[analysiert]: Felix Butzlaff für Voraussetzungen und Ergebnisse des SPD-Wahlkampfs.
Die Leute sind freundlich und stolz, wo immer Thomas Oppermann auch auftauchte. Etliche tausend rote Rosen mit einem kleinen Aufkleber mit seinem Konterfei hat Oppermann im Wahlkampf verteilt, in Fußgängerzonen, auf Wochenmärkten, an Haustüren. Von Politikerverdrossenheit war da jedenfalls nichts zu spüren, die Reaktionen reichten von Überraschung und freundlichen Grüßen bis zu beinahe überschwänglicher Begeisterung: Meine Stimme haben Sie! Immer wieder ist der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion in diesem Sommer auf Tuchfühlung unterwegs gewesen, durch seinen Wahlkreis und in die SPD-affinen Stadtviertel Göttingens und Umgebung. Dies habe er zwar schon immer so gemacht, auch als früherer Landtagskandidat, und nun in seinem dritten Bundestagswahlkampf als Direktkandidat im Wahlkreis 53, allerdings noch nie so intensiv wie in diesem Jahr. Es passt auch perfekt zur Wahlkampfstrategie und zum gewünschten neuen Parteibild der Sozialdemokraten, über die auch in diesem Blog des Öfteren bereits berichtet wurde.
Der Kontakt zur wahlabstinent bleibenden vormaligen Kernwählerschaft sollte wieder mit Kraft und Engagement aufgenommen werden, die Partei auf der Ortsebene wieder mit Leben gefüllt und zu einem Hort vitaler Diskussionen über die sozialdemokratischen Zukunftsideen etabliert werden. Gefördert von der Parteizentrale wurden für den Wahlkampf 2013 sogenannte „Campaigner“-Stellen eingerichtet, die für Koordinierung dieser scheinbar neuen Art der Basisarbeit zuständig sein sollten. Es wurde ein „Tür-zu-Tür-Wahlkampf“ ausgerufen, um den Anspruch zu unterstreichen, wieder ein tragfähiges Netzwerk an Parteistrukturen aufzubauen, das die Menschen in ihren Stadtvierteln erreicht und „abholt“. Nicht zuletzt wurde auch der Spitzenkandidat in Bürgerdialog-Foren geschickt, in denen er nach dem Vorbild amerikanischer Town-Hall-Meetings mit den Bürgern und ihren Ansinnen ins Zwiegespräch kommen sollte. „Die Menschen ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen“, schreibt dazu die Generalsekretärin Andrea Nahles über die Devise der neuen SPD. Nicht nur für den Bundestagswahlkampf, sondern seit der Wahlniederlage 2009 ziehen sich diese und ähnliche Ideen durch die Parteidiskussion um Reformprojekte. Wie mögen sich diese Neujustierungen ausgewirkt haben auf das sozialdemokratische Wahlergebnis?
Am Tag nach der Bundestagswahl 2013 steht ein Stimmenzuwachs von lediglich 1.256.000 Zweit- und 756.000 Erststimmen – nicht gerade eine donnernde Rückkehr als vitale Volkspartei der linken Mitte. Das Ziel einer Regierungsablösung und eine gewünscht rot-grüne Koalitionsmöglichkeit jedenfalls ist weit und deutlich verpasst worden. Bevor an dieser Stelle allerdings die oft allzu rasch verspritzte Häme der Parteienkritik ausgegossen werden soll, lohnt durchaus ein eingehender Blick auf die Details. Zunächst: Die SPD hat in allen Alters-, Bildungs-, Berufs- und Konfessionsgruppen ihre Wahlergebnisse halten, in den allermeisten sogar ausbauen können. Lediglich bei den über 60-jährigen Frauen, der Berufsgruppe der „Rentner“ und den „Selbständigen“ stagniert die SPD. In allen anderen Kategorien können die Sozialdemokraten Zuwächse verzeichnen. Am stärksten gewinnen die Sozialdemokraten bei den Jungen hinzu, allerdings ausgehend von einem unterdurchschnittlichen Niveau: plus sechs Prozentpunkte bei den unter 24-jährigen, plus fünf bei den Wählern zwischen 25 und 34. Dieser Effekt ist bei den Männern etwas stärker als bei den Frauen, sowohl was die Zuwächse, als auch was die erreichten Prozente anbelangt. Überhaupt sind die Sozialdemokraten „männlicher“ geworden. In ihrer Wählerschaft bilden männliche Wähler über 45 die Altersgruppe, in der die SPD mit 28 (45 – 59 Jahre) und 30 Prozent (bei den über 60-Jährigen) am besten abschneidet. Weiterhin können die Sozialdemokraten bei den niedrig Gebildeten (mit 31 Prozent) und den Angestellten (mit einem Zuwachs von 6 Prozentpunkten auf 25 Prozent) Erfolge verzeichnen.
