Grün und stets im Schritt der Zeit

[analysiert]: Franz Walter über das grüne Milieu.

Die Grünen (2): Die Ergebnisse der Studie in Sachsen

Mit umstürzlerischen Gesinnungen ist in der alternden bundesdeutschen Republik nicht zu rechnen. Und deshalb bilden die Grünen hierzulande gleichsam die repräsentative Mitte. Denn als stilles Motto setzte sich in der einstmals so radikalreformistisch lärmenden Künast-Trittin-Partei die „Berechenbarkeit“ durch und ersetzte so den basisdemokratischen Veränderungsfuror der Anfangsjahre. Viel wird nicht mehr gestritten in dieser Partei. Der maßvolle Auftritt ist Credo und Usus geworden. Ein bisschen zugespitzt formuliert: Die Grünen sind in die Fußstapfen der CDU getreten. Das „Ö“ der Ökologie hat das „C“ der Christdemokraten und der Christsozialen in der politischen Wirksamkeit ersetzt.

Das „C“ war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt deshalb so erfolgreich auf dem Wählermarkt, weil es auf der einen Seite im Drama des unmittelbaren Nach-Nationalsozialismus kongenial ankam – fast alle Deutschen gehörten noch einer christlichen Konfession an und das Bekenntnis zum „C“ verhalf zur seelischen Läuterung nach der Barbarei – und auf der anderen Seite hinreichend unbestimmt blieb, um sich nicht in den Alltags- und Interessenkämpfen zu diskreditieren. Mit der Ökologie ist es mittlerweile ähnlich. Für Natur, Umwelt, eben Bio sind irgendwie alle; und selbst wenn man als Grüne in der Regierung für drastische Sparprogramme und Sozialkürzungen eintritt, entspricht man ganz dem „Ö“, der „Ökologie“: Denn man hat sich durch öffentliche Sparsamkeit ja mustergültig für Nachhaltigkeit ausgesprochen. Das alles ist mit dem „S“ der Sozialdemokraten nicht zu erreichen, weshalb sie auch chronisch als Verräter ihrer Prinzipien in der Ecke stehen.

Schließlich hat der Naturbezug der Grünen auch in dieser Hinsicht die frühere Religiosität in der bundesdeutschen Gesellschaft abgelöst. Natur ist Sinnstifter. Und Natur gilt es zu bewahren, gegen Eingriffe zu verteidigen – alles genuin konservative Zielsetzungen also. Anders als die früheren konservativen Milieus lebt die Grünen-Sympathisantenschaft zwar überwiegend nicht mehr auf dem platten Land und im kleinen Dorf, sondern in den urbanen Siedlungsgebieten. Aber dort hat man sich gewissermaßen Dörfer im städtischen Umfeld errichtet, in denen es sich ruhig und sicher leben lässt, wo auch die besten Freunde in erreichbarer Nähe wohnen, wo sich die Geselligkeit im bekannten, überschaubaren Raum abspielt, kurz: wo alles angenehm vertraut ist. Allein für die Aura – man will schließlich kein Spießer sein – weist man auf den großstädtischen Übergang, auf die Vielfalt, Lebendigkeit und Unübersichtlichkeit hin, die punktuell zu ertragen indes allein in der Trutzburg des eigenen besserverdienenden Reviers gelingt.

Distinktion ist überhaupt ein wichtiges Elixier im Leben der grünen Anhängerschaft: Anders sein, sich abheben, unterscheiden – nicht zuletzt von den Schichten im unteren Drittel. Bezeichnenderweise und charakteristisch für die Grünen des Jahres 2012 ist, dass vieles davon auf dem Markt geschieht, über den Konsum realisiert wird. Natürlich wird auch das normativ veredelt, weil Konsum als Hebel für „Bewusstseinsveränderungen“ ausgegeben wird. In postmateriellen Lebenswelten kauft man Bio, während die Hartz-IV-Personenkreise im Lidl ihre Besorgungen erledigen. Eine wissenschaftliche Studie der beiden Forscher Nina Mazar und Chen-Bo Zhong, im Frühjahr in der Fachzeitschrift Psychological Science unter dem Titel „Do Green Products Make Us Better People?“ erschienen, brachte hervor, welche wenig wünschenswerten Folgen das haben kann. Kunden von Bioläden verhalten sich, so jedenfalls das Ergebnis der aufwendigen Untersuchung, im sonstigen Sozialleben keineswegs besser, altruistischer oder solidarischer als andere Konsumenten. Im Gegenteil: Sie benehmen sich, weil ihnen der Öko-Bio-Bonus das zu gestatten scheint, oft rücksichtsloser als der Rest. Und: Mit der Ehrlichkeit nimmt es die Öko-Klientel nicht sehr genau. Denn man hat zuvor durch den Einkauf ungespritzten Obstes ja gezeigt, dass man zu den besseren Menschen gehört. Jüngst hat eine Expertise aus der Loyola University in New Orleans den Befund bekräftigt. In der Studie des Psychologieprofessors Kendall Eskine zeigte sich, dass Testteilnehmer allein deshalb, weil sie zuvor Öko-Waren aus einem Bioladen zu Gesicht bekommen hatten, eine geringere Hilfsbereitschaft gegenüber Bedürftigen demonstrierten, sich gar besonders harsch ablehnend in Szene setzten.

