Die Macht des Wahlrechts

[analysiert]: Sören Messinger über den Einfluss des Wahlrechts auf den Ausgang der Bundestagswahl

Das Ergebnis der Wahl zum Bundestag ist vor allem ein Ergebnis des Wahlrechts. Das gilt natürlich für jede Wahl. So führt ein Verhältniswahlrecht gar zu völlig anderen Parteiensystemen als ein Mehrheitswahlrecht. Für die Bundestagwahl 2013 ist die Bedeutung des Wahlrechts aber im Vergleich zu früheren Bundestagswahlen hinsichtlich zweier Punkte besonders erwähnenswert: Erstens haben sich die WählerInnen offensichtlich von den Änderungen des Wahlrechts in ihrer Stimmabgabe, genauer: beim Stimmensplitting, beeinflussen lassen und zweitens erlangte die Fünfprozenthürde bei dieser Wahl eine große Bedeutung. Sie machte aus einer großen Niederlage eine Katastrophe und aus einem wirklich beeindruckenden Ergebnis einen reinen Achtungserfolg.

Nach einer Wahl sprechen die SpitzenkandidatInnen der Parteien gerne von dem Wählerauftrag, der nun eindeutig so oder so ausgefallen sei und somit diese oder jene Koalition zur einzig demokratisch legitimierten mache. Abgesehen vom Regierungsauftrag, der eindeutig an Merkel und somit die CDU gegangen sei, waren die PolitikerInnen am Sonntagabend allerdings betont zurückhaltend in der Deutung des WählerInnenwillens. Das ist nicht erstaunlich, denn der immer nur imaginierte ideelle Gesamtwähler hat am Sonntag  widersprüchliche Signale gesendet.

Ignoriert man die juristische und etwas magische Grenze von fünf Prozent einmal und betrachtet das vorläufige amtliche Endergebnis in seinen rohen Zahlen, dann jedenfalls zeigt sich im Wahlergebnis einerseits ein starker Wunsch nach Stabilität, andererseits eine enorme Experimentierfreude.

Insgesamt blieben die klassischen politischen Lager ziemlich stabil. Die Summe an Stimmenanteilen, die Schwarz-Gelb diesmal bekommen hat, liegt nur zwei Prozent unter dem Ergebnis von 2009. Damit scheinen die WählerInnen der bürgerlichen Koalition höchst zufrieden mit dieser gewesen zu sein. Ähnlich stabil zeigte sich der rot-grüne Konkurrent: Beide Parteien zusammen gewannen 0,4 Prozent hinzu. Ein Blick auf die Wählerwanderungen bestätigt das Bild zum großen Teil: Den Hauptzugewinn, den die Union verzeichnen konnte, zog sie den Liberalen ab, nahm im Prinzip jene WählerInnen wieder zurück, die sie der FDP 2009 ausleihen musste. Auch das komplementäre Bild auf Seiten der FDP stimmt, die meisten, die der Partei den Rücken kehrten, bleiben doch der Koalition treu und gehen zur CDU.

Die Wählerströme der SPD sind etwas weniger eindeutig. Ihre Gewinne kommen aber auch hauptsächlich aus dem eigenen Lager, von den Grünen und den LINKEN. Dass die Sozialdemokraten ebenfalls von der FDP profitieren, liegt wohl daran, dass die FDP tatsächlich an alle anderen Parteien WählerInnen abgeben musste. Im Großen und Ganzen jedenfalls hat der Wähler, geht man von den vor der Wahl von den Parteien selbst präferierten Koalitionen aus, keinen großen Umsturz eingeleitet.

Andererseits zeigt sich der Gesamtwähler hochgradig risikofreudig und auf der Suche nach Neuem. Ein so rasanter Erfolg der AfD ist zunächst einmal ziemlich verwunderlich. Lange Zeit gab es in der Bundesrepublik nur höchst selten neue Parteien, von denen auch nur in Erwägung gezogen wurde, sie würden es in den Bundestag schaffen können – und stets dauerte es dabei eine Wahl, bis das Ergebnis nah an die fünf Prozent heran kam oder sie gar überstieg. Das war 1969 bei der NPD, dann im Laufe der 1980er bei den Grünen der Fall. Bei der PDS waren es schließlich historische Sonderbedingungen und die Tatsache, dass sie nur bedingt als neue Partei gelten konnte, die ihr den Weg in den Bundestag verschaffte. Die AfD aber schafft es innerhalb weniger Monate, 4,7 Prozent der gültigen Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Das zeigt, dass sie mit der Kritik an der Eurorettung tatsächlich einer Stimmung in der Bevölkerung Ausdruck verleiht, die so nicht im Parlament und damit der politischen Entscheidungsfindung repräsentiert ist.

Doch dass diese beiden Signale der WählerInnen nicht in der praktischen Politik ankommen werden, dafür sorgen die Fünfprozenthürde und die Änderung des Wahlrechts. Die FDP hat so stark verloren, dass sie nicht einmal mehr im Parlament vertreten sein wird, was mit 0,2 Prozentpunkten aus einer Niederlage eine völlige Katastrophe gemacht hat und statt zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der schwarz-gelben Koalition zu einem Ende derselben führt. Die Änderung des Wahlrechts jedenfalls hat die strategischen Möglichkeiten gerade der BefürworterInnen einer bürgerlichen Koalition eingeschränkt. Konnte man früher mithilfe des Stimmensplittings der Union Überhangsmandate und der FDP einen sicheren Einzug ins Parlament verschaffen, würde eine solche Strategie jetzt die CDU schwächen. Deshalb wählte, wer Merkel wollte, einfach die CDU in Erst- und Zweitstimme. Die Differenz zwischen diesen beiden Stimmen hat im Vergleich zu 2009 somit bei allen Parteien deutlich abgenommen, zum Schaden der FDP.

