] O.V., Die Kehrseite der Unentschlossenheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 04. 2013.

[21] Stefan Kuzmany, Wahlkampf bei Jauch: Die Frau, die Angela Merkel besiegen kann, in: Spiegel online, 14. 4. 2013, URL: http://www.spiegel.de/kultur/tv/talk-bei-jauch-wer-kann-angela-merkel-schlagen-a-894324.html [eingesehen am 20. 04. 2013].

[22] Walter u. a., S. 216 ff.

[24] Vgl. Blome; Stephan Klecha, Merkel und was folgt?, in: Gegenblende, 16. 04. 2013, URL: http://www.gegenblende.de/20–2013/ ++co++18cce8fa-a67f-11e2–887d-52540066f352 [eingesehen am 30. 04. 2013].

[25] Kornelius, S. 278.