Himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt

[präsentiert]: Stine Marg über einige Bücher zum Thema Bürgerprotest in der Bundesrepublik.

Seit dem heißen Stuttgarter Sommer des Jahres 2010 meint man, dass in Deutschland Proteste aller Art zugenommen hätten. Einige gehen sogar noch weiter und sprechen von einer neuen „Protestbewegung“, die seit zwei Jahren die vormals friedliche Bundesrepublik überrolle und teilweise sogar den demokratischen Grundkonsens in Frage stelle. Nun sind nicht nur die Beteiligten der Proteste gegen Fluglärm und Bahnhofsumbau, die Demonstranten gegen Zensur und für Freiheit im Internet, die Camper, die auf die Fehlentwicklung im Finanzsystem hinweisen, oder die Anwohner, die sich gegen den Bau von Stromtrassen und Windräder wehren, bilden ein höchst heterogenes Feld. Auch die Formen dieser „neuen Bürgerproteste“ sind mindestens ebenso vielfältig und reichen von den klassischen Demonstrationen und Petitionen über das Lahmlegen von Internetseiten bis hin zu zahlenmäßig kleinen Bürgerinitiativen, die medial sehr gut auf sich und ihre Anliegen aufmerksam zu machen wissen.

Und beinahe genauso grundverschieden wie die „Widerständler“ und ihre Ausdrucksformen ist auch die Literatur zu diesem Thema. Da gibt es zum einen die Bücher, die sich den neuen Protesten dokumentarisch nähern. In diese Kategorie kann man „Stuttgart 21. Die Argumente“ (herausgegeben von Wolfgang Schorlau) zählen, ebenso „Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen“ von dem Autorentrio Hannes Koch, Bernhard Pötter und Peter Unfried. Nicht unberücksichtigt bleiben sollte auch der neue Band aus dem Düsseldorfer Forum für Politische Kommunikation mit dem Titel „Bürgerproteste im Spannungsfeld von Politik und Medien“ und schließlich „We are Anonymous. Die Maske des Protests. Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wollen“ von Ole Reißmann, Christian Stöcker und Konrad Lischka.

All diese Autoren beschreiben die Szene, versuchen sich an einer Bestandsaufnahme, wollen dem Leser die Fakten vorlegen. Oft sind diese Bücher mit Zeitleisten, Begriffsglossaren oder Grafiken angereichert. Jedoch darf man sich von diesen Sachbüchern nicht unbedingt immer eine ausgewogene und nüchterne Analyse versprechen. „Stuttgart 21. Die Argumente“ trägt lediglich die Erklärungen der Tiefbahnhofsgegner zusammen und den Autoren von „We are Anonymous“ merkt man die Affinität zum Thema und ihre Begeisterung für diese diffuse Bewegung auf jeder Seite an – was, zugegeben, der Lesefreude keinen Abbruch tut. Das Problem dieser „Sachbücher“ ist jedoch ein anderes: Oft erfährt man – gerade wenn man die Thematik aufmerksam in der medialen Berichterstattung verfolgt – wenig Neues, da sich die Monographien häufig als Bündelungen bereits an anderer Stelle veröffentlichter journalistischer Arbeiten entpuppen. Und ob sie sich als eine Art Nachschlagewerk zu den jeweiligen Protestbewegungen als nützlich erweisen, ist angesichts der derzeitigen Fluidität ihres Gegenstandes ebenso fraglich.

