Eiertanz um die Macht

[kommentiert]: Stephan Klecha über die Machtoptionen der SPD

Macht, gar Machtbewusstsein gilt vielen als verabscheuungswürdig. Diese Haltung der Wähler antizipieren Politiker, weswegen sie davor zurückscheuen, rechnerisch mögliche, aber schlecht beleumundete Koalitionen einzugehen. Schließlich will man keine Wählergruppen vergrätzen. Zuvor am Reißbrett entworfene Optionen können aber durch das tatsächliche Wahlergebnis schnell ins Wanken geraten. Wenn gar eine Partei auftaucht, die nicht in die Koalitionsspielereien einbezogen war, mit der eine Zusammenarbeit ausgeschlossen wurde oder die sich partout weigert, in Regierungsverantwortung einzutreten, wird es kompliziert. Dann beginnt die Stunde der Machtpolitiker.

Im Vorteil ist derjenige, dem es gelingt, etwas zu unternehmen, womit niemand gerechnet hat. Wer in einer solchen Situation beherzt vorhandene Machtoptionen nutzt oder solche durch geschicktes Verhandeln erst ermöglicht und dabei kein großes Federlesen um Grundsatzfragen macht, gilt – siehe Konrad Adenauer – im günstigsten Fall noch als gerissen, im ungünstigen Fall aber – siehe Andrea Ypsilanti – als unseriös.

Nun sind Politiker nicht uneitler als der Rest der Bevölkerung und die schlechten, gar verächtlichen Kommentare über machtbewusstes Vorgehen behagen ihnen selbstredend nicht. Auch wissen sie, dass sich die Winkelzüge für den Tag nach der Wahl im Vorfeld schwer vermitteln lassen. Es gibt also durchaus mehr oder minder rationale Gründe, sich nicht bedingungslos dem Machtpoker zu fügen. In vielen Fällen funktioniert das gut, doch manches Mal lässt sich frühzeitig absehen, dass die Strategie der Vermeidung misslingen wird.

Gerade die SPD liefert ein Lehrstück der kunstvollen Selbstfesselung, in dem sie ein rot-grünes Bündnis zur einzigen Machtperspektive erhebt. In der Tat spräche einiges dafür, dass sich die Harmonie und Hegemonie von rot-grün in den Ländern am Ende auch im Bund widerspiegelt. Ein solches Bündnis war in den Umfragen zwischen 2010 und 2012 ausgesprochen populär, hatte Aussicht auf eine Mandatsmehrheit.

Doch gegenwärtig ist davon nicht mehr allzu viel übrig: Die SPD taxiert in den Umfragen etwas oberhalb ihrer depressiven Wahlwerte von 2009. Die Grünen sind gleichzeitig von ihren Spitzenwerten aus dem Frühjahr 2011 weit entfernt. Dafür bewegt sich die Union auf Werte zu, die sie zuletzt bei der Bundestagswahl 1994 erreicht hat, was in etwa so viel ist, wie SPD und Grüne gegenwärtig gemeinsam erreichen. Auch die angeschlagene FDP meldet sich zurück. Die Wahl in Niedersachsen lehrt, dass die Liberalen die Fünf-Prozent-Hürde wohl dann überspringen werden, wenn ansatzweise eine gemeinsame Machtoption mit der Union in Sicht ist. Zu allem Überfluss gibt es dann noch die LINKE, die zwar weit entfernt von den Werten ist, auf die Lafontaine sie 2009 geführt hat, doch stabil bekennen sich mehr als fünf Prozent der Wähler zu ihr. Selbst die Piraten sollte man noch nicht ganz abschreiben.

Im Augenblick gibt es daher bestenfalls eine vage Mehrheitsoption für Merkels Bündnis – jedoch keine für SPD und Grüne. Das führt zwangsläufig zu der Frage, was dann? Mehrheiten von SPD, Grünen und Linken sind rechnerisch sehr wahrscheinlich. Sie werden von den Sozialdemokraten indes trotz des Werbens der Parteiführung der LINKEN vehement ausgeschlossen. Schließlich hofft man im Willy-Brandt-Haus immer noch, die LINKE durch konsequentes Ignorieren irgendwann aus dem Bundestag zu drängen. Die strategischen Implikationen kompensieren aber nicht die taktischen Probleme bei der anstehenden Bundestagswahl, denn – nochmals – der Wiedereinzug der LINKEN in den Bundestag ist sehr wahrscheinlich. Infolgedessen sind SPD und Grüne gezwungen, andere Optionen zu erschließen als die rechnerisch naheliegenden.