Die AfD schaffte es ebenfalls nicht in den Bundestag und könnte dadurch schon bald an politischer Schlagkraft verlieren, obwohl sie ein so beachtliches Ergebnis erzielt hat. Normalerweise schreckt die Angst, dass die eigene Stimme auf Grund der Fünfprozenthürde „verschwendet“ sei, die WählerInnen so sehr, dass neue Parteien erst langsam das Vertrauen aufbauen müssen, bis genügend WählerInnen das Risiko eingehen. Dieser Effekt hatte sich zuletzt an der Piratenpartei bei der Berliner Wahl gezeigt. Kaum sahen die ersten Umfragen die Partei über fünf Prozent, wurden es letztlich fast neun. Das lag nicht an der Unzulänglichkeit der mathematischen Methoden der Umfrageinstitute, sondern an der Selbstzensur vieler WählerInnen zuvor. Aus Angst, dass die eigene Stimme nicht ausreicht, um die Partei ins Parlament zu hieven, wird die Stimme einer sicheren Wette zugesprochen, was letztlich aus der Angst Wirklichkeit macht.

Die AfD war sich dieser vor allem psychologischen Kraft der Zugangshürde durchaus bewusst: deshalb der Rechtsstreit mit den Umfrageinstituten, deshalb das unablässige Betonen des festen Glaubens an den Sprung ins Parlament durch Bernd Lucke. Kleine Parteien müssen die WählerInnen nicht nur davon überzeugen, dass sie die bessere Politik machen, sie müssen sie auch davon überzeugen, dass sie genügend weitere WählerInnen davon überzeugen. Die AfD hat diese schwierige Doppelaufgabe jedenfalls fast gemeistert, aber eben nur fast. Letztlich bleibt damit für sie eine Top- oder Hopp-Situation und der Achtungserfolg könnte verpuffen. Da sie es nicht geschafft hat- in den Bundestag einzuziehen, könnte es für sie bei zukünftigen Wahlen deutlich schwieriger werden, ihre WählerInnen erneut und noch ein paar mehr davon zu überzeugen, ihre Stimme der AfD zu geben. Einmal jedenfalls hat das Risiko sich nicht gelohnt – und dann ist es nahezu egal, ob es um 0,3 oder um drei Prozentpunkte nicht gereicht hat.

Letztlich macht die Fünfprozenthürde eben das, wozu sie einmal in das Grundgesetz geschrieben wurde. Sie verhindert das Aufsplittern des Parlaments in allzu viele kleine Fraktionen und verhindert somit, dass auf kurzfristigen Stimmungen basierende Wahlerfolge vier Jahre lang die parlamentarische Arbeit erschweren. Sie verhindert aber auch aufgrund weniger Stimmen die Vertretung eines offensichtlichen Bedürfnisses innerhalb der Bevölkerung und kann damit eine Dynamik auslösen, die es weiterhin schwer macht, dieses Interesse zu organisieren. Abstrakter formuliert: Sie beschneidet den Wählerwillen, der im Wahlergebnis ja zum Ausdruck kommen soll und verhindert damit, dass er eins zu eins in die politischen Erwägungen Eingang findet.

Normalerweise wirken die Landtagswahlen als Ausgleich für dieses Problem. Wahlbeteiligungen sind dort meist niedriger, was es kleinen Parteien leichter macht, ihre Anhänger zu mobilisieren, die Experimentierfreudigkeit der WählerInnen ist unter Umständen etwas größer, so dass neue und kleine Parteien sich dort über Zeiten retten können, in denen sie nicht im Bund vertreten sind. Landtagswahlen bieten zudem einfach mehr Zeitpunkte, an der es eine Partei schaffen kann, die magische Hürde zu überspringen und formale politische Relevanz zu erlangen.

Diesmal ist der Weg allerdings lang, erst im Sommer 2014 können FDP und AfD auf diesem Weg neue Erfolge anstreben. Zu dem ist fraglich, ob die AfD mit ihrem klaren Fokus auf die „ganz großen Fragen“ in Landtagswahlkämpfen reüssieren kann. Aber es gibt eine weitere Chance, die wie für die AfD gemacht scheint: Am 25. Mai ist Europaparlamentswahl. Hier muss es der AfD gelangen, ihre AnhängerInnen zu mobilisieren, was ihr auf Grund der Nähe ihres Kernthemas zur EU trotz der oben beschriebenen Dynamik nicht schwer fallen dürfte.

Die FDP muss vor allen Dingen einen Umgang mit dem neuen Wahlrecht erlernen. Sie kann nicht mehr auf Leihstimmen hoffen, die zwar nicht offiziell von der CDU motiviert wurden, die aber doch Praxis der bürgerlichen WählerInnen waren. Gefährlich für die FDP kann auch die kurze Hoffnung auf eine absolute Mehrheit im Bund, die sich die Union am Sonntag machen konnte, sein. Wenn die Union meint, eine realistische Chance darauf zu haben, diese tatsächlich zu erreichen, indem die FDP aus den Parlamenten gehalten wird, könnte aus dem früheren gegenseitigen Stützen ein aggressives Abwerben der Stimmen werden.

Sören Messinger ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.