Von Frustration keine Spur

[präsentiert]: Johanna Klatt über unser Projekt „Kinderdemokratie“, das aktuelle Forschung mit demokratiepolitischer Frühförderung verbindet.

Eine Horde Achtjähriger zieht, mit bunten Schildern bewaffnet, skandierend die Treppen unseres Forschungsinstituts hinauf: »Wir wollen die Umgehungsstraße! Ja, zur Umgehungsstraße!« Von Trillerpfeifen und lautem Lachen begleitetes Stampfen kleiner Kinderturnschuhe hallt durch die Büroräume. Natürlich ist den vom Protestlärm der Kinder überrumpelten Mitarbeiter/innen bewusst: Die politische Partizipation hat sich hierzulande von den Parteien weg und hin auf die Straße verlagert.[1] Aber dass sich diese neue politische Beteiligung nun zwischen den eigenen vier Bürowänden abspielt und es sich bei den Protagonisten noch dazu um Grundschüler/innen handelt, überrascht den ein oder anderen dann doch. Was hat es also mit dieser Kleindemonstration auf sich?

Seit nunmehr zwei Jahren widmet sich das Göttinger Institut für Demokratieforschung mit dem Projekt Kinderdemokratie der Vermittlung und Erforschung von Demokratie im Grundschulalter. Gefördert von der Friede-Springer-Stiftung und unter der Schirmherrschaft der Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg entdecken die jungen Teilnehmer/innen demokratisches und ziviles politisches »Streiten« und – mit Demonstrationen und Bürgerinitiativen – verschiedene Varianten politischer Partizipation. Die Legitimität und Akzeptanz andersgearteter Meinungen und Interessen sollen trainiert und Politik bereits in jungen Jahren nahe gebracht werden.

Elementarer Bestandteil dieses umfassenden Projektes ist ein angeleitetes Planspiel mit eingebautem Konfliktszenario: Im fiktiven Örtchen »Felddorf« steht eine Umgehungsstraße zur Debatte. Die einen (beispielsweise Umweltaktivisten/innen und im Umland ansässige Bauern/Bäuerinnen) plädieren dagegen; die Unternehmer/innen der Innenstadt hingegen dafür. Und so erhitzen sich im politischen Spiel die Gemüter der Interessengruppen: Auf dem »Marktplatz« wird angeregt diskutiert, in der Sitzung des »Gemeinderats« aufgeregt der eigene Standpunkt vorgetragen. Kein Problem, wenn dabei noch schnell eine Getränkekiste hinter das Rednerpult geschoben werden muss, damit das Kinn bis zum Mikrofon reicht. Der Hingabe der hier versammelten kleinen Staatsbürger tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Begriffe wie Politik, Parteien oder Parlament beispielsweise, die bei vielen Erwachsenen eine reflexartige Abkehr vom Thema erzeugen, werden von den Kindern mit ungemeiner Verve durch den Raum geschleudert. Der ein oder andere Schüler überrascht gar durch eine selbstbewusste Rede, mit der er vor den versammelten »Ratsmitgliedern« seine Gruppe vertritt. Seine Lehrerin erkennt den im Unterricht eher stillen, jungen Mann kaum wieder.

Politik und Demokratie scheinen in diesem Alter (noch) Spaß zu machen. Daher fragt man sich zwischendurch, wer hier von wem lernen sollte: der (politisch häufig »frustrierte«) Erwachsene vom Kind – oder umgekehrt. Denn gerade die am Planspiel teilnehmenden Politikwissenschaftler/innen, die bereits die Gelegenheit hatten, Testgruppengespräche mit Erwachsenen zum Themenkomplex »Politik und Demokratie« durchzuführen, bemerken einen wichtigen Unterschied und Wandel im Lebensverlauf. Während sich junge Bürger/innen der institutionellen Politik noch offen und neugierig nähern, tritt spätestens im Jugendalter eine Skepsis ein, die vielfach in starke Frustration – mit der Politik und insbesondere ihren Vertreter/innen – mündet.