Doch diese Optionen sind rar gesät. Die Große Koalition wird von der SPD heftigst und von der Kanzlerin zumindest vordergründig abgelehnt. Gerade bei den Sozialdemokraten sind die Wunden des letzten Bündnisses noch nicht verheilt. Eine Konstellation, die SPD, Grüne und FDP einbindet, war schon 2009 vor allem Wunschdenken manch entrückter sozialdemokratischer Wahlkämpfer. Die wahrscheinlichste Option wäre das Wagnis einer rot-grünen Minderheitsregierung. Sie hätte im Zweifel mit der LINKEN vermutlich die erforderliche Mehrheit beisammen, um dem Bundespräsidenten einen Kanzler Steinbrück aufzuzwingen, und könnte danach situativ Mehrheiten zusammenzusuchen. Die bis zum Frühjahr 2016 wohl ziemlich sichere Mehrheit im Bundesrat würde einer solchen Minderheitsregierung notfalls die Option des Gesetzgebungsnotstands ermöglichen. Diese vergessene Vorschrift im Grundgesetz lässt zu, dass eine Bundesregierung für ein halbes Jahr unter Umgehung des Bundestags alleine mit dem Bundesrat regiert. Doch – getrieben von der Sorge um eine Aufwertung der LINKEN und um eine Irritation der eigenen Wähler zu vermeiden – wird in der SPD auch diese Konstellation mittlerweile ausgeschlossen.

Wenn die SPD also alles jenseits eines rot-grünen Mehrheitsbündnisses ausschließt, dann gibt es am Ende keinerlei machtpolitischen Optionen für die Sozialdemokraten. Historisch wäre das keineswegs ungewöhnlich, denn die SPD tat sich in ihrer Geschichte mit machtpolitischen Finten meist schwer, jedenfalls viel schwerer als die bürgerliche Konkurrenz. Das hat sie freilich am Ende auch davor bewahrt, verhängnisvolle Kooperationen auszuloten, hat sie in der Stunde der Bedrohung von Demokratie und Menschenrechten standhaft werden lassen – aber es hat ihr eben auch ein ums andere Mal greifbare machtpolitische Optionen verbaut.

Genau dieses droht ihr erneut, denn am Ende bleibt – wenn man alle Ausschlüsse für gesetzt hält – nur eine mehrheitsfähige Option übrig, sollten CDU/CSU und FDP ihre Mehrheit verlieren. Es könnte dann auf ein Bündnis aus CDU/CSU und Grünen hinauslaufen. Dieses hätte im Herbst wohl ziemlich sicher eine Mehrheit. Nun wird weder seitens der Grünen noch seitens der Union ein solches Bündnis angestrebt, jedoch auch nicht vehement ausgeschlossen.

Die guten Umfragewerte für die Union, die mäßige Performance des SPD-Spitzenkandidaten und nicht zuletzt der machtpolitische Eiertanz, den die Genossen liefern, lässt ein schwarz-grünes Regierungsbündnis zur staatsbürgerlichen Raison werden. Die Folgen dessen würden über den Wahltag hinausreichen. Schließlich hätte Schwarz-Grün nicht mal ansatzweise eine Mehrheit im Bundesrat, wohl aber würden die grünen Landesminister ihre SPD-Koalitionspartner zur Kooperation drängen, während die grünen Bundesminister aus dem arithmetisch notwendigen Bündnis ein politisch gewolltes formen. Das wiederum würde der SPD die Handlungsoptionen für die Zeit nach 2017 zusätzlich erschweren. Und das erklärt, warum der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nun dazu übergangen ist, die Grünen schon mal vorab des Verrats zu bezichtigen. Wissend, dass machtpolitisches Handeln schlecht beleumundet ist, versucht die SPD den Grünen den gleichen Eiertanz abzuverlangen, den sie selbst aufführt.

Stephan Klecha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.