[kommentiert]: Stephan Klecha zur Lage der deutschen Protestforschung
Politischer Protest gehört zum Wesen der Demokratie, ja er ist in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft notwendig. Er zeugt davon, dass politische Entscheidungen nicht pauschal gebilligt werden, dass sie hinterfragt werden, dass sie Kritik aushalten müssen. Zugleich mahnt er an, die Fähigkeit zum politischen Kompromiss zu nutzen und nicht berücksichtigte Interessen künftig einzubeziehen oder an anderer Stelle diese aufzugreifen. Insofern gehört die Forschung über Proteste eigentlich zum Wesen der Politikwissenschaft oder der Soziologie – sollte man zumindest meinen. Die Realität in der deutschen Forschungslandschaft sieht indes etwas anders aus.
Wissenschaftlicher Mainstream ist gegenwärtig der Vergleich von Strukturen, die Deskription von Konstellationen und die Exegese hochspezialisierter Themenkomplexe. Alles das sind zweifelsohne wissenschaftlich bedeutsame Leistungen, die sich zudem nicht nur auf eine ausgefeilte Methodik berufen können, sondern im internationalen Vergleich auch eine beachtliche Resonanz im Ausland und in den renommierten internationalen Fachzeitschriften erfahren. Nun korrespondiert der international geachtete Fachverstand nicht unbedingt mit der Sichtbarkeit, gar mit Einfluss bei den Entscheidungsträgern, wie es jüngst besonders eindrucksvoll den deutschen Ökonomen attestiert worden ist.
Ein auffallendes Missverhältnis zwischen wissenschaftlicher Reputation und politischer Rezeption mag dabei nicht nur mit der Abgeschiedenheit der Sphären zusammenhängen, sondern eben auch mit den gewählten Themen in der Forschung. Nochmals, keine wissenschaftliche Leistung soll geringgeschätzt werden, wohl aber muss gerade die Politikwissenschaft sich fragen, welchen Beitrag zur Analyse der zentralen Konflikte sie leistet und zu leisten in der Lage ist.
Wenn man sich die Partizipationswut der Gesellschaft in den letzten vier bis sechs Jahren vor Augen hält, dann begegnet man in der Wissenschaft doch erstaunlich wenigen Forschungsansätzen und -resultaten. Möglicherweise waren eben nicht nur die Politiker überrascht vom plötzlichen Aufflackern all der Proteste quer durchs Land, die unter dem Signum der „Wutbürger“ nicht nur die deutschen Feuilletons beschäftigt haben.
Schaut man ein wenig umher, stellt man fest, dass es natürlich eine Reihe kluger Köpfe gibt, die sich ihre Gedanken machen über den Zustand der Demokratie. Am WZB in Berlin wird die Krise der Demokratie, insbesondere in ihrer repräsentativ verfassten Form, doch bemerkenswert konzise analysiert. Am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung hat man den Zusammenbruch der neoliberalen Legitimation gleichermaßen mit Blick auf die Folgen für die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft unter die Lupe genommen und betrachtet die Auswirkungen divergierender Partizipationsbereitschaft in den unterschiedlichen sozialen Schichtungen. Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft widmet gar ihren letzten Kongress dem „Versprechen der Demokratie“. Der immer wieder inspirierende Oskar Negt räsoniert über Demokratie als Lebensform und Jürgen Habermas regt schon geraume Zeit zum Nachdenken über deliberative Demokratie an.
Man kann nicht leugnen, dass die Gesellschaftswissenschaften also über die Lage der Demokratie nachdenken. Doch eines fällt dabei auf: Relativ wenig geraten diejenigen in den Blick, die das Versprechen der Demokratie einfordern, die Bürger.
Dabei war es zeitweilig eine Domäne der Gesellschaftswissenschaften in Deutschland, das politische Denken, Fühlen und Handeln von Menschen aufzunehmen, zu interpretieren, es kritisch zu hinterfragen und es hinterher in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Jedenfalls sind die empirische Industriesoziologie, die Forschung über die Neuen Sozialen Bewegungen oder die mit Dieter Rucht verbundene Bewegungsforschung dafür durchaus stilbildend gewesen. Doch all das ist ein wenig in den Hintergrund getreten. Zwar pflegt das Hamburger Institut für Sozialforschung immer noch solche Ansätze, doch das eher zeithistorisch orientierte Institut hat natürlich andere Bezugspunkte als die stärker der Gegenwart verhafteten Gesellschaftswissenschaften.
Und so kam es, dass wir bei der Arbeit an der Studie über die neue Macht der Bürger kaum anderen Forschern im Feld begegneten (mit denen man hätte konkurrieren oder kooperieren können). Es ist in der Wissenschaft eben nicht en vogue, sich mit Protesten zu beschäftigen, schon gar nicht gebunden an den nationalen Kontext. Dabei scheint sich in der Bevölkerung durchaus etwas fundamental zu verändern. Die Bezugspunkte der Protestbürgerschaft sind nicht mehr die gegebenen Einrichtungen und das regelgeleitete Handeln der politischen Akteure. Vielmehr sind Institutionen transformierende Tendenzen unübersehbar.
Freilich wäre es zugleich gänzlich verfehlt, von revolutionären Umtrieben zu sprechen. Dafür sind die Proteste alle viel zu disparat, viel zu sehr an bestimmte Altersgruppe, an bestimmte kulturelle und ökonomische Potenzen gebunden. Weder Massenaufläufe noch Umstürze sind daher zu erwarten. Viel zu sehr verweisen die Bürger auf ihre demokratische Gesinnung und viel zu sehr schätzen sie Demokratie. Und das politische Klima ist beileibe nicht so aufgeladen wie in Südeuropa.
Und doch verstehen die Gegner von Bahnhöfen, Hähnchenmastställen, Flugrouten, Atomendlagern und Bankenmacht unter Demokratie keineswegs alle das gleiche; schon gar nicht folgen sie den Normen, welche die repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik gegenwärtig konstituieren. Die differenzierten wissenschaftlichen Diskurse zur Leistungsfähigkeit der Repräsentation oder die dort vorgetragenen Zweifel an plebiszitären Elementen nimmt man jedenfalls eher wenig zur Kenntnis. Gemeinwohlorientierung wird oftmals mit der Maximierung eigener Interessen gleichgesetzt, was nicht den Protest delegitimiert, wohl aber die weitere demokratische Aushandlung erschwert.
Alles in allem muss man feststellen, dass Forschung und Politik auf Distanz bleiben zu dem, was in der Gesellschaft gegenwärtig passiert. Kurzum, es gibt eine erkennbare Forschungslücke, die sich aber schließen lässt. Mit der am Institut für Demokratieforschung erstellten Studie haben wir bereits einen Einblick in die Motive und Herangehensweisen des gesellschaftlichen Protests erhalten. Zielführend ist es, diese Impulse jetzt fortzuführen. Doch das wiederum verlangt nach Ressourcen und institutioneller Absicherung, was aber jenseits des wissenschaftlichen Mainstreams oft schwierig ist.
Dr. Stephan Klecha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Mitautor im Sammelband „Die neue Macht der Bürger„.