[Göttinger Köpfe]: Jens Gmeiner über den Pfarrer Karl Barth
Wirklich wohlwollend äußerte sich Karl Barth nicht über seine deutschen Professorenkollegen in Göttingen, als er im Jahre 1921 einen Lehrstuhl an der hiesigen theologischen Fakultät annahm. Zu konservativ und nationalistisch schien dem Schweizer Theologen und Sozialdemokraten Barth die Professorenschaft, deren Angehörige seinen Angaben nach „noch alle auf Schwarz-Weiß-Rot schworen und auf den Kaiser und auch auf Bismarck usf. – Ja, da blieb mir nichts übrig, als mich jetzt eben auch wieder links zu stellen“. Karl Barth lehrte zwar nur vier Jahre, von 1921-1925, in Göttingen; aber auch während seiner Göttinger Zeit schwamm Barth, wie in seinem ganzen Leben, gegen den Strom der Zeit, predigte und agierte gegen den politischen Konservatismus, hinterfragte kritisch die herrschenden Maximen der Theologie und Politik.
Karl Barths Leben und Wirken war und ist für viele noch immer eine intellektuelle Herausforderung, für manche wohl auch eine Zumutung, weil er früh schockierte, aufrüttelte und politische sowie theologische Themen neu durchdachte. Sein Kommentar zum Römerbrief, der im Jahr 1917 fertiggestellt wurde, schaffte all das. Das Werk polarisierte und trennte theologisch Christus und das Reich Gottes von allen menschlichen Ideologien und Entwürfen. Barth begründet damit die „Wort-Gottes-Theologie“. Zuallererst war Karl Barth Theologe und dann Politiker, weil er seine politischen Prinzipien aus der Mitte des Evangeliums – von Jesus Christus – ableitete: „Genosse Pfarrer“, nannten ihn die Gemeindemitglieder seiner ersten Pfarramtsstelle im Aargau im Norden der Schweiz. Später dann bezeichneten ihn manche evangelische Kreise aufgrund seiner theologischen Gesamtleistung als „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“. Und wahrlich ist das 20. Jahrhundert ohne das intellektuelle und moralische Wirken dieses Politikers und Theologen nicht denkbar.
Geboren wird Karl Barth am 10. Mai 1886 in Basel als Sohn eines evangelisch-reformierten Theologen und Pfarrers. Der junge Barth wächst in Bern auf, da sein Vater dort als Dozent an der Universität Dogmatik lehrt. Für die Schule kann sich Karl Barth nicht wirklich begeistern, was auch in seiner Rede anlässlich seines Abiturs Thema ist. Barth nimmt schon in jungen Jahren kein Blatt vor den Mund und fordert während seiner Studienzeit in Bern von seiner Studentenverbindung „Zofingia“ soziales Engagement für die Schwächsten der Gesellschaft. Zugleich lernt er aufgrund mehrfacher Studienwechsel – unter anderem nach Berlin, Tübingen und Marburg – alle vorherrschenden theologischen Richtungen kennen und trifft auf die profiliertesten Vertreter dieser Schulen. In Berlin stößt Barth auf den berühmten Adolf von Harnack, in Tübingen auf Adolf Schlatter und in Marburg, der damaligen Hochburg der liberalen Theologie, auf Wilhelm Hermann. Dieser sollte neben Rudolf Bultmann, wohl einer seiner bekanntesten Schüler, auch Karl Barth in dessen theologischem Denken prägen.