Womöglich ist es dann bereits zu spät, die grundlegenden Probleme und Defizite demokratischer Prozesse zu erklären. Vor allem solche der Aushandlung und Beteiligung sind häufig zeitraubend und langweilig, anstrengend und enttäuschend – auch diese Einsichten machen die jungen Teilnehmer/innen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bereitet das Projektteam die teilnehmenden Klassen eingehend auf das Planspiel vor und später auch nach. Durch gemeinsam mit Pädagog/innen und Lehrkräften entwickelte Spiele und Gesprächsrunden wird somit ein Zusammenhang zwischen den dargestellten Konflikten in »Felddorf« einerseits und den Institutionen der Demokratie andererseits geknüpft. So werden die eigenen Erfahrungen im Schulalltag und zu Hause mit Theorien demokratischer Beteiligung verbunden.

Demokratiepolitische Frühförderung ist kein »Kinderkram«

In den Räumlichkeiten des Göttinger Demokratieinstituts sowie in verschiedenen städtischen wie ländlichen Grundschulen führen in den folgenden Projektjahren Forscher des Demokratieinstituts das Felddorfszenario durch. Diese (zunächst nur) punktuelle Erfahrung flankiert die enge Zusammenarbeit mit engagierten Lehrer/innen, die durch die Themenbausteine rund um »Politik und Beteiligung« schließlich nachhaltig in den Lehrplan und die Klasse einfließen sollen. Parallel zu diesem politisch didaktischen Element hat sich die Göttinger Kinderdemokratie die qualitative Erforschung der Ansichten und Meinungen von Kindern im Grundschulalter rund um das Thema Demokratie zum Ziel gesetzt. Hierbei soll etwa ergründet werden, wie sich bei sehr jungen Bürger/innen Vorstellungen vom demokratischen und zivilen Streiten, von Regeln und Gesetzen, von Politik und Parteien ausbilden und wie Kinder die Unterschiedlichkeit von Meinungen wahrnehmen. Wie werden sie dabei in ihrem Klassenzimmer, auf dem Pausenhof und durch den Dialog mit den Eltern am Frühstückstisch geprägt?

Dass man sich auf diese Weise den – durchaus vorhandenen – Ansichten junger Bürger/innen nähert, ist neu. Denn ihre Perspektive gehört zum bedauerlichen Desiderat der forschenden Politikwissenschaft. Von der bahnbrechenden Studie »Demokratie leben lernen« [2] vielleicht einmal abgesehen, stößt man auf diesem Gebiet auf keine nennenswerten Forschungsleistungen. Viele Politikwissenschaftler/innen scheuen offenbar davor zurück, mit diesem vermeintlichen »Kinderkram« [3] in Berührung zu kommen. Es überwiegt die Einschätzung, die Forschung müsse erst einen Blick auf die Bürger/innen werfen, sobald diese die Pubertät hinter sich gelassen haben und am besten auch noch wahlberechtigt sind. Seit den 1970er Jahren standen ausschließlich Jugendliche im Zentrum des Forschungsinteresses, beklagt Simone Abendschön [4], und dies obwohl es inzwischen deutliche Hinweise darauf gibt, dass sogar quantitative und standardisierte Befragungen etwa mit Grundschulkindern zu plausiblen Erkenntnissen führen können [5].

