Der Quantenphysiker aus El Bokarebo

[Göttinger Köpfe]: Severin Caspari über den Kernphysiker Max Born.

„Klein und öde“[1] erschien Max Born die Stadt am Harzrand, in die es ihn 1904 als jungen Studenten verschlug. Göttingen, das klang für ihn so ähnlich wie Tübingen. Und umso enttäuschter war Born, im Atlas die Stadt im „trüben Norden“[2] nahe Hannover zu finden. Zweifellos war er Anderes, Großstädtisches gewohnt.

Quelle: Stadtarchiv Göttingen

In seiner Heimatstadt Breslau hatte er stets das reichhaltige Kulturangebot genossen. So lauschte er in der örtlichen Konzertkammer den Größen der Musikwelt Europas, wie dem Geiger Pablo de Sarasate oder dem Komponisten Gustav Mahler. Bei Studienaufenthalten in Heidelberg und Zürich hatte Born zudem die Berge und Natur lieben gelernt. Göttingen bot dagegen weder besondere kulturelle Freuden, noch konnte es gegen die Pracht des Gebirges bestehen. Doch die Stadt hatte etwas zu bieten, das auch Born bald in seinen Bann zog: die Wissenschaft. Die Mathematik und bald auch die Physik weckten in ihm die Leidenschaft des Forschens und Entdeckens. Und immer dann, wenn der spätere Nobelpreisträger und Professor für theoretische Physik glaubte, die Stadt nun endlich hinter sich lassen zu können, geriet er erneut in ihren Sog: Max Born sollte immer wieder nach Göttingen zurückkehren.

Als Born, Jahrgang 1882, das erste Mal nach Göttingen kam, fanden sich dort die größten Mathematiker jener Zeit. Die Clique der „Bonzen“ um Hermann Minkowski, David Hilbert, Felix Klein und Carl Runge hatte der mathematischen Fakultät Göttingens zu großem Renommee verholfen. Auf regelmäßigen Spaziergängen zum Hainberg besprachen ihre Angehörigen die brennenden Fragen der Mathematik. Sie umgab eine einschüchternde Aura höchster Intellektualität. Gleich zu Beginn des Semesters war Hilbert auf der Suche nach einem Studenten, der eine schriftliche Ausarbeitung seiner Vorlesungen anfertigen sollte. Borns Manuskript übertraf nach Ansicht Hilberts die seiner Kommilitonen und so machte er Born zu seiner wissenschaftlichen Hilfskraft. Dieser zeigte sich glücklich, mit einem der „mächtigsten Hirne jener Zeit“[3] zusammenarbeiten zu können. Hilbert mochte Born und sorgte dafür, dass sich bei gemeinsamen Ausflügen zur Burgruine Plesse die Bekanntschaft auch mit anderen „Bonzen“, wie Minkowski, intensivierte.

Dennoch wollte Born Göttingen nach seiner Promotion im Jahr 1906 verlassen: „Ich hatte die Stadt ziemlich satt und beschloss, nie mehr zurückzukehren.“[4] Doch dieser Schwur hielt nicht lange vor. Denn schon bald geriet Born erneut in den Sog der Göttinger Wissenschaft. Es waren die frühen Tage der Relativitätstheorie Albert Einsteins – und auch Born begann über Fragen der Relativität nachzudenken. Er nahm Kontakt zu seinem alten Lehrer Minkowski auf, woraufhin dieser ihm unvermittelt eine Assistentenstelle anbot. So kehrte Born nach Göttingen zurück und erhielt bald darauf im Sommer 1909 die Zulassung als Privatdozent. Mitgerissen von der Pionierzeit der Quantenphysik, war er nun fest entschlossen, auf dem Gebiet der theoretischen Physik Professor zu werden. Auch abseits der Wissenschaft wurden es für Born glückliche Jahre, voller Freundschaften und Geselligkeit. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Theodor v. Karman und zwei Studenten bezog er 1912 ein Haus in der Dahlmannstraße 17. Aus der Hausgemeinschaft von „El Bokarebo“ – eine Wortschöpfung aus den Initialen seiner Bewohner – entwickelte sich eine illustre Runde, die häufig Einladungen aussprach und so ihren Kreis erweiterte. Man führte faszinierende Diskussionen und trug zu Geburtstagen heitere, selbst geschriebene Gedichte vor.