Nach seinem Examen wird Barth 1909 Vikar und dann Hilfsgeistlicher in einer deutschsprachigen Gemeinde in Genf. Ab 1911 übernimmt Barth ein Pfarramt in der Bauern- und Arbeitergemeinde Safenwil. Es beginnt eine schwere und zugleich prägende Zeit für den jungen Pfarrer. Barth eckt bei den Fabrikanten im Ort an, weil er die Konfirmandenstunden erhöht, obwohl die jungen Konfirmanden nach Ansicht mancher Fabrikbetreiber lieber arbeiten sollten. Nebenbei hält Barth Vorträge im Arbeiterverein und gründet eine Gewerkschaft, um den Arbeitern eine geeinte Stimme zu geben. 1915 tritt Barth dann der Schweizer Sozialdemokratie bei – zu dieser Zeit ein unglaublicher Schritt in der ländlichen Bauerngemeinde im Aargau, wo der Eintritt in die Sozialdemokratie einer Revolution gleich kommt. Karl Barth vollzieht diesen Schritt gerade deshalb, weil er an der Haltung der europäischen Sozialdemokratie zum Ersten Weltkrieg zweifelt. Er zeigt sich jetzt – und das ist charakteristisch für Barth – in ihrer dunkelsten Stunde solidarisch mit der Partei. Und er tut es im Glauben daran, dass seine ehemaligen theologischen Lehrer, die er einst bewunderte, mit ihrer Unterstützung der Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. falsch liegen. An diesem „ethischen Versagen“ wird evident, so urteilt Barth damals, „dass auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten“.
Barth begehrt in der Folgezeit des Ersten Weltkrieges nicht nur gegen die politischen Entwicklungen auf, sondern begeht auch theologisch völlig neue Wege. Den Römerbrief des Paulus legt er auf Basis seiner „Wort-Gottes-Theologie“ aus, die ein Erkennen Gottes auf menschlichen, rationalen Erkenntnissen ablehnt. „Gott ist Gott“ oder noch genauer „Gott definiert sich selbst“ werden zu Schlagworten dieser theologischen Richtung. Nicht mehr das Selbstbewusstsein des Menschen und seine Vorstellungen von Gott stehen demnach im Zentrum der Barth’schen Exegese, sondern die Gottheit Gottes. Mit seinem Kommentar zum Römerbrief vollzieht Barth erneut, nun aber theologisch, einen radikalen Bruch mit den religiös-liberalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts.
1921 erhält dann der Arbeiterpfarrer Barth, ohne jemals promoviert oder habilitiert zu haben, einen Ruf an den neu eingerichteten Lehrstuhl für reformatorische Theologie in Göttingen. Und auch hier eckt Barth an. Als evangelisch-reformierter Theologe und Sozialdemokrat muss er sich nicht nur gegen die nationalistischen Nachwehen in der Göttinger Professorenschaft behaupten, sondern auch gegen die lutherische Omnipräsenz in der Universitätsstadt. Spöttisch bezeichnet ihn die akademische Elite aufgrund seines fehlenden universitären Stallgeruchs als „Herr Pfarrer“. Mit Nachdruck arbeitet sich der „ewige Student“ Barth daher akribisch in theologische Fragestellungen ein, meist bis spät in die Nacht, und versucht, die reformierten Bekenntnisschriften sowie Reformatoren seiner Heimat, Calvin und Zwingli, an die lutherischen Studierenden zu bringen. Er wohnt in Göttingen im Nikolausberger Weg 66 und hat keinen geringeren als den liberal-sozialistischen Philosophen Leonard Nelson zum Nachbarn. Die Zeit in Göttingen sollte Barth später als eine intellektuell und menschlich anregende Periode bezeichnen, die seine theologische Forschung und Lehre gefördert habe: „Was ich in Safenwil entbehrte, die Rede und Gegenrede nicht nur mit Büchern, sondern mit Menschen, das habe ich nun in Göttingen in Fülle“ vorgefunden.
Gleichwohl endet seine Lehrtätigkeit in Göttingen bereits nach vier Jahren und Barth nimmt einen Ruf nach Münster für Dogmatik und neutestamentliche Exegese an. Während seiner Zeit in Münster erhält Karl Barth 1926 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Wiederum vier Jahre später wechselt Barth an die Universität Bonn. Dort umgibt ihn eine große Schülerschar, zu der unter anderem auch der Theologe und Sozialist Helmut Gollwitzer gehört. Aus Protest gegen die fortwährende Nationalisierung und Radikalisierung in der deutschen Politik tritt Barth 1931 auch in die SPD ein. Gerade jetzt muss er gegen den braunen Terror wieder seine Stimme erheben. Eine Stimme, die in der nationalsozialistischen Euphorie unterzugehen droht.
