Grüne 1989: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“

Beitrag verfasst von: Michael Lühmann

Themen:

[kommentiert]: Michael Lühmann über die Grünen in Ost und West, die Deutsche Einheit und die Debatte über Ökologie

Das Wetter vor 25 Jahren, es war katastrophal schlecht. So schlecht, dass Der Spiegel nur wenige Tage vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR titelte: „Orkane, Sturmfluten, Temperaturstürze. Signale des Klimaschocks?“[1] Unter der Parole „Der Globus ist angenagt“ diskutierte das Magazin in einem großen Leitartikel die zeitgenössischen Klimasorgen.[2] Währenddessen lavierte der große Europäer Helmut Kohl in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze noch immer und die Strategieabteilung der Union überzog den Osten mit einer Diffamierungskampagne[3], in der die Ost-SPD wider besseres Wissen in die Nähe der SED gerückt wurde – während die tatsächlich in der Nähe der SED befindliche Ost-CDU hofiert wurde.[4] Schließlich fürchtete man damals im Adenauer-Haus nichts mehr als einen Sieg der Sozialdemokratie im Osten als Ausgangspunkt eines dauerhaften, strukturellen Machtverlustes der Union.

Die vermeintliche Stärke der SPD v.a. in Sachsen und Thüringen, die Offenheit der Grenzfrage, die „SPDPDSPDS“-Schriftzüge, sie haben sich – im Gegensatz zur grünen Klimadiagnose – als teils boshafte, geschichtsvergessene und anachronistische Irrtümer erwiesen. Anders die Sorge ums Wetter, respektive das Klima. Und dennoch wird im Blick zurück das grüne Reden vom Wetter heute als der größte Irrtum grüner Wahlkampfstrategie angesehen. Als Ergebnis grüner „Schlafmützigkeit“, eines rapiden Wechsels der politischen Agenda und einer vermeintlichen Apathie der grünen Wählerschaft, wie Hubert Kleinert 1992 resümierte, wurden die Grünen, so das Lamento, ein „Opfer der deutschen Wiedervereinigung“.[5]

Auf der anderen Seite der durchbrochenen Mauer hielt sich in grünen und bürgerbewegten Kreisen die Euphorie bezüglich der anstehenden Einheit in Grenzen. Wortreich hatte man in den späten 1980er Jahren, analog zu den westdeutschen Grünen, die Zweistaatlichkeit innerhalb Europas verteidigt, über die Reformfähigkeit des Sozialismus sinniert – und diesen dennoch bereits de facto suspendiert.[6] Aber, wie die „Mutter der Revolution“ Bärbel Bohley rückblickend sagte, man konnte nur bis zur Mauer gucken.[7] Das Dahinterliegende tat sich für viele von ihnen dann freilich viel zu schnell auf. Mühevoll hatte man überhaupt erst lernen müssen, in der Wahrheit zu leben, hatte beharrlich eine Gegenöffentlichkeit aufgebaut, Grenzen des Sag- und Diskutierbaren verschoben, erst im Samisdat,[8] dann in öffentlichen Manifesten, schließlich in den turbulenten Monaten der Revolution. Und auch die ostdeutschen Bürgerbewegungen redeten über das Wetter, anders als im Westen angesichts der real existierenden Umweltkatastrophe in der DDR allerdings mehr über konkrete Umweltprobleme.[9] Ökologie war also längst thematischer Bestandteil vieler Gruppierungen der Bürgerbewegung. Den ökologischen und sozialen Umbau forderten nahezu alle politischen Gruppierungen in den Jahren 1989 und 1990 ein, bis hin zum Demokratischen Aufbruch und der SDP bzw. der SPD-Ost.

