[analysiert]: David Bebnowski über die Ideenwelt der Alternative für Deutschland
Der Philosoph Jacques Derrida erblickte in der Informationsflut unserer Tage eine große Gefahr für den demokratischen Diskurs. Schließlich ersticke sie das Vermögen, die wichtigen Informationen von den unwichtigen zu trennen. Tatsächlich, dass wir in einer unübersichtlichen, hochkomplexen Welt leben, ist eine der unstrittigen sozialwissenschaftlichen Diagnosen. Die Potenzierung der journalistischen und wissenschaftlichen Berichterstattung zu politischen Phänomenen vermehrt Stimmen und Meinungen ebenso eindrucksvoll wie die Wortmeldungen politischer Strömungen und Bürgerinitiativen. Umso mehr verwundert es, wenn angesichts dieser Fülle unterschiedlichster Äußerungen gemahnt wird, Meinungen würden gezielt unterdrückt und über Gebühr genormt.
Man hat sich daran gewöhnt, dass der rechte Rand der Politik das Argument einer unterstellten Diskurshoheit als Symptom politischer Korrektheit ausgibt. Spannend und überraschend ist dabei jedoch, dass die Vertreter der Gegenposition ihre Meinung ausgerechnet als nicht-ideologisch verstanden wissen wollen. Gegenwärtig kann man dieses Argumentationsmuster anhand der neuen Partei Alternative für Deutschland (AfD) bewundern. Um die angeblich den Diskurs dominierenden Kräfte zu besiegen, vertraut man auf die eigene, vor allem ökonomische Expertise. Laut Aussage ihres designierten Vorsitzenden, Bernd Lucke, ist man deshalb politisch unideologisch. Die Anhängerschaft goutiert es. Als Feindbild klagen sie die vermeintlichen Ideologen in den angeblichen „Blockparteien“ an. Im Verbund mit gleichgeschalteten Medien würden diese schließlich die Wahrheit unterdrücken. Und so liest man ausgerechnet in Zeiten heftiger Sparmaßnahmen und Niedriglöhne vom Weg in den „totalitären Sozialismus“. Mancher wähnt sich bereits in der „EUdSSR“.
Die Vision einer Nicht-Ideologie macht gerade aus politikwissenschaftlicher Perspektive stutzig. Denn wenn es ein probates Mittel gibt, Komplexität zu reduzieren, ist dies eben gerade der Rückgriff auf Ideologien. Indem sie als ein Bündel an Wertmustern und Handlungsorientierungen die „Welt-Anschauung“ vorprägen, liefern sie einen Referenzrahmen zur Ordnung der Welt. Dass sich all dies vorwiegend hinter dem Rücken der Akteure vollzieht, ist eine der Grundeinsichten marxistischer Gesellschaftsanalysen. Zusammengenommen muss man so natürlich auch die Anti-Ideologie als eine weitere Ideologie begreifen.
Nur, was steckt hinter ihr und wozu führt sie? Betrachtet man die Nicht-Ideologie genauer, entdeckt man in ihr eine verschwörungstheoretische Struktur. Denn wenn gegen die vermeintlich politisch korrekt genormten Argumentationsmuster gewettert wird, steht eine Welt zur Anklage, die so nicht existiert. Dessen ungeachtet wird sie aber als die wahre Welt ausgegeben. Hierfür greift man Bruchstücke der gesellschaftlichen Realität heraus und gleicht diese mit dem Alltagsverstand ab. Ein geniales Verfahren: Schließlich immunisiert es die angeblich schweigende Mehrheit, für die man sprechen möchte, gegen jegliche Form von Kritik. Denn da man selbst meint, die Wahrheit zu kennen, können kritische Stimmen an der vermeintlich unideologischen Position nur von den Profiteuren der gegenwärtigen Ordnung stammen – oder eben von denen, die politisch-korrekt gleichgeschaltet sind.