Persönlich führt Karl Barth schon damals ein völlig unkonventionelles Leben. Obwohl er seit 1913 mit Nelly verheiratet ist und mit ihr fünf Kinder bekommen hat, lernt er 1924 Charlotte (Lollo) von Kirschbaum kennen und schätzen. Die junge Frau begleitet ihn nach Münster, arbeitet sich schnell in theologische Fragestellungen ein und wird eine unerlässliche persönliche und intellektuelle Stütze für ihn. Er führt eine Art offene Dreiecksbeziehung mit seiner Frau und Lollo, die bald beim Ehepaar Barth einzieht. Wieder schwimmt auch hier Barth gegen den Strom der Zeit, muss speziell als Theologe Anfeindungen und Kritik ertragen, auch wenn er weiterhin am Ideal und der Ausschließlichkeit der Ehe festhält – dieses Ideal für sich aber als nicht umsetzbar ansieht.
Die Zeit in Bonn sollte den Theologen und Politiker Barth abermals vor schwere Herausforderungen stellen. Der Kirchenkampf und der Widerstand in der evangelischen Kirche gegen den Nationalsozialismus hatten begonnen. Barth engagiert sich zusammen mit Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer in der „Bekennenden Kirche“ und ist Mitverfasser der sechs Barmer Thesen. Darin heißt es: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Schon früh warnt Barth davor, die politischen Irrlehren der Nationalsozialisten und deren „Führer“ Adolf Hitler als Ersatzgötter anzubeten. Vergeblich plädiert er für ein brüderliches Verhältnis zwischen Juden und Christen. Im Sommer 1935 wird seine Lehrtätigkeit in Deutschland unvermittelt beendet, die einst in Göttingen begonnen hatte. Als unbequemer und eigenständiger Geist war Karl Barth im „gleichgeschalteten“ Nazi-Deutschland nun zur Persona non grata geworden.
So kehrt er schließlich zurück nach Basel und lehrt dort weiter außerplanmäßig an der Universität. Ab 1938 darf Barth in Deutschland nicht mehr publizieren und ein Verbot seiner Schriften tritt in Kraft. Nichtsdestotrotz kämpft er auch in der neutralen Schweiz aktiv gegen den Nationalsozialismus, was in seinem Heimatland nicht überall gut ankommt. Seinem Credo bleibt er dennoch treu: „Es gibt Freiheit nur, wo sie und indem sie gelebt wird“. Auch in der Nachkriegszeit schwimmt Karl Barth erneut gegen den Strom der Zeit. Er ruft zur Solidarität mit den besiegten Deutschen auf und ist erschüttert von der Zerstörungswut des Zweiten Weltkrieges, die manchem seiner früheren Schüler das Leben kostete. Barth reist gerade jetzt wieder nach Bonn, in die Stadt seiner Vertreibung, um dort zwei Semester als Gastdozent beim „geistigen“ Aufbau eines neuen Deutschland zu helfen. Zudem engagiert er sich in der aufkommenden ökumenischen Bewegung und versucht, zwischen den Blockparteien zu vermitteln. Der wiedererlangte Friede müsse mit aller Aufopferung gesichert werden, so war er überzeugt. Daher stellt sich Barth auch gegen die Aufrüstungspläne der Adenauer-Regierung.
Der Theologe und Politiker Barth wird weltweit geachtet und geschätzt, sein Wort hat internationales Gewicht, gerade weil er provoziert, aufrüttelt und gegen die „alternativlosen Wahrheiten“ beider politischer Blöcke agiert, gegen alle Widerstände der Zeit. Wer heute in Göttingen Theologie studiert, wird nicht am Lehrstuhl für reformatorische Theologie vorbeikommen, der erstmals von Karl Barth besetzt wurde. Zudem befindet sich in Göttingen seit dem Jahr 1986 die Karl-Barth-Forschungsstelle, die sich zum Ziel gesetzt hat, bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Gesamtausgabe von Karl Barths Werken zu helfen. Neben seiner theologischen Gesamtleistung, aus der besonders die „Kirchliche Dogmatik“ herausragt, war Barth aber vor allem ein kritischer und hochpolitischer Geist. Er schwebe, wie Barth es einmal sinngemäß formulierte, als Theologe nicht über der Erde, sondern stehe fest auf ihr mit all den politischen und gesellschaftlichen Fragen, die sich daraus ergeben würden.
Jens Gmeiner ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.