Überhaupt spielte das Wetter für die Entstehung der Grünen in Ost und West eine entscheidende Rolle. Im Westen gelang die ökologische Parteiwerdung im Zuge der Zweiten Ölpreiskrise[10] und im Angesicht schrillender Öko-Alarme. Gleichzeitig ging in der DDR das letzte, vielleicht das einzige goldene Jahrzehnt, in dem die Systemzustimmung am höchsten war, zu Ende. Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zehrte schon im Vorfeld der Zweiten Ölpreiskrise an den DDR-Finanzen. Die folgenschwere Rückkehr vom Öl zur Braunkohle in der Energieversorgung – das sowjetische Öl wurde nun in noch größerem Maße, aber zu erheblich schlechteren finanziellen Bedingungen zu Benzin raffiniert und in Devisen umgesetzt – ruinierte am offensichtlichsten die DDR-Umwelt[11] und kann so, wenn man der These folgen mag, über den durch geografische Bedingungen in Leipzig besonders starken und anhaltenden Smog direkt in die Revolution 1989 verlängert werden.

Dennoch: Auch im Osten trug die ökologische Problemlage am Wahltag keine jener Parteien in die Nähe eigener Mehrheiten, die das Thema zumindest mit auf ihrem Tableau hatten. Auch hier, wie in der alten Bundesrepublik, stieß das Nicht-Reden, mindestens aber das kritische, das mahnende, das reformorientierte Reden von der Einheit an der Wahlurne auf nur wenig Zustimmung. Und so gerieten auch die Bürgerbewegungen und die daraus hervorgegangenen Parteien zu den großen Verlierern einer Einheitseuphorie, zu der indes auch Helmut Kohl anfänglich mehr getragen werden musste, als dass er diese selbst angeführt hätte. Erst bei seinem Auftritt vor der Dresdner Frauenkirche im Dezember 1989 begriff Kohl, dass der Zug der Geschichte, den er überall zu erkennen glaubte, unumkehrbar in Richtung Einheit rollte.[12] Erst jetzt verweigerte er die Zusammenarbeit mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und mutierte über Nacht zum Einheitskanzler; weil er, berauscht von den jubelnden Massen, begriff, dass ihm das Reden von Deutschland die noch vor Monaten unwahrscheinliche nächste Kanzlerschaft sichern könnte.

Die Grünen in Ost und West, das Bündnis 90: Sie alle ahnten, dass es unaufhaltsam Richtung Einheit ging; und doch verweigerten sie trotz manch gegenteilig geäußerter öffentlicher Stimmen die generelle Zustimmung zur Einheit, und so scheiterte die Grüne Partei West, jene erfolgreichste Partei des vorangegangenen Jahrzehnts, an der Fünf-Prozent Hürde, die das östliche Bündnis aus Grünen und Bündnis 90 knapp übersprang.

Dennoch waren sie, zugespitzt, nur Statthalter für die im Nachgang des Wahldebakels von 1990 siegreichen Realos in den Reihen der West-Grünen, die mit Joschka Fischer an der (so nicht benannten) Spitze 1998 endlich und verspätet in Regierungsverantwortung kamen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als das Projekt des postmateriellen Wertewandels, wie Elisabeth Noelle-Neumann in den späten 1990er Jahren konstatierte,[13] kippte und angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und eines ausgerufenen Reformstaus bei gleichzeitigem Börsenboom gerade nicht in Richtung einer sozial-ökologischen Reprogrammierung der Bundesrepublik gestellt war.[14]