Allerdings darf dies alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Einbrüche seit 2005 und die Folgen der drastischen Wahlniederlage 2009 nicht nur einzelnen Wählergruppen zuzurechnen sind. Nur bei eben jenen niedrig Gebildeten und den über 60-jährigen Männern erreicht die SPD überhaupt noch die 30-Prozent-Marke. Sie kann zwar bei dieser Wahl bei allen Gruppen hinzugewinnen, liegt bei den Selbständigen mittlerweile mit 14 Prozent gar vor der FDP und ist bei den „Arbeitslosen“ mit 26 Prozent die stärkste Partei – und dies auch nur dank der westdeutschen Ergebnisse. In allen anderen Kategorien liegen die deutschen Sozialdemokraten allerdings mit teilweise großem Abstand nur auf dem zweiten Platz der Parteienwertung hinter der Union. Selbst bei den Arbeitern liegt man mittlerweile mit 27 Prozent um 8 Prozentpunkte hinter der Partei Angela Merkels. Und in allen Kategorien – von den Arbeitslosen abgesehen – hat sich dieser Abstand seit 2009 gehörig vergrößert.
Die Wählerwanderungen gegenüber anderen Parteien weisen überraschenderweise gerade mit der Union den höchsten Austausch auf: Die SPD verliert gut 900.000 Wähler an die CDU und kann ihr wiederum gut 700.000 abspenstig machen. Dies ist insofern bemerkenswert, als eine solche lagerübergreifende Wanderung bis dato stets als wenig wahrscheinlich angesehen wurde. Der Saldo von 210.000 Wählern zu Gunsten der Union ist netto auch nicht besonders hoch (bei einem Gesamtzuwachs der CDU/CSU von 3,5 Mio. Stimmen). Ein zweiter Blick macht aber deutlich, dass eben doch viele Wähler zwischen SPD und CDU wechseln. Nur mit den Grünen tauscht die SPD ansonsten ähnlich viele Wähler, hier aber mit einem deutlichen Übergewicht bei den Stimmen für die SPD. Und auch von den Stimmenverlusten der FDP kann die SPD profitieren, sie gewinnt netto über eine halbe Million Stimmen von den Freidemokraten. Zudem gleichen die Zuwächse bei den Erstwählern diesmal fast die Verluste durch die verstorbenen SPD-Sympathisanten aus: Während bei der Union dieser Generationensaldo bei minus 490.000 steht, verliert die SPD lediglich 210.000. Alle diese Bewegungen sind in Westdeutschland stärker akzentuiert – von den 1.080.000 Stimmen, welche die SPD von anderen Parteien hinzugewinnen kann (also ausgenommen die Gewinne aus der Gruppe der Nichtwähler sowie der Generationenwechsel), stammen eine Million aus den westdeutschen Ländern.
Acht Prozentpunkte liegt das ostdeutsche Durchschnittsergebnis mit 19,0 Prozent unter den westdeutschen 27,4. Bis auf 14 Prozentpunkte wächst diese Differenz, wenn man etwa nur die Arbeiterwähler betrachtet – hier erreicht die SPD im Westen 30 Prozent, im Osten nur mehr 16.
Die SPD ist bei dieser Wahl zwar eine Volkspartei geblieben, wenn man eine Definition zugrunde legt, die von ähnlichen Anteilen in möglichst vielen Alters-, Berufs- und Bildungsgruppen ausgeht. Sie ist aber eine zunehmend westdeutsche Volkspartei, dazu eine, die derzeit höchstens ein knappes Drittel der unterschiedlichen Wählergruppen zu einer Stimmabgabe bewegen kann.