Born war frisch verheiratet und gerade Vater geworden, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Die folgenden Jahre prägten ganz entscheidend seine Einstellung gegenüber Krieg und Gewalt. Schon sein Vater hatte ihm eindrücklich von den Schrecken des deutsch-französischen Krieges 1870/71 erzählt und ihm geschildert, wie er sich als Rädchen im Getriebe der großen Militärmaschine gefühlt habe. Die „gleiche Erniedrigung menschlicher Würde“[5] empfand auch Born, als er nach seinem Studium als junger Rekrut in Reih und Glied stehen musste. Sein Asthma rettete ihn schließlich vor dem Militärdienst. Gleichwohl sah sich Born als Patrioten und war anfangs von der Richtigkeit des Krieges überzeugt, der sein Vaterland bedrohe. Viele Naturwissenschaftler stellten ihren Dienst zu dieser Zeit in die Erforschung militärischer Waffen – so auch Born, der an der Entwicklung von Schallmessverfahren beteiligt war, die den Einschlagzeitpunkt von Geschossen ermitteln sollten. Als jedoch der Chemiker Fritz Haber im Jahr 1915 Born einlud, an der Entwicklung chemischen Kriegsgeräts mitzuarbeiten, lehnte dieser empört ab. Später sollte er den Gaskrieg als eine „entscheidende moralische Niederlage der Menschheit“[6] beschreiben.

Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konnte Born seine Aufmerksamkeit wieder auf die Physik richten. Nachdem er Lehrstühle in Breslau, Berlin und Frankfurt bekleidet hatte, erhielt er Anfang der 1920er Jahre einen Ruf aus Göttingen. Wieder stand Born vor der alten Frage: Wollte er in die Provinz zurückkehren und das kulturelle Leben, diesmal der Stadt Frankfurt, in der er sich mit seiner Frau und den mittlerweile zwei Töchtern bereits gut eingelebt hatte, aufgeben? Das Angebot aus Göttingen war außerordentlich gut, doch war die Entscheidung längst nicht mehr eine rein sachliche: Born empfand es als große Ehre, an seine Alma Mater zurückzukehren und dort eine führende Rolle in der Physik zu übernehmen. Dort fanden im Sommer 1922 auch die „Bohr-Festspiele“ statt: Der Begründer der Quantentheorie, der Däne Niels Bohr, hielt eine zweiwöchige Vorlesungsreihe an der Georgia-Augusta ab. Dieses Ereignis inspirierte auch Born, der zusammen mit seinen Assistenten Werner Heisenberg und Pascual Jordan die „Rätsel der Quantenphysik“[7] zu lösen versuchte. Gemeinsam begründeten sie die Quantenmechanik. Auf dem Gebiet der Wissenschaft sollten Borns Göttinger Jahre die besten werden.

Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland veränderte jedoch alles. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung sahen sich die Borns angesichts des aufkeimenden Antisemitismus schweren Herzens zur Emigration gezwungen: „Alles, was ich in zwölf Jahren harter Arbeit in Göttingen aufgebaut hatte, war vernichtet. Es kam mir wie das Ende der Welt vor.“[8] Die Familie ging ins schottische Exil. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs belasteten Born schwer. Er war überzeugt, dass Hitler besiegt werden müsse und er war sich darüber im Klaren, dass dies nur mit militärischen Mitteln möglich sein würde. Doch gleichzeitig erschreckten ihn der Luftkrieg der Alliierten, bei dem ganze Städte in Schutt und Asche gelegt wurden: „Die Idee, Hitler zu stürzen, indem man Frauen und Kinder tötete und ihre Heime verstörte, erschien mir absurd und abscheulich.“[9] Gegen Ende des Krieges litt Born unter Depressionen und musste krankgeschrieben werden.

