[analysiert]: Franz Walter über den Grünenpolitiker Jürgen Trittin.
Vor einigen Monaten noch hatte man den Eindruck, dass die ganze große Karriere des Jürgen Trittin erst noch kommen werde. Er repräsentierte die Partei, nein, er führte die Partei. Und diese Partei schien in schnellen Schritten zu neuen Höhen zu gelangen, vielleicht bald Volkspartei zu werden, die Sozialdemokraten wie in Baden-Württemberg auch national in Bälde zu überholen. Und der unangefochtene Pfadfinder war eben Trittin. Man handelte ihn in der classe politique von Berlin-Mitte raunend zunächst als künftigen Außenminister, dann als Finanzminister der Republik. Der frühere Aktivist des Kommunistischen Bundes als oberster Kassenwart der Nation, Nachfolger von Größen wie Strauß, Schiller, Schmidt, Stoltenberg, Lafontaine oder Schäuble – ein bundesdeutsches Rehabilitierungs- und politisches Integrationsmärchen gleichsam.
Schließlich war Trittin über etliche Jahre der bad guy in der Führungscrew der Grünen gewesen. Mit Joschka Fischer hatte das Gros des deutschen Bürgertums irgendwann seinen Frieden geschlossen. Jürgen Trittin aber trauten die konservativen Bürger von Besitz und Bildung lange nicht über den Weg. Ihn hielten sie auch als Chef von Regierungsressorts für einen unbeugsamen Linken, der lediglich seine originären, wahren Ziele verhüllte, sie nur für den Moment zurückstellte. Für sie blieb Trittin der Kader, der Funktionär des Marxismus und der potenziellen Öko-Diktatur, der Gegner von Bürgerlichkeit und Eigentum, der finstere Revolutionär, der subkutan dem Umsturz zuarbeitete. Fischer wurde irgendwann gefeiert, Trittin wurde währenddessen mindestens noch in der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün gefürchtet, ja: gehasst.
Natürlich: Trittin trug seinen Teil dazu bei, dass es so war. Denn er nahm offenkundig nur zu gerne die Pose des Undurchsichtigen ein. Seine politische Position war über die Jahre tatsächlich diffus geworden. Aber er wählte die Manier des Listigen, des schlauen Taktikers, von dem man vermuten sollte, bei ihm gäbe es eine primäre, unerschütterliche Wahrheit hinter dem äußeren Schein. Solchen Auftritt genoss Trittin. Es dürfte ihm sicher gefallen haben, dass man ihm allerhand zutraute, dass man ihn für einen mit allen Wassern gewaschenen Strategen und kühlen Analytiker hielt. Diesen Eindruck erweckte er übrigens nicht nur bei seinen alten Feinden von rechts. Auch seine Parteifreunde selbst hatten überwiegend ein solches Bild. Dort schauten ebenfalls nicht wenige voller Unbehagen auf den langjährigen zweiten Mann ihrer Truppe. Man wisse einfach nicht, hieß es in Grünen-Gesprächen, was „der Jürgen wirklich denkt“. Er lasse „ja niemanden an sich heran“, er errichte bei Kontaktversuchen sofort eine „dicke Isolierschicht“ zwischen sich und allen anklopfenden Menschen.
Zu einem Darling der Medienmenschen wird man so nicht. Als ein Redakteur des Stern die TV-Talkerin Sandra Maischberger einmal fragte, mit welchem Interviewpartner sie sich denn besonders schwergetan hätte, antwortete sie: mit Jürgen Trittin. Denn: „Er erinnert mich in seiner Haltung an einen Türsteher, der breitbeinig und mit verschränkten Armen dasteht und nichts und niemanden durchlässt.“ Frau Maischberger ging es nicht alleine so. Etliche andere ihrer Kollegen haben sich im Laufe der Jahre ihre Zähne an Trittin ausgebissen, beim Versuch, ihm Privates zu entlocken. In solchen Situationen machte Trittin dicht, wurde kühl, abweisend, wie viele dann düpiert empfinden: arrogant. Man erlebte ihn meist in seiner körperlichen Favoriten-Stellung: Die Arme wie einen Panzer um die Brust verschränkt, den Kopf eingezogen, auf der Hut, wachsam, misstrauisch – oder auch, wie Bettina Gaus vermutete, „einfach schüchtern“.