Was mag dies nun bedeuten für die Bilanz der sozialdemokratischen Reformprojekte? Die der SPD zugesprochenen Kompetenzen haben ebenso Zuwächse verzeichnen können, die Sozialdemokraten sind nach wie vor diejenige Partei, der bei den Themen „angemessene Löhne“ und „soziale Gerechtigkeit“ am meisten zugetraut wird, deutlich mehr noch als etwa der LINKEN. Bei den Themen „Familienpolitik“ und „Gesundheitspolitik“ haben die SPDler ebenfalls deutliche Zugewinne zu verzeichnen. Man traut ihnen also durchaus etwas zu.
Merkwürdig ist, dass diese Themen, wie etwa „angemessene Löhne“, als überdurchschnittlich „wichtig“ für die Wahlentscheidung angegeben wurden – von immerhin 57 Prozent. Auch, dass 60 Prozent befanden, es sei „Zeit für einen Regierungswechsel“ und immerhin 40 Prozent der Wähler sich eine SPD-geführte Regierung wünschten. Entgegen der Annahme, dass zugesprochene Parteikompetenzen gemeinsam mit der Wichtigkeit der einzelnen Themen schon eine Wahlentscheidung begründen, scheinen diesmal zum einen die Kandidaten eine insofern gewichtige Rolle gespielt zu haben, als dieser Faktor für die SPD unterdurchschnittlich, für die Union besonders stark ins Gewicht fiel. Zum anderen scheint die Tatsache eine Rolle zu spielen, dass die allgemeine Stimmung im Land hinsichtlich der persönlichen wie der gesellschaftlichen Situation deutlich positiv ist: Die wirtschaftliche Lage allgemein wird von 74 Prozent der Befragten für „gut“ befunden, die persönliche wirtschaftliche Situation von 78 Prozent. Der Union an der Regierung wird ein gutes Zeugnis ausgestellt, man wähnt sich von Angela Merkel gut vertreten. Sie „vertritt unser Land gut in der Welt“ finden 75 Prozent sogar der SPD-Anhänger. Und immerhin 41 Prozent der sozialdemokratischen Sympathisantenschaft stellen ihr ein gutes Zeugnis für ihre Euro-Krisenpolitik aus. Angela Merkel hat den Eindruck erwecken können, sie stehe über den Niederungen machtorientierten Parteiengezänks; sie mache „nicht Parteipolitik, sondern Politik für das Land“, finden 60 Prozent.
Demgegenüber ist es anscheinend der SPD als Partei, ihrem Programm und ihrem Kandidaten nicht gelungen darzulegen, wo genau die kritischen und entscheidenden Unterschiede liegen, die eine Kontinuität von Wahlstimme und Regierung unattraktiv machen könnten. Dass etliche Wähler für solche Argumentationen durchaus empfänglich sein könnten, zeigen die hohen Austauschzahlen zwischen SPD und CDU. Und nicht zuletzt, aber das ist eine andere Diskussion, hat sich eine Mehrzahl der Deutschen eine Große Koalition als nächste Regierungskoalition gewünscht, und eben nicht das von der SPD präferierte rot-grüne Modell, über dem schon lange der Nimbus der rechnerischen Unmöglichkeit wabert. Eine Mehrzahl der Menschen findet, eine neue Regierung solle sich um sozialen Ausgleich kümmern. Dass aus diesen Meinungen auch sozialdemokratische Wahlstimmen zwingend resultieren, ist anscheinend keine ausgemachte Sache.
Thomas Oppermann hat seinen Wahlkreis mit deutlichen Zuwächsen gewonnen, er konnte 40,4 Prozent erringen und auch bei den Zweitstimmen leicht überdurchschnittlich zulegen. Auch und besonders dort, wo er und die SPD ihre Hausbesuche und Quartierfeste konzentriert haben. Es sind zwiespältige Signale, welche dieses Wahlergebnis an die Sozialdemokraten aussendet. Wenn es eine Wahrheit gibt, dann wohl die, dass der Parteireformprozess weitergehen müsste, wenn man die ausgerufene Vision einer lebendigeren und kraftvolleren werdenden Sozialdemokratie verwirklichen möchte, die in der Lage ist, alternative Deutungen und Zukunftsideen glaubwürdig und überzeugend zu formulieren und mit einer politischen Umsetzungsperspektive zu versehen. Auf dass nicht nur der berühmte Abgeordnete aus Berlin alle vier Jahre mal vorbeischaut, sondern seine Partei auch zwischendurch und kontinuierlich greif- und wahrnehmbar ist. Ein Anfang scheint also gemacht, aber der Weg noch weit.
Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.