Überhaupt: Die Anhängerschaft der Grünen lebte in den letzten Jahren unzweifelhaft in einer Art steter Selbsttäuschung. Seit längerem schon zeigen etliche Erhebungen, dass die postmaterialistischen Menschen der Republik im Grunde vollauf zufrieden waren mit den Verhältnissen, ihren eigenen gegenwärtigen Lebensumständen, den weiten Zukunftsaussichten für sie selbst. So zufrieden wie die grüne Klientel äußerte sich kein Milieu sonst in Deutschland.

Das konnte man ja auch nachvollziehen. Etliche waren verbeamtet. Das Einkommen war ordentlich und nicht selten besser. Die ausgeübten Berufe waren meist interessant und auch selbstbestimmt. Der durchschnittliche grüne Anhänger hatte wenig Grund zu klagen. Und er tat es auch nicht mehr. Blickte er zurück, distanzierte er sich ein wenig ironisch von den radikalen Flausen der 1980er Jahre, von den eigenen Flegeljahren des fundamentalistischen Protests. Aber er mochte das von anderen, gar Nachgeborenen keineswegs denunziert sehen. Damals, so pflegte er (oder natürlich auch und erst sie) dann trotzig zu sagen, hätte man wenigstens noch Ziele verfolgt, Ideale besessen, für eine Vision gekämpft. Jetzt aber – man geht schließlich auf die fünfzig und weiter zu – im fortgeschrittenen Alter, mit allerlei Zipperlein, sei man einfach gesetzter und ruhiger geworden.

Der Durchschnittsgrüne mochte es in den letzten 15 bis 20 Jahren nicht mehr so radikal, so extrem. Er hielt es lieber mit Maß und Vorsicht, was nach Roland Koch genuine Devise von Konservativen ist. Und die Grünen hatten sich dabei eine schöne legitimierende Erzählung zugelegt. Menschen neigen dazu, die eigene (oder auch fremde) Lebensgeschichte in ein kohärentes Narrativ zu kleiden, ihr so einen Sinn, einen inneren Zusammenhang, einen roten Faden zu geben. Das Leben als Entwicklungsroman. Entstehung, Werden, Kampf, schließlich Erfüllung als innere Einheit eines fortschreitenden Ganges durch die autobiographische Zeit. Auch die großen politischen Bewegungen kreierten sich durchweg solche Narrative. Das Vorbild waren die Geschichten der Missions- und Erlösungsreligionen, auch die Tradition des dramatischen Theaters. Vertrieben aus dem Paradies, aufgrund der Sündhaftigkeit einiger, sammelten sich die Berufenen, aber zugleich Geächteten, zogen unter Entbehrungen durch das dürre Land der Verfemung, kämpften sich, da ihnen Sterne und Offenbarungsbotschaft die Richtung wiesen, zum gelobten Land hindurch.

Ob bewusst oder nicht, jedenfalls: Die Grünen boten Anhängern und Wählern eine Geschichte ihrer selbst, die gleichsam nach den biblischen Motiven verlief und mehr und mehr als Geschichte auch der gesamten Republik erzählt wurde. Der Sündenfall: die Atomenergie. Die Propheten, die zur Umkehr aufriefen: Petra Kelly und andere. Die vielen Apostel: Bürgerinitiativen und Bunte Listen. Das Volk, das die Reise durch die Wüste der naturzerstörenden Profitwirtschaft antrat: Die Grünen. Das Kanaan: die Energiewende in einer Gesellschaft des „New Green Deal“.

Da man diese Geschichte in einer modernen Sprache vortrug, wirkte sie zeitgemäß und stieß auf Resonanz, zumal sich das Narrativ im Laufe der Jahre für zunächst abseits stehende Gruppen öffnete. Die große Erzählung der Grünen weitete den Resonanzraum in dem Maße, wie ihre Autoren sie zum Roman der Republik schlechthin fortschrieben. Mit den Grünen, mit der Generation der Alternativen und Postmaterialisten änderte sich, so der Tenor, die deutsche Republik, wurde zu dem, was mittlerweile die meisten Bürger als beglückend empfinden: Ihre Mitte ist modern statt spießig; der Adenauer- und Kohl-Mief scheint auf immer vertrieben zu sein; individuelle Entfaltung steht höher im Kurs als subalterne Disziplin. Kurz: Mit den Grünen wurde die deutsche Gesellschaft diskursiver, offener, toleranter, mit einem großen Herz für Minderheiten, mit frischer Neugierde auf fremde Kulturen, mit unverkrampfter Großzügigkeit gegenüber Lebensformen verschiedenster Art. Am Ende hatte man gar die anfänglichen, erbitterten Gegner zumindest halbwegs auf den Pfad der Bekehrung geführt, da auch die Christdemokraten ihr Frauen- und Familienbild korrigierten, Ganztagsschulen nicht mehr obstruierten, Krippen akzeptierten und sogar Atomkraftwerke abschalteten.

