Occupy Marktlücke?

[präsentiert]: Nils C. Kumkar rezensiert drei Veröffentlichungen zur Occupy-Bewegung

Die Eule der Minerva beginnt erst mit der Dämmerung ihren Flug – mit diesem Gleichnis will Hegel in der Vorrede zu seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ versinnbildlichen, dass die Philosophie (wie die gesamte Wissenschaft) in gesellschaftlichen Fragen immer zu spät komme. Wenn der Schleier der Nacht gelüftet wird, erkennt es sich eben besser. Der Preis dafür ist allerdings, dass die Philosophie ihren Gegenstand grau in grau, in abgestorbener Endgültigkeit malt. Es gibt aber gute Gründe, mit der Erkenntnisgewinnung und ihrer Veröffentlichung doch schon zu beginnen, bevor die Eigenbewegung des Gegenstandes geendet hat und dieser zu einem möglichst klar abzubildenden Endzustand erstarrt ist.

Versteht sich die Wissenschaft selbst als Teil eines dynamischen Prozesses der Veränderung, wie es Marx mit seiner nicht minder klassischen Formulierung von der „Kritik im Handgemenge“ in seiner Kritik der Hegelʼschen Rechtsphilosophie zu fassen sucht, dann muss sie sich so früh und so laut wie möglich zu Wort melden. Auch wenn Wissenschaft und Erkenntnis als kollektive Prozesse verstanden werden sollen, dann müssen möglichst viele Resultate möglichst schnell möglichst vielen zugänglich gemacht werden, damit diese sie dann kritisieren, verwerfen oder weiterverwenden können. Und schlussendlich verkaufen sich Bücher besser, wenn ihr Thema dem Publikum noch drängend vor Augen steht. Die drei Veröffentlichungen zur Occupy-Bewegung, die bisher wohl am prominentesten auf dem deutschen Buchmarkt platziert sind, verdanken ihr Erscheinen vor Einbruch der Dämmerung wohl jeweils verschiedenen Mischungen dieser Erwägungen.

Den Anfang machte der Suhrkamp-Verlag noch 2011 mit „Occupy! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation“. Die in dem 94 Seiten kleinen Büchlein zusammengestellten Texte sind in erster Linie deutsche Übersetzungen von Artikeln aus der im Internet gratis zugänglichen Verteilzeitung „Occupy! An OWS Inspired Gazette“, die von Aktivisten und Publizisten rund um die Zeitschrift N+1 herausgegeben wurde und in und um die Occupy-Camps vor allem der USA als eine wichtige Debattenplattform fungierte. Ein wenig bedauerlich ist die Entscheidung der Redaktion, sich auf solche Beiträge zu konzentrieren, „die sich nicht in erster Linie auf die Situation in den USA beziehen“ (S. 4). Denn der weitaus spannendere, erste Teil des Buches – Augenzeugenberichte der ersten Tage der Besetzung des Zuccotti-Parks – fesselt gerade durch den gewährten Einblick in die partikularen Konflikte und Konstellationen, die sich rund um das Camp und die sich überstürzenden Ereignisse ergaben.

Die im zweiten Teil versammelten Beiträge sind demgegenüber überwiegend Einschätzungen von der Bewegung nahestehenden Intellektuellen – von Stiglitz über Butler bis zu Zizek. Deren Analysen mögen zwar allgemeiner gefasst sein, betreffen aber dabei leider auch kaum speziell die Occupy-Bewegung, sondern sind vielmehr Zusammenfassung ihrer an anderer Stelle weit gründlicher dargelegten Überlegungen zur aktuellen Verfasstheit des Kapitalismus und der weltpolitischen Lage. Das ist vor allem deswegen bedauerlich, weil in der übersetzten Gazette eigentlich viele Artikel zu finden sind, in denen Aktivisten aus verschiedensten vorangegangenen Bewegungen ihre Perspektiven auf den Prozess darlegen – Quellen, die erstens vielleicht genauso viel zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung der Bewegung beitragen könnten, die zweitens aber vor allem auch nirgendwo sonst einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Es wäre doch auch vor dem Hintergrund der ebenfalls in Deutschland immer wieder, wie zuletzt im Vorfeld der sogenannten „Blockupy-Aktionstage“, reflexartig hervorbrechenden Gewalt-Debatte interessant, einen Einblick in jene Auseinandersetzungen in den USA zu bekommen.