Daneben gibt es eine zweite Gruppe von Büchern, die sich dem Thema Bürgerproteste widmen. Die Autoren dieser Kategorie hingegen sind weniger sachlich. Sie blasen in dasselbe Horn wie Dirk Kurbjuweit, der mit seinem Essay „Der Wutbürger“ eine Definitionsrichtung vorgegeben hat: „Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.“ Rainer Knauber mit seinem Buch „Wege zu einem Konsens für Fortschritt“ sowie Gerhard Matzig unter dem Titel „Einfach nur Dagegen. Wie wir unseren Kindern die Zukunft verbauen“ füllen diese Beschreibung des wütenden Bürgers mit der Komponente der Fortschrittsverweigerung auf. Die überwiegend älteren derzeit in der Öffentlichkeit sichtbaren Protestler würden schon aus Bequemlichkeit dazu neigen, das Gegenwärtige zu bewahren, Besitzstände zu verteidigen und Zukunftsprojekte zu verhindern. Matzig und Knauber liefern auch gleich eine Begründung für diese Entwicklung: „Warum ist das so? Weil dieser Gesellschaft der einigende Glaube an ein besseres Morgen abhandengekommen ist, weil der Futurismus, der vor einem Jahrhundert ausgerufen wurde, dazu die große Technikeuphorie und mancher Fortschrittswahn um des Fortschritts willen in ebendiesem Jahrhundert auch gründlich erschüttert wurde“ (S. 49), schreibt beispielsweise Matzig. Es seien also einerseits die Angst vor der Veränderung und der Wunsch nach Entschleunigung, welche die Menschen zum Protest trieben, und andererseits Technikfeindlichkeit gepaart mit einem überzogenen „gefühlten Risiko“, das wiederum durch neue Technologien oder Großprojekte ausgelöst werde. All das lasse die Bürger zu „Verhinderern“ werden, die auf diese Weise die Zukunft unseres Landes verspielen. Während also die Protestdokumentationen eher eine binnenzentrierte Perspektive einnehmen, versuchen Knauber und Matzig das Phänomen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen und vor den Konsequenzen zu warnen.

Über die Metaebene schreiben auch diejenigen, die in den Protesten ein Synonym für den gestiegenen Wunsch nach mehr Partizipation und Mitbestimmung erkennen. Und eben dieses Partizipationsbegehren wird in den Büchern von Roland Roth („Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation“), Claus Leggewie („Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie“) und Heribert Prantl („Wir sind viele. Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus“) positiv aufgenommen. Gleichzeitig sehen die Autoren in diesen Partizipationsbegehren eine die repräsentative Demokratie bereichernde Form, postulieren deren Vorzüge und beschreiben die „Mitgestaltung“ als leuchtenden Weg in die Zukunft. Dieser Standpunkt ist natürlich nicht weniger normativ und einseitig als der von Knauber und Matzig.

Ebenso könnte man das Buch von Christoph Giesa (und Joachim Gauck) lesen mit dem Titel „Bürger. Macht. Politik“. Hier werden nicht nur die Mitbestimmung und Beteiligung als Allheilmittel für die Parteien- und Politikerverdrossenheit gepriesen, sondern zum intensiven Mitmachen, zum Sich-Einbringen, zur „Politikgestaltung“ aufgerufen. Und auch diejenigen, die die „Bürgerproteste“ nicht als Gefahr, sondern als Chance für die Gesellschaft begreifen, bieten Erklärungsansätze für die Entstehung einer vermeintlich neuen Protestkultur. Weil Protestbewegungen im Allgemeinen und der Protest gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs im Besonderen – im Gegensatz zum routinierten politischen Handeln – die Bürger emotional ansprächen und ihre Leidenschaft weckten, sei eine derartige Mobilisierung möglich gewesen, so Leggewie und Roth. Und genau diese Bereitschaft, etwas zu tun, müsse aufrechterhalten und gefördert werden.

Auf einer etwas analytischeren Ebene bewegen sich Thymian Bussemer mit „Die erregte Republik. Zwischen Wutbürgern und Stimmungsdemokratie“ sowie Annette Ohme-Reinicke in „Das große Unbehagen. Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21: Aufbruch zu neuem bürgerlichen Selbstbewusstsein“. Jedoch bleibt Ohme-Reinicke in weiten Teilen an der Oberfläche, indem sie die Verhältnisse in Stuttgart aus der historischen Perspektive zwar sehr ausführlich, aber eben nur nacherzählend darlegt. Die Einstreuungen über „sozialdemokratische Fortschrittsgläubigkeit“, Neurasthenie und „zivilen Ungehorsam“ wirken dabei ebenso kontextlos wie die sozialpsychologischen Deutungen. Demgegenüber gelingt es Bussemer, das Phänomen des sich wehrenden Staatsbürgers in einen größeren Rahmen zu stellen. Für ihn ist die „Diskurssetzungsmacht“ der Medien eine der zentralen Ursachen für die Politikverdrossenheit, die sich auch in der Zunahme der Bürgerproteste äußere. Um der Mediendemokratie, die durch Personalisierung, Inszenierung und Beschleunigung gekennzeichnet ist, etwas entgegenzustellen, wünscht sich Bussemer einen politisch interessierten Bürger, der nicht wütend, sondern überlegend und abwägend am politischen Geschehen Anteil nimmt.