Wer eine solche Erzählung selbstbewusst in den Umlauf bringen kann, massenhaft Gehör und Zustimmung dafür findet, hat politisch so gut wie gewonnen. Denn das Narrativ ist eingängig, es verknüpft die Passagen und Stationen, selbst die Umwege des (politischen) Lebens zu einem stimmigen Plan organischer Weiter- und Höherentwicklung. Und es beansprucht Allgemeingültigkeit, ist – wie man früher in der Linken gesagt hätte – hegemonial. Gegen dieses Narrativ jedenfalls wirkt das über vier Jahrzehnte so zugkräftige Epos der CDU, Partei des christlichen Glaubens, des mittelständischen Fleißes, der Treue zur Heimat und Nation, der lebenslangen Ehe und redlichen Sparsamkeit sukzessive wie eine Verfallsbotschaft einer rapide schwindenden Sozialkultur. Zudem geriet diese christdemokratische Erzählung mehr und mehr in Widerspruch zur tatsächlichen Politik der Partei, die das Alte, ohne daran noch zu glauben, von Fall zu Fall weiter propagierte, da sie auf neue Begründungen ihres Tuns nicht zurückzugreifen vermochte, zumal sie ignorant versäumte, die Ökologie als konservativen Erzählstrang aufzunehmen und in eine moderne politische Semantik zu überführen.

Die Gelegenheit, welche die CDU ausließ, wurde zur Chance der Grünen. Sie eigneten sich das Narrativ des Fortschritts in der Traditionalität an, präsentierten sich als reflexiv konservative Wahrer von Natur und Gattung. Und so gewannen sie in den letzten beiden Jahren Menschen aus der überlieferten Bürgerlichkeit, gliederten sie in ihr Narrativ ein. Hierin zeigt sich die Kraft politisch-historischer Erzählung. Allerdings bergen all diese Erzählungen für im Wesentlichen auf Machterwerb und Wählerzuwachs ausgerichtete Parteien eine Achillesferse. Erzählungen solcher Art, die das Publikum beeindrucken und fesseln sollen, brauchen das leuchtende unbefleckte Gute, benötigen den reinen Mythos und verlangen nach Orten, die gleichsam heiliger Boden, das Feld erfolgreicher Schlachten, erbitterten Ringens gegen das Böse waren und fortlaufend so erinnert werden. Wenn die Autoren des Mythos sich selbst an ihm durch Verrat vergreifen, dann kann gar die Liebe der Anhänger und Adressaten in Hass umschlagen.

Doch mag es sein, dass die Grünen erneut in einem Häutungsprozess stecken. Soziologische Studien zeigen, dass die Menschen im mittleren Alter, so zwischen dreißig und fünfzig, sozial besonders integriert und angepasst sind, Sicherheit bevorzugen, vor Experimenten zurückschrecken. Eben das charakterisierte die Kernanhängerschaft der Grünen zuletzt. Nach diesem Lebensabschnitt aber, spätestens wenn man den 55. Geburtstag hinter sich hat, wird man nach Auskunft unserer soziologischen Forscher ein „junger Alter“. Dann aber, ohne die Bürde von Beruf und Kindern, beginnt eine neue Phase gesellschaftlicher Teilhabe, experimentell-neugieriger Aktivitäten.

Kurzum: Mental dürften die biologisch alt gewordenen Grünen infolgedessen wieder jünger werden, geben sich ja neuerdings auch so. Und spätestens zwischen 2015 und 2025 – in Stuttgart ist es rund um den Hauptbahnhof bereits jetzt zu beobachten – werden sich Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Know-how juveniler Demonstrationserfahrungen aus den spätsiebziger und frühachtziger Jahren für fahrradfreie Rollstuhlwege einer altengerechten Gesundheits- und selbstbestimmten Betreuungsrepublik in die Schlacht werfen. Das könnte dann so eine Art Altweibersommer im Herbst der Grünen werden.

Doch wird man sehen müssen, ob die neue bundesdeutsche Jugend das dann mit sich machen lässt.

Franz Walter leitet das Göttinger Institut für Demokratieforschung.