[debattiert]: Christoph Hoeft über einen fiktiven Wahlerfolg der SPD.
Als Peer Steinbrück am Abend des 22. September vor die wartenden Genossinnen und Genossen im Willy Brandt Haus tritt, wird er zwar von tobendem Applaus empfangen. Ein erleichtertes Aufatmen kann er dennoch nicht verbergen, sein Lächeln wirkt ein wenig gequält. Denn dass dieser Abend für die viel gescholtene SPD ein gutes Ende genommen hat, ist weniger dank des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten eingetreten, sondern viel mehr trotz seiner oft rumpelnden Performance. Zwar ist es der SPD mit deutlichem Abstand nicht gelungen, die CDU/CSU als stärkste Kraft abzulösen. Dennoch könnte es für eine rot-grüne Koalition und damit für einen Kanzler Steinbrück reichen. Dies hat unterschiedliche Gründe: Erstens hat sich die CDU sprichwörtlich zu Tode gesiegt. Die schwächelnde FDP konnte sich diesmal vor dem Hintergrund des niedersächsischen Wahlkampfs nicht auf Leihstimmen der konservativen Wählerschaft verlassen, wurde darüber hinaus von der Alternative für Deutschland zusätzlich in Bedrängnis gebracht und scheiterte letztlich knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Der Wahlsiegerin Merkel fehlt damit schlichtweg ein Koalitionspartner, da weder Grüne noch die SPD für ein solches Bündnis zur Verfügung stehen. Denn sie haben, das ist der zweite Grund, etwas Größeres, Historisches vor: Eine Minderheitsregierung auf Bundesebene. Doch der Reihe nach.
Ausschlaggebend für den Erfolg der SPD waren insbesondere zwei Entwicklungen: Die immer weiter vor sich hin schwelende Euro-Krise und die rechtzeitige Öffnung für weitere potenzielle Koalitionsoptionen. Die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung, die Wirtschaftskrise dauerhaft in den Griff zu bekommen, zeigte sich spätestens im Sommer, als weitere Staaten der Eurozone auf wirtschaftliche Hilfeleistungen angewiesen waren. Ganz allmählich kippte die lange Zeit zufrieden auf Merkels pragmatischen Krisenkurs blickende öffentliche Meinung. Immer mehr Menschen bekamen das Gefühl, auch selbst zu den Verlierern der Euro-Krise zu gehören, immer stärker wurde die Enttäuschung über das unaufgeregte »Weiter- So« Merkels und das endlose Hinziehen der Krise. Gleichzeitig stieg die Sensibilität für und die Unzufriedenheit mit der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit in Deutschland.[1] Unter diesen Vorzeichen gelang es Steinbrück, seine desaströsen Umfragewerte aus dem Frühjahr 2013 sukzessive zu steigern: Einerseits konnte er mit seiner Klartext- Mentalität punkten, andererseits seine unbestrittene finanzpolitische Erfahrung ins Feld führen. Verbunden mit dem wachsenden Vertrauen der Bevölkerung in die SPD, am effektivsten für mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland sorgen zu können, begann sich auf diese Weise die diffuse Wechselstimmung in Deutschland mehr und mehr hin zu einer SPD-geführten Regierungsalternative zu verschieben.
Eine wirkliche bürgerliche Mehrheit im ursprünglichen Sinne hatte es in Deutschland eigentlich ohnehin schon seit einigen Jahren nicht mehr gegeben: Das zeigte sich immer wieder in den öffentlichen Debatten. Ob Mindestlohn, Homo-Ehe, die Begrenzung von Managergehältern oder die Anhebung der Spitzensteuersätze: Überall genossen die Positionen der SPD zum Teil deutliche Mehrheiten.[2] Die enorme Popularität Merkels hatte zwar über diese inhaltlichen Schwächen[3] der Union lange Zeit hinwegtäuschen können, war aber letzten Endes mehr Schein als Sein. Denn obwohl sie bis zum Schluss eine direkte Wahl gegen ihren Herausforderer für sich hätte entscheiden können – gewählt wird nun mal eine Partei, nicht deren Spitzenkandidat.
Das linke Lager konnte schon seit längerem auf eine gesellschaftliche Mehrheit blicken, die aber lange Zeit rein virtuell war, ein theoretisches Konstrukt, das aufgrund der tiefgehenden Diskrepanzen zwischen SPD und der LINKEN in der Realität nicht vorstellbar schien. Und doch hatte sich auf unterschiedlichen Ebenen langsam und kaum bemerkt vorbereitet, was im August erstmals offen ausgesprochen wurde: Eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen und der LINKEN wurde nicht mehr länger ausgeschlossen. Der Weg für die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die LINKE war damit freigemacht. Wie aber konnte es zu diesem Paradigmenwechsel kommen?[4]
Zunächst hatte es nach dem Debakel in Hessen mit der Tolerierung der SPD-Regierung in Nordrhein- Westfalen ein positives Beispiel der Kooperation gegeben, das überdies für die SPD sehr erfreuliche Resultate zeigte, konnte doch Hannelore Kraft die dem Experiment folgende Wahl klar für sich entscheiden. Auch die Wahl der neuen Führungsspitze der LINKEN hatte eine stärkere Annäherung der Parteien vorbereitet, da sich Katja Kipping schon länger offensiv mit den Möglichkeiten einer rot-rot-grünen Koalition beschäftigt hatte. Außerdem war die LINKE spätestens durch die rot-rote Landesregierung in Brandenburg im Bundesrat ohnehin bereits informell in die rot-grüne Politik eingebunden. Der Verzicht Lafontaines auf eine Bundestagskandidatur[5] ermöglichte dann, dieses Bündnis auch im Bundestag als weitere Machtoption offen zu halten.