Zunächst einmal ist es erfreulich, dass ein relativ aktuelles gesellschaftliches Phänomen eine derart große Resonanz auf dem Büchermarkt ausgelöst hat. Das zeigt nicht nur die Relevanz der Thematik, sondern auch, dass sich viele Menschen über den Zustand unserer politischen Kultur Gedanken machen und in der Lage sind, gemeinsam mit den Verlagen, dies auch recht zügig einem breiten Publikum zu präsentieren. Dabei müssen die Autoren aber mit dem Problem kämpfen, ein sich im Fluss befindliches Gebilde einzufangen und es in ihren Schreibstuben zu sezieren, während sich zugleich der Protest auf den Marktplätzen oder Datenautobahnen fortsetzt und weiterentwickelt.

Gleichzeitig – und das ist kein neues Phänomen bezüglich der Literatur über soziale Bewegungen insgesamt – sind viele der auf diesem Feld agierenden Autoren selbst Teilnehmer, Sympathisanten oder wohlwollende Zuschauer ihres Untersuchungsgegenstandes. Diese Nähe muss für den Leser nicht immer zum Nachteil sein, sondern offenbart vielmehr tiefe Einblicke in das Innenleben der Bewegung. Eine ausgewogene Analyse und ein vorurteilsloses Abwägen der Argumente sollte man dann allerdings nicht unbedingt erwarten.

Was alle hier vorgestellten Bücher eint, ist die zentrale Rolle der Medien für die „Bürgerproteste“. Der Printjournalist, der Videoblogger, der Magazinautor und der Internetredakteur gelten allen als Verstärker, Transmissionsriemen und mitunter sogar als Initialzünder für größere Aktionen innerhalb der neuen „Bürgerproteste“.

Und noch ein weiterer Aspekt verbindet die Literatur zu diesem Komplex: Sie ist impressionistisch und lässt sich vom Gegenstand leiten. Was nun an ihre Stelle treten sollte sind weiterführende Studien, eingehende Untersuchungen und kategoriengesättigte Zugriffe, um herauszufinden, was wirklich „neu“ an den „Bürgerprotesten“ ist, ob das Phänomen tatsächlich mit den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 gesellschaftlich virulent wurde oder ob auch das nur eine medial inszenierte Deutung ist. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es etwa mit früheren Protestbewegungen aus historischer Sicht? Eines ist jedenfalls deutlich: Die Wortfindungen von „Wut“- bis „Mutbürger“, von „Bürgerprotesten“ bis „Aufstand des Bürgertums“ zeigen, dass die Kategorien des „Bürgers“ und des „Bürgertums“ unsicher geworden sind und an normierender und bindender Wirkung verloren haben. Daher ist das Nachdenken über den „Bürger“ auch als Ausdruck einer Wandlung der demokratischen und repräsentativen Aushandlungsprozesse zu verstehen.

Stine Marg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Bücherschau zu:

  • Simon Appenzeller / Felix Flemming / Lena Küpper (Hg.): Bürgerproteste im Spannungsfeld von Politik und Medien, Frank & Timme 2012.
  • Thymian Bussemer: Die erregte Republik: Wutbürger und die Macht der Medien, Klett-Cotta 2011.
  • Christoph Giesa: Bürger. Macht. Politik, Campus Verlag 2011.
  • Rainer Knauber: Wege zu einem Konsens für Fortschritt, Vorwärts Buch 2011.
  • Hannes Koch / Bernhard Pötter / Peter Unfried: Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfe, Westend 2012.
  • Claus Leggewie: Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie, Edition Körber Stiftung 2011.
  • Gerhard Matzig: Einfach nur dagegen. Wie wir unseren Kindern die Zukunft verbauen, Goldmann 2011.
  • Annette Ohme-Reinicke: Das große Unbehagen. Die Protestbewegung gegen »Stuttgart 21«: Aufbruch zu einem neuen bürgerlichen Selbstbewusstsein, Schmetterling Verlag 2012.
  • Ole Reißmann / Christian Stöcker / Konrad Lischka: We are Anonymous. Die Maske des Protests. Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wollen, Goldmann Verlag 2012.
  • Roland Roth: Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation, Edition Körber Stiftung 2010.
  • Wolfgang Schorlau (Hg.): Stuttgart 21. Die Argumente, Kiepenheuer & Witsch 2010.