Da Verschwörungstheorien aber nur dort gedeihen, wo der Kontakt zwischen Bürgern und Politikern empfindlich gestört ist, findet sich auch eine reale Andockstelle für diese Argumente. Der argumentative Eckpfeiler, das „Meinungsmonopol“, geht sicher auch darauf zurück, dass die deutschen Parteien in zentralen Fragen ein einträchtiges Bild abgeben, dessen vermeintliche Alternativlosigkeit zurecht kritisiert wird. Aber dies heißt eben nicht, dass sich eine Klasse von Berufspolitikern herausgebildet hat, die im Interesse eines „Parteienkartells“ auf eigene Rechnung arbeitet. Realistischer ist, dass die seit Jahren wachsende Distanz zwischen Demos und Politik hierfür selbst verantwortlich ist. Denn sie ruft Ansprüche hervor, denen die Politiker, gerade wegen der gewachsenen Kluft, zaudernd begegnen. Unbestritten erschweren zudem die Drohgebärden der Rating-Agenturen politische Richtungsentscheide.
Die „Anti-Ideologen“ aber bescheiden sich mit den Resultaten, die Wasser auf ihre Mühlen sind. Da all die Probleme nicht gelöst werden, kann man sich als authentische politische Kraft gegen die eingeschlagenen Wege positionieren. Der durchaus willkommene Nebeneffekt ist, dass sich gerade durch den Verweis auf den „Common Sense“ ein ordentlicher Schuss Anti-Elitismus in die Argumentationsgänge mischt. Hierdurch erscheinen die Interessen der privilegierten Eliten als Meinung des gesamten abgehoben-elitären politischen Spektrums.
Der Philosoph Robert Pfaller hat dieses in der neoliberalen Politik charakteristische Argumentationsmuster als „negative Hegemonie“ interpretiert. Unter dem Vorwand, eine privilegierte Elite verbünde sich gegen die Mehrheit, kann das Ressentiment gerade von denjenigen mobilisiert werden, die weitere Zumutungen durchsetzen wollen. Auf diese Weise erleichtert die Anklage des Monopols der politisch Korrekten noch weitere Kürzungsprogramme und Einschnitte.
Und so ist es auch in der Alternative für Deutschland. Ihre Anhängerschaft rekrutiert sich, wie ein Blick auf die Bewerber um Parteiämter verrät, vor allem aus den ohnehin unter Druck befindlichen mittleren gesellschaftlichen Klassen. Intuitiv bildet sie nicht unbedingt eine Gruppe, die noch härtere politische Kursschwenke befürwortet. Trotzdem findet man in den Bewerbungsschreiben neben der Einforderung strikter Fiskaldisziplin auch den Wunsch nach Härte gegenüber angeblich „arbeitsunwilligen“ Leistungsempfängern. Die passende Ergänzung liegt natürlich darin, dass die ohnehin schon viel zu hohen Steuern die „Leistungswilligen“ außer Landes treiben.
Am Ende wird gerade aus dieser Perspektive der Vorwurf, die etablierte Politik handele mit ihren Forderungen im Interesse der Finanzlobby, umso bemerkenswerter. Als ob diese Lobby unter dem euphemistischen Stichwort der Schaffung eines „investitionsfreundlichen Klimas“ eben nicht längst schon fordern würde, was hier emphathisch von den Anti-Ideologen eingeklagt wird! Es macht betroffen: Eine Politik, die sich wegen der Macht des Fabelwesens „Märkte“ in allen Fragen zur Regulierung von Banken und Finanzströmen zurückhielt, ruft auf diese Weise nur wieder jene Forderungen hervor, die „die Märkte“ seit Jahr und Tag vertreten. Das ist eine der bitteren Lektionen, die die Alternative für Deutschland über die gegenwärtige Etappe der Krise lehrt.
Was sich hier entwickelt, wird man abwarten müssen. Die Vorzeichen zu einer aufklärerischen Auseinandersetzung allerdings könnten schwieriger nicht sein. Schließlich ist auch der Autor dieses Textes als Universitätsangestellter bloß ein weiterer „Nettostaatsprofiteur“, der vom „Kartell“ des „politisch-medialen Komplexes“ der „Blockparteien“ der „EUdSSR“ genährt wird.
David Bebnowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zusammen mit Niels C. Kumkar hat er im Sammelband “Die neue Macht der Bürger” jüngst einen Artikel über eurokritische Protestbewegungen veröffentlicht.