Wie wenig die Zeichen auf ökologisches Umsteuern gestellt waren, hatten die Grünen noch kurz vor der Wahl 1998 auf dem Magdeburger Parteitag zu spüren bekommen. Statt vom Wetter redeten die Grünen in Magdeburg vom Benzin, konkret von einem Benzinpreis in Höhe von fünf Mark. Auch wenn dies nie Beschlusslage der Partei werden sollte, drohte erneut die ökologische Zuspitzung die Grünen zu überrollen – auch wenn die zugrunde liegende Überlegung, die Wirtschaft und den privaten Konsum zu dekarbonisieren, heute wissenschaftlicher Konsens – und seit diesem Jahr auch konkretes Ziel der G7-Staaten – ist.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Wetter blieb denn auch – nach kurzem, gleichwohl wegweisendem ökologischen Aktionismus zu Beginn der Legislatur – eine der großen Leerstellen grüner Politik. Erst nach dem Abgang Joschka Fischers erwachte die grundsätzliche ökologische Debatte bei den Grünen wieder, half die Wiederentdeckung des Wetters die orientierungslose Partei nicht nur zu befrieden, sondern trug sie zudem bis zum Beginn der Zehner Jahre wieder gestärkt in die Parlamente. Nicht erst nach Fukushima, sondern bereits 2010 begann der grüne Aufstieg zur vermeintlichen Partei eines grünen Wertewandels[15], der 2013 in einer jähen Enttäuschung endete. Pädophilie-Debatte, Steuerpolitik und die „Veggie-Day“-Medien-Kampagne – die Wetter-Diagnose in ihrer 2013er Variante – versagten den Grünen einen noch ein Jahr zuvor erhofften und nicht unrealistischen Stimmenzuwachs.

Was bedeutet dies nun für die Zukunft? Die Vermutung liegt auf der Hand, dass die Lehre aus dem Reden vom Wetter nur die sein kann, nicht mehr ganz so laut von diesem zu reden. Und doch wäre dies vollkommen falsch. Denn das Reden vom Wetter, vom Klima, vom ökologischen Umbau der Gesellschaft ist in den Zehner Jahren – die grünen Wahlerfolge von 2010 und in den folgenden Jahren, aber auch die konkreten klimatischen Veränderungen zeugen davon – nicht nur politisch notwendig, sondern sichert auch künftige Zustimmung und Stimmen.

Waren die Distanz zur Einheit und manche Radikalität in der Umweltdebatte das Projekt der grünen Gründergeneration und ihres generationell ähnlich gelagerten Milieus, hat sich in den vergangenen Jahren in Anbetracht der „multiplen Krisen“ gerade in den jungen Generationen ein unverkrampfteres, zugleich aber einem ökologischen Fernziel verbundenes Denken jenseits etablierter grüner Wachstumseuphorie breitgemacht: Urbane Gärtner/innen, transition towns, Commons, De-Growth, Repair– und DIY-Initiativen – die New School der grünen Utopie[16], die Debatte um das konvivialistische Manifest mögen dies anzeigen[17], geben der grünen Bewegung ein neues, junges Fundament.

Hier kann und sollte eine grüne Partei angstbefreit, offen und grundsätzlich anknüpfen. Ohne – und dies ist vielleicht eine wichtige Lehre aus 1990, 1998 und 2013 – sogleich immer Antworten zu haben. Vielmehr sollte die Partei wieder stärker in Rückkopplung mit Gesellschaft und Bewegung(en) Resonanzraum werden für eine grüne Utopie, die in der Ideengeschichte des Ökologismus, von dem Grüne so ungern reden, angelegt ist und die in Zeiten der Krise als Gegenerzählung so wirkmächtig sein kann.

Kurzum, dem Reden vom Wetter sollte kurz vor der wichtigen Klimakonferenz von Paris und während des Erstarkens einer neuen weltweiten klimasensiblen Bürgerbewegung[18] mehr Bedeutung zugemessen werden: als politische Zielvorstellung, als ein in eine noch immer mit der Niederlage von 2013 beschäftigte Partei hineinwirkendes Friedensangebot. Und nicht zuletzt – und diese historische Anlehnung sei in der Zuspitzung erlaubt – als ein Diskurs globaler Solidarität und Verantwortung in unruhigen Zeiten, in denen gerade alle wieder von Deutschland reden, von seiner „Wettbewerbsfähigkeit“ und von seinen „besorgten Bürgern“, die sich im Angesicht weltweiter Fluchtbewegungen um den „deutschen Wohlstand“ und das „Abendland“ sorgten.