Dabei stößt man bei näherem Hinsehen auf etliche Berührungspunkte für die politikwissenschaftliche Gegenwartsforschung auf der einen und die demokratische Frühförderung auf der anderen Seite. Nehmen wir das Beispiel der Bedeutsamkeit von Konfliktaustragung und Interessenaushandlung für die demokratische Früherziehung: Jeder, der schon einmal versucht hat, zwei um einen Teddy miteinander ringende Kinder zu trennen, weiß, dass es einen Unterschied zwischen gleichen und gemeinsamen Interessen geben kann. Beide Kinder wollen den Teddy, darin gleicht sich das kindliche Anliegen. Es gibt jedoch, möchte man dem Bären keinen Schaden zufügen, keine wirklich gemeinsame Lösung für das Problem. Zugegeben, wäre das Objekt der Begierde kein bäriger Teddy, sondern ein Schokoladenriegel, fände sich eine gemeinsame Lösung. Das Problem ließe sich mit dem Brotmesser lösen und beide streitenden Parteien wären mit je einem halben Riegel schnell zufriedengestellt.

Doch nicht immer, so betont es unter anderem die politische Theorie, lassen sich gleiche Interessen miteinander versöhnen und eine gemeinsame Lösung finden. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Politikwissenschaft mit dem Vorhandensein verschiedener – zum Teil unvereinbarer – Interessen, mit Konfliktlinien zwischen Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, Stadt- und Dorfbewohnern beispielsweise, die zur Ausbildung von mehr oder weniger festgeformten Lagern entlang der Grundsatzentscheidungen führen können [6]. In der Fachliteratur fänden sich etliche weitere Beispiele für Analysen von Konflikthaftigkeit und »Streit«.

Politische Streitkultur muss rekultiviert werden

So trivial die Stofftieranalogie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, weist sie doch auf ein für demokratische Gesellschaften entscheidendes Element hin: den Streit. Dieser muss sich – daran denkt man als Beobachter einer solchen Situation vielleicht als erstes – zivil und ohne Handgreiflichkeiten abspielen. Zu einer demokratischen Streitkultur gehört jedoch noch mehr. Es muss Ansichten, Interessen, vielleicht auch Ideologien geben, die sich voneinander unterscheiden. Nur so kann der Souverän in freien Wahlen eine individuelle Entscheidung zwischen miteinander konkurrierenden Politikvorstellungen treffen. Eine gesunde Meinungsvielfalt sowie der Respekt und die Anerkennung für die Ansichten Anderer werden im Idealfall nicht nur in jedem Kinder- oder Klassenzimmer unterrichtet. Sie gehören auch zur »demokratiepolitischen Bildung« oder in den Worten von Karen O’Shea zur »Education for Democratic Citizenship«.

Dieses Beispiel zeigt, wie sich nicht nur die Politikdidaktik, sondern auch die tagesaktuelle politikwissenschaftliche Forschung mit der Bildungsarbeit junger Menschen verbinden lassen. Aktuell stellt beispielsweise fest, dass die bundesdeutsche Bevölkerung den demokratischen »Streit« nur selten explizit goutiert, dass hierzu, über die Wesentlichkeit der demokratischen Konflikthaftigkeit, sogar ein eklatantes politikdidaktisches Wissensdefizit in der Öffentlichkeit besteht. Denn im Gegenteil, in einer erfolgsorientierten Wissensgesellschaft gelten vielmehr Effizienz und Sachlichkeit als tragfähige Orientierungswerte [7]. Verbal politisch »gestritten« wird allerhöchstens noch in Talkshowrunden; und hier meist durch schauspielerische Darbietung zum Amüsement der zuschauenden Bevölkerung. Gerade in finanzpolitisch oder ökologisch verunsichernden Krisenzeiten orientiert man sich an sachlich und kompetent auftretenden Politikerinnen und Politikern, sehnt sich nach einem Wissenschaftler- oder Technokratentypus am Kopf des Staates [8]. Im Moment personifiziert diese rationale Versiertheit vielleicht am deutlichsten der Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière. Viel gestritten oder gar ideologisch gepoltert werden soll um eine politische Richtungsentscheidung eigentlich nicht (denn – so die Annahme – es gebe ja die »eine« sachlich-richtige Lösung). Ein Trugschluss, wie wir bereits eingangs am Bild des Teddybären gesehen haben. Eines der Kinder wird zumindest kurzzeitig auf ihn verzichten müssen – hier gibt es keine klare gemeinsame Lösung.