Fischer hier, Trittin dort. Held der eine, Buhmann der andere. Seit 1988 bildeten sie bis 2005 informell das Führungsduo an der Spitze der Grünen. Und sie brauchten einander. Keiner der beiden hätte allein die Partei durch all die schwierigen Zeiten erbitterter Flügelkämpfe in den 1980er Jahren, des Scheiterns an der Fünfprozenthürde 1990, der Neuorientierungen nicht zuletzt in der Frage militärischer Interventionen manövrieren und beieinander halten können. Trittin zog die sogenannten Parteilinken mit, band sie ein und domestizierte sie. Auch die zahlreichen rhetorischen Eskapaden und Zuspitzungen Trittins, die seriell für Empörungen und Rücktrittsforderungen sorgten, schadeten à la longue weder den Grünen noch ihrem Urheber. Je stärker die Gegner tobten und seinen Kopf forderten, desto sicherer saß Trittin im Sattel. Denn in Trittin lebte dann die Erinnerung an das Ausgangselixier der Grünen auf, die rebellische, unangepasste Note. Gerade wenn die Grünen-Anhängerschaft unter den Zumutungen der von Fischer verlangten Staatspolitik litt, klammerte sie sich umso mehr an Symbole der Ursprünglichkeit und des grünen Eigensinns. Der Lieferant dieser Symbole war Trittin, der öffentliche Gelöbnisse der Bundeswehr als „perverses Ritual“ beschimpfte und den Generalsekretär der CDU, Laurenz Meyer, einen „Skinhead“ nannte. Führung und Integration im Inneren durch Polarisierung und Zuspitzung nach außen – so ließ sich die Methode Trittins zumindest lange Zeit charakterisieren.
Dass die Erinnerung an die Sattelzeit der Grünen, die wilden Jahre der sozialen Bewegungen und emanzipatorischen Forderungen die eigene Kohorte nicht nur stabilisieren, beleben und berauschen konnte, sondern – wie in den Debatten der letzten Monate – schwächen, bedrücken und deaktivieren würde, kam ihm und all den anderen Grünen der ersten Stunde nicht in den Sinn. Daher traf sie die Diskussion um die Pädophilie so unvorbereitet, daher standen sie fast starr neben sich, unfähig, sich zu erklären, die richtigen, erläuternden, empathischen Worte zu finden. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Sollte in der eigenen Biographie, sollte in der Selbstdeutung als Vorkämpfer für die segensreiche Fundamentalliberalisierung der Republik etwas falsch gewesen sein? Am Anfang hielt man es für ganz undenkbar. Dann schwankte man zwischen Trotz, Zweifel und Verunsicherung.
Man muss nicht teilen, was der lange maßgebliche Grünen-Forscher Joachim Raschke über Trittin schrieb: „Dagegen sehe ich in Jürgen Trittin einen Repräsentanten unechter Vermittlung. Er ist ein rein taktischer, prinzipienloser, ziemlich zynischer, schon in der Partei Freund und Feind irritierender Vermittlungsjongleur, der auf dieser Art zur Diffusion grüner Identität beiträgt.“ Trittin war – und ist ja weiterhin – unzweifelhaft einer der erfahrensten Politiker im Deutschen Bundestag. Auch Wirtschaftskapitäne tuschelten in den letzten zwei Jahren nicht ohne Bewunderung, dass „der Trittin wisse, worüber er rede“, kompetenter sei als „viele Dummschwätzer“ im Parlament. Das in diesen Wochen viel gescholtene Steuerprogramm der Grünen, bekanntlich von Trittin maßgeblich konzipiert und durchgesetzt, hatte Begründung, Linie, Kohärenz, auch Sinn. Von welchem Projekt aus dem Wahlkampf 2013 ließe sich dergleichen sonst noch sagen?
Vom Typus war Trittin in mancher Hinsicht ein Berufspolitiker nach Art von Franz Müntefering oder auch – der Vergleich wird ihn nicht freuen – Guido Westerwelle. Alle drei sind Männer der Ochsentour, alle drei haben die Politik von der Pike auf gelernt, alle drei beherrschten die Techniken und Tricks der Macht, mehr und virtuoser als andere. Aber gerade da sie so erfahren waren, weil sie glaubten, alles zu wissen, übersahen sie irgendwann, dass etwas Neues kam und die alten Routinen deshalb nicht mehr verfingen. Müntefering ist ganz abgetreten, Westerwelle wohl auch. Und auf der großen Bühne wird Trittin ebenfalls künftig nicht mehr stehen. Ab er ob er sich ganz zurückzieht aus der Politik, die ihm doch alles, wirklich alles bedeutete? Allein Reden halten, Berater sein, Lobbyist? Anderen mag das genügen, mag sie durch großzügige materielle Kompensationen befrieden. Aber ihn, der die Strippen zog, einen Plan hatte, dem es nie in erster Linie um kulturellen Wandel ging, sondern darum, die Vertreter harter, privilegierter Interessen das Fürchten zu lehren? Man wird sehen.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.