Auch aus koalitionstaktischen Überlegungen war eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit kaum zu vermeiden. Denn ohne die Tolerierung wäre die SPD Gefahr gelaufen, in eine äußerst unangenehme Lage zu kommen. Ein schwarz-grünes Kabinett, rechnerisch neben der großen Koalition die einzige über eine Mehrheit verfügende Regierungsalternative, wäre für die SPD politisch höchst bedrohlich. Das linke Lager wäre dauerhaft aufgeweicht worden, die Sozialdemokraten hätten auch vor den kommenden Wahlen über keinen »natürlichen « Koalitionspartner mehr verfügt. Auch vor einer großen Koalition schreckten die Genossen zurück, hatten sie doch 2009 schmerzhaft erleben müssen, dass eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner Merkels die eigene Popularität nicht eben gesteigert hatte.[6] Abgesehen davon hätte eine große Koalition auch weiterhin einer rot-grünen Mehrheit im Bundesrat gegenübergestanden, was ein effektives »Durchregieren« weiter erschwert hätte. Überdies riskierte die SPD, durch eine einseitige Festlegung auf eine rechnerisch kaum mögliche Regierungsoption erneut potentielle Wähler abzuschrecken, denen die späteren Folgen einer Entscheidung für die Partei unkalkulierbar erschienen.[7] Besser war es also allemal, eine klare und realistische Aussage in den Raum zu stellen.
Dennoch darf bei allen Diskussionen um linke Mehrheiten keinesfalls übersehen werden, dass es sich bei der angestrebten Tolerierung der Minderheitsregierung durch die LINKE (noch) um eine reine Zweckehe handelt. Aus pragmatischen und strategischen Gründen unvermeidbar, verursachte der Gedanke an ein solches Experiment bei führenden Sozialdemokraten trotzdem lange Zeit Buchschmerzen. Ausschlaggebend dürfte daher gewesen sein, dass man bei brisanten politischen Projekten wie weiteren Euro-Hilfspaketen, denen die LINKE ablehnend gegenüber stehen würde, im Zweifelsfall auf eine mürrisch-nörgelnde Unterstützung der CDU vertrauen kann, so wie man selbst als Opposition grundlegende Entscheidungen mitgetragen hatte.
So blickt Steinbrück am Wahlabend einer ungewissen Zukunft entgegen. Ob das politische Wagnis einer Minderheitsregierung auf Bundesebene, eventuell sogar mit wechselnden parlamentarischen ad-hoc-Mehrheiten, tatsächlich aufgeht, vermag niemand zweifelsfrei zu prognostizieren. Im Februar hatte eine Mehrheit der Befragten im Deutschlandtrend angegeben, eine rot-grüne Regierung mit dem Begriff »Aufbruch« zu verbinden, was mit Blick auf ein solch beispielloses Experiment schon mal recht treffend ist. Ob die Minderheitsregierung und ihr linker Tolerierungspartner auch der zweiten Assoziation der Befragten, nämlich »Harmonie«, gerecht werden, können dagegen nur die kommenden vier Jahre zeigen.
Christoph Hoeft ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der Text erschien ursprünglich in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2/2013.
[1] Schon im März 2013 war laut Deutschlandtrend mehr als jeder zweite Befragte (53 Prozent) der Meinung, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. Im April zeigte sich außerdem, dass Bürger, die eine Gerechtigkeitslücke wahrnehmen mit einer deutlichen Mehrheit für Parteien des linken Lagers votieren wollten.
[2] Laut Deutschlandtrend vom März 2013 wünschen sich 55 Prozent der Befragten einen gesetzlichen Mindestlohn, 66 Prozent fordern eine umfassende rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und sogar 89 Prozent befürworten eine Lohnobergrenze für Managergehälter. Im April 2013 halten 58 Prozent die von der SPD geplanten Steuererhöhungen für Besserverdienende für richtig.
[3] Beispielsweise halten fünfzig Prozent der im März 2013 Befragten die CDU für zu konservativ.
[4] Vgl. dazu Mariam Lau, Bundestagswahl: Ist Rot-Rot-Grün realistisch?, in: Zeit Online vom 09. 03. 2013, URL: http://www.zeit.de/2013/10/Analyse-Rot-Rot-Gruen [eingesehen am 15. 05. 2013].
[5] Vgl. o. V., Die Linke, Lafontaine verzichtet auf Bundestagskandidatur, in: Spiegel Online vom 22. 04. 2013, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/lafontaine-kandidiert-nicht-mehr-fuer-bundestag-a-895788.html [eingesehen am
15. 05. 2013].
[6] Vgl. Stephan Klecha, Eiertanz um die Macht, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/eiertanz-um-diemacht [eingesehen am 15. 05. 2013].
[7] So wie dies auch für 2009 zu beobachten war, vgl. Stephan Klecha, Merkel und was folgt?, in: Gegenblende vom 16. 04. 2013, URL: http://www.gegenblende.de/20–2013/++co++18cce8fa-a67f-11e2–887d-52540066f352 [eingesehen am 15. 05. 2013].