Einen anderen Ansatz verfolgt das Buch „Der Aufruhr der Ausgebildeten“ des Hamburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar, das im April 2012 im Verlag Hamburger Edition erschien. Der Autor wählt die Vogelperspektive und ordnet Occupy in ein breiteres Protestpanorama ein, das vom Arabischen Frühling über die Indignados in Spanien bis zu den Studierendenprotesten in Chile und den Jasmin-Protesten in China reicht. Dabei führen zwei Stränge mehr oder minder parallel durch die verschiedenen Abschnitte – zum einen die chronologische Folge der Ereignisse und der gegenseitige Bezug der verschiedenen Akteure und Schauplätze, zum anderen deren Vergleich  hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Protestierenden und des aus der je spezifischen politischen und ökonomischen Entwicklung resultierenden Unmuts, der die Aktivistinnen und Aktivisten antreibt.

Dabei soll deutlich werden, dass es sich bei den gewählten Beispielen um mehr als eine zufällige Häufung von Protesten handelt: So sei den verschiedenen Protesten bei allen Unterschieden die zentrale Rolle von gut ausgebildeten, aber perspektivlosen Akademikerinnen und Akademikern gemein. Dass zudem die Frage nach den sozialen Ungleichheiten und dem allgemeinen politischen Charakter der jeweiligen Gesellschaft in den Fokus der Auseinandersetzung gerät, unterscheide die Bewegungen auch von den (nicht mehr ganz so) Neuen Sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten im Zentrum des Protests standen. Überhaupt sei bemerkenswert, wie oft der Protest die qualitativ bedeutsame Schwelle zum Aufruhr überschritten habe – ein Begriff, der bei Kraushaar etwas unscharf den Bereich zwischen appellativem Protest und Aufstand zu bezeichnen scheint.

Das Buch ist leicht zugänglich und gut gegliedert: Den Verlauf des Protests kann man beim Lesen als Ganzes vor sich abrollen lassen, die einzelnen Abschnitte sind aber, wenn bestimmte Details nachgeschlagen werden sollen, auch aus sich heraus verständlich. Mit der Begrifflichkeit des Aufruhrs der Ausgebildeten und der sehr breit angelegten Perspektive könnte es an vielen Stellen auch wichtige Impulse für eine weitere gesellschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen des letzten Jahres liefern. Einerseits werden mit der Frage nach dem Aufruhr und dem Spezifischen der neuesten sozialen Bewegungen wesentliche Problemfelder wieder eröffnet, die in den Debatten der letzten Jahre verschwunden schienen; andererseits wird aber an verschiedenen anderen Stellen des Buches der große Forschungsbedarf deutlich, der zu den Ereignissen noch besteht.

So fällt auf, dass die beiden Beispiele, die der These vom Aufruhr der Ausgebildeten am ehesten zu widersprechen scheinen, nämlich die Unruhen in Griechenland und Großbritannien, mit dem Argument ihrer anders gelagerten Konstitutionsbedingungen ohne nähere Betrachtung vom Tisch gewischt werden (ein Argument, das bei der Wahl Chinas und Israels als Beispiele scheinbar nicht in Erwägung gezogen wurde). Auch Occupy Oakland als zweiter, weitaus weniger akademischer Brennpunkt der US-amerikanischen Occupy-Bewegung wird nur am Rande erörtert.

Bei den Deutungen und Interpretationen aus den Bewegungen selbst bleiben ebenfalls viele Fragen offen: So wird die Losung „we are the 99%“ mit der lakonischen Bemerkung abgetan, dass die Protestierenden noch lange nicht 99 Prozent der Bevölkerung hinter sich hätten, ohne der Frage nachzuspüren, ob das überhaupt der intendierte Sinn dieser Parole war. Oder es wird darauf gedrungen, die Bewegung möge sich doch endlich Forderungen einfallen lassen – ohne den Argumenten, die gegen eine solche Agenda des Protests vorgebracht wurden, Platz einzuräumen.