Nach dem Krieg wollte Born allerdings von einer Kollektivschuld der Deutschen nichts wissen: „Ich denke, es gibt keine Massen-Verantwortlichkeit in einem höheren Sinne, nur Individua – ich habe genug anständige Deutsche getroffen, vielleicht klein an der Zahl, aber echt“[10], schrieb er 1950 an seinen Freund Albert Einstein. Diese Haltung mag einer der Gründe für Borns Rückkehr nach Deutschland gewesen sein. Für Einstein war dies eine Rückkehr ins „Land der Massenmörder“, für Born dagegen eine Rückkehr in ein Land, das für ihn immer noch Heimat bedeutete. Er empfand ein „unüberwindliches Heimweh nach der deutschen Sprache und Landschaft“[11], wohingegen Schottland für Born trotz seiner Dankbarkeit gegenüber dem Land noch immer Fremdheit bedeutete. Am Ende spielten jedoch auch finanzielle Erwägungen eine Rolle: Denn nur mit einem Wohnsitz in der Bundesrepublik konnte Born eine deutsche Pension beziehen. So gab es ein erneutes Wiedersehen mit Göttingen, das ihm anlässlich der 1000-Jahr Feier der Stadt die Ehrenbürgerwürde verlieh. Bald darauf zog Born mit seiner Frau 1953 in den beschaulichen Kurort Bad Pyrmont.

Ein ruhiger Lebensabend war Born, entgegen seiner Ankündigung, auf seinem Alterswohnsitz jedoch nicht beschieden. Stattdessen begegnete er in der Verstrickung von Naturwissenschaft und Krieg, deren Zeuge er in zwei verheerenden Weltkriegen geworden war und die ihren vorläufigen Abschluss in den Abwürfen zweier Atombomben auf Japan fand, einem neuen Lebensthema: In Buchveröffentlichungen, Zeitungsartikeln und Radiobeiträgen trat Born zunehmend als Friedensaktivist und Verantwortungsmahner auf. Die späte Anerkennung durch den Nobelpreis im Jahr 1954 verschaffte ihm die hierzu notwendige Aufmerksamkeit. Auch sich selbst machte Born Vorwürfe, da einige seiner besten Schüler aus Göttingen, darunter Oppenheimer, Teller und Fermi, am Bau der Atombombe beteiligt waren: „Es ist wohl mein Fehler gewesen, wenn sie von mir nur Methoden der Forschung und nichts weiter gelernt haben […] Nun ist durch ihre Klugheit die Menschheit in eine fast verzweifelte Lage geraten.“[12]Born war auch einer der 18 Göttinger Professoren, die am 12. April 1957 in der sogenannten „Göttinger Erklärung“ öffentlich den Verzicht der Adenauer-Regierung auf die Herstellung von Atomwaffen forderten. Am Ende seines Lebens war er davon überzeugt, dass nur der Pazifismus die Menschheit vor dem Untergang bewahren könne. Am Schluss der Mainauer-Kundgebung, die er 1955 zusammen mit anderen Naturwissenschaftlern verfasst hatte, heißt es: „Alle Nationen müssen zu der Entscheidung kommen, freiwillig auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik zu verzichten. Sind sie nicht dazu bereit, so werden sie aufhören zu existieren.“ Born starb am 5. Januar 1970 in Göttingen und wurde auf dem Stadtfriedhof beigesetzt.

Severin Caspari arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Born, Max: Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers, München 1975, S. 125.

[2] Born, Max: Göttinger Erinnerungen, in: Born, Max/Born, Hedwig: Der Luxus des Gewissens. Erlebnisse und Einsichten im Atomzeitalter, München 1969, S. 13.

[3] Born: Mein Leben, S. 127.

[4] Ebd., S. 159.

[5] Born: Mein Leben, S. 166.

[6] Born: Die Hoffnung auf Einsicht aller Menschen in die Größe der atomaren Gefährdung, in: Born/Born: Der Luxus des Gewissens, S. 187.

[7] Jordan, Pascual: Begegnungen, Oldenburg 1971, S. 44.

[8] Zitiert nach Greenspan, Nancy T.: Max Born. Baumeister der Quantenwelt, München 2006, S. 340.

[9] Zitiert nach ebd., S. 353.

[10] Zitiert nach ebd., S. 267.

[11] Born: Mein Leben, S. 377.

[12] Born, Max: Ich trete ein für Aufklärung, in: Der Spiegel, 24.04.1957.