Ähnliches ließ sich kürzlich in der Welt der Erwachsenen, in Stuttgart, beobachten. Dort standen sich in ähnlich unversöhnlicher Weise zwei Lager gegenüber. Entweder man baut einen Bahnhof über- oder unterhalb der Grasnarbe – so lauteten verkürzt gesagt die kontrahierenden Ansätze. Auch hier gab es, trotz langwieriger sachlicher Verhandlungen, keine eindeutigen Kompromisse. Politik gleicht, wie man an diesen Beispielen sehen kann, mitunter einem Nullsummenspiel. Es hinterlässt trotz aller Kompromiss- und Beteiligungsmöglichkeiten eine Minderheit unbefriedigt. Umso wichtiger ist die zivile Streitkultur einer Gesellschaft, ohne die, so betont es Sybille Reinhardt ganz richtig, keine pluralistische Staatsform existieren kann. Die Konfliktfähigkeit sei sogar die wichtigste Kompetenz des Bürgers in der Demokratie, schließt die Politikdidaktikerin [9]. Und zu ihr gehört das Verständnis für den Sinn von Konflikten, die Akzeptanz eines mitunter langwährenden Streits um Meinungshoheit.

So ist es nicht nur Aufgabe der Politikwissenschaft, derartige Tendenzen und Stimmungen der politischen Kultur – wie etwa das Wissensdefizit über die Relevanz von Streit und Meinungspluralismus für eine Demokratie – aufzuspüren, sondern sie mit der politischen Bildungsarbeit in Kontakt zu bringen. Und dies insbesondere in Grundschulen und Kitas, wo sich – spätestens seitdem die internationalen Vergleichsstudien à la PISA oder TIMSS einen aufrüttelnden Stoß in die deutsche Bildungslandschaft gesandt haben – die Curricula der Kinder mit musikalischer Frühförderung, mit Chinesisch- und Spanisch-Kursen gefüllt haben. Warum sollte zu diesem Programm nicht auch die Ausbildung in »Demokratie« und in »demokratischen Fähigkeiten (democratic skills) gehören? Politikdidaktik und Demokratiepädagogik, aber gewiss auch die Politikwissenschaft muss hier eine maßgebliche Rolle spielen. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat sich, mit dem Projekt Kinderdemokratie, hierfür schon einmal ein mögliches Drehbuch besorgt.

Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Dieser Text erschien zuerst im eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 8/2012 vom 27.04.2012.

Mehr Informationen zum Projekt Kinderdemokratie finden Sie hier: Göttinger Kinder-Demokratie.

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Anmerkungen

[1] vgl. Rucht, Dieter (2010): Engagement im Wandel. Politische Partizipation in Deutschland, in: WZBrief Zivilengagement, Nr. 1, S. 1-7 (2) vgl. Hansen/ Knauer/Sturzenhecker 2011.

[2] vgl. Deth, Jan van/Abendschön, Simone/Rathke, Julia/Vollmar, Meike (2007): Kinder und Politik. Politische Einstel-lungen von jungen Kindern im ersten Grundschuljahr. Wiesbaden.

[3] ähnlich kritisch: Abendschön, Simone (2009): Die Anfänge demokratischer Bürgerschaft. Sozialisation politischer und demokra-tischer Werte und Normen im jungen Kindesalter, Mannheim, S. 359.

[4] vgl. ebd. S. 360.

[5] vgl. ebd. S. 358.

[6] vgl. Lipset, Seymour Martin/Rokkan, Stein (1967): Party systems and voter alignments: cross-national perspectives, New York [u. a.].

[7] Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt.

[8] vgl. Walter, Franz (2009): Charismatiker und Effizienzen: Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt,  S. 260 ff.

[9] Reinhardt, Sibylle (2005): Politik Didaktik. Praxishandbuch fürs die Sekundarstufe I und II, Berlin, S. 43