In gewisser Weise hätte David Graeber mit „Inside Occupy“, das im Mai 2012 im campus-Verlag erschienen ist, die Gelegenheit gehabt, die eher bewegungsorientierte Perspektive Kraushaars mit der zwischen allgemein-philosophischer Reflektion und Augenzeugenberichterstattung oszillierenden Perspektive der Beiträge in Occupy! in einen gegenseitigen reflektierenden Bezug zu setzen.  Ist sein Buch doch Erlebnisbericht, Binnendeutung und abstraktere Einordnung aus einer Hand. Leider aber eben nicht unbedingt aus einem Guss: Immer wieder macht sich die enorme Geschwindigkeit, mit der das Buch geschrieben und übersetzt worden sein muss, bemerkbar.

Die durchaus griffigen, zugespitzten Formeln, in denen Graeber seine Thesen und Analysen zusammenfasst, stehen denn auch etwas unvermittelt nebeneinander. Der Text bekommt stellenweise den Charakter eines „Geistesblitzableiters“: „Alle Gesellschaften sind im Grunde kommunistisch, und der Kapitalismus definiert sich am besten als schlechte Methode, den Kommunismus zu organisieren“ – solche Sätze haben es in sich, und wer Graeber aus „Debt – The First 5000 Years“ kennt, der weiß, dass er sie konzise herleiten und begründen kann: Bedauerlicherweise findet sich wenig von dieser inhaltlichen und stilistischen Souveränität in diesem Buch.

Wie viel davon dem Zeitdruck, wie viel den Verantwortlichen bei Campus und wie viel Graeber selbst zuzuschreiben ist, ist schwer auszumachen. Wessen Idee war es zum Beispiel, neben die Berichte aus den Kleingruppentreffen aus den Vorbereitungen zur Besetzung, die sich ohnehin mitunter etwas sehr insiderhaft geben, auch noch grobkörnige schwarz-weiß-Fotos zu drucken, auf denen der Autor zu sehen sein soll („Ironischerweise erhoben zum Zeitpunkt dieser Aufnahme einige der Teilnehmer Einwände dagegen, die Ereignisse zu dokumentieren“, steht, leider scheinbar gänzlich unironisch, unter einer dieser Aufnahmen)?

Dennoch ist Graebers Buch in mindestens zweierlei Hinsicht lesenswert. Seine eigene Aktivistenbiographie wie auch seine Beobachtungen im Vorfeld des Protestes lenken zum einen den Blick auf die oft stillschweigend übergangene Verankerung auch der Occupy-Bewegung in den in mühsamer Kleinstarbeit vor allem von linksradikalen Gruppen in den letzten Jahren aufgebauten Netzwerken und Strukturen, die eben, anders als verschiedentlich behauptet wurde, die Proteste weniger gekapert als vielmehr vielerorts erst angestoßen haben. Zum anderen lassen sich aber in seinen Reflektionen auch erste Spuren davon ausmachen, was sich vielleicht zu einem neuen, oppositionellen Diskurs weiterentwickeln könnte. Stärken finden sich auch überall dort, wo er wirklich auf den Hintergrund der Protestierenden eingeht. Hier hätte man sich bloß gewünscht, dass die nur angedeuteten Wege von der Partikularität des Protestes in Richtung einer allgemein-abstrakteren Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte weiter beschritten worden wären, da die Reflexionen immer wieder in eine Nabelschau zurückzufallen drohen.

So betrachtet markieren alle drei Veröffentlichungen eher einen Anfang, oder vielmehr drei disparate Anfänge. Und wer weiß, vielleicht hat Occupy ja neben vielem anderen auch das erreicht: einen neuen wissenschaftlichen Blick auf Bewegung und Protest zu eröffnen. Um das zu beurteilen, sollten wir allerdings wirklich auf die Dämmerung warten.

Nils C. Kumkar ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

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