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der vorliegende Text erschien in leicht geänderter Fassung unter dem Titel „Das Wetter vor 25 Jahren und heute“ im Vorfeld der Tagung „Das Wetter vor 25 Jahren – Grüne Lehren aus der Wiedervereinigung“ im dazugehörigen Dossier auf den Seiten der Heinrich-Böll-Stiftung.

[1] Der Spiegel, 05.03.1990.
[2] Siehe o.V.: „Der Globus ist angenagt“, in: ebd., S. 113.
[3] Siehe o.V.: „Mit dem Teufel marschiert, in: ebd., S. 18 ff.
[4] Zur Vergangenheit der Block-CDU vgl. Lühmann, Michael: Verdrängte Vergangenheit. Die CDU und die „Blockflöten“, in: Deutschland Archiv, Jg. 42 (2009), H. 1, S. 96-104.
[5] Kleinert, Hubert: Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992, S. 130 f.
[6] Vgl. etwa Eckert, Rainer: Sozialismusvorstellungen im Herbst 1989. Opposition und SED-interne Kritiker, in: Horch und Guck, Jg. 7 (1998), H. 3, S. 25-32.
[7] Siehe Steingart, G./Schwarz, U.: Wir waren abgedriftet. Bürgerrechtler, Funktionäre und Intellektuelle der ehemaligen DDR über ihre Träume im Wendeherbst ’89, in: Der Spiegel, 07.11.1994.
[8] Vgl. hierzu insgesamt Kowalczuk, Ilko-Sascha: Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989, Berlin 2002.
[9] Vgl. einführend ders., Unabhängige Umweltbewegung, in: ders./Sello, Tom (Hrsg.): Für ein freies Land mit freien Menschen, Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 272-289; Halbrock, Christian: Organisationsbedingungen der unabhängigen Umweltbewegung in der DDR, in: Gehrke, Bernd/Rüddenklau, Wolfgang (Hrsg.): … das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 64-86.
[10] Aber eben auch im Umfeld der Fortschrittskrise, der Krise der Neuen Linken und wirtschaftlicher Krisen bei gleichzeitiger Beschleunigung des sozialen Wandels und einem neuen Unsicherheits- und Angstgefühl, entlang eines Erstarkens von Wachstumskritik, neuer ökologischer Sensibilität und gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen; vgl. hierzu grundlegend Raphael, Lutz/Doering-Manteuffel, Anselm: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Uekötter, Frank: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2011, S. 91-120; jüngst Reitmayer, Morten/Schlemmer, Thomas (Hrsg.): Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014.
[11] Zur doppelten deutschen Wirtschaftsgeschichte am Beispiel des Ölpreisschocks vgl. Hoffmann, Dierk: Ölpreisschock und Utopieverlust. Getrennte Krisenwahrnehmung und -bewältigung, in: Wengst, Udo/Wentker, Hermann (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin 2008, S. 213-234.
[12] Vgl. hierzu pointiert Bahners, Patrick: Im Mantel der Geschichte. Helmut Kohl oder Die Unersetzlichkeit, München 1998, S. 139 ff.
[13] Siehe Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas: Zeitenwende. Der Wertewandel 30 Jahre später, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 29/2001, S. 15-22; Kaina, Viktoria/Deutsch, Franziska: Verliert die „Stille Revolution“ ihren Nachwuchs? Wertorientierungen in Deutschland im Kohorten- und Zeitvergleich, in: Roller, Edeltraud (Hrsg.): Jugend und Politik: „Voll normal!“ Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 157-181.
[14] Siehe Lühmann, Michael: Als Generationenprojekt nachhaltig gescheitert. Wie FDP und Börsenboomer sich aus den Augen verloren, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 2 (2013), H. 4, S. 73-82.
[15] Vgl. Heyne, Lea/Lühmann, Michael: Bündnis 90/Die Grünen: Zwischen Zeitgeist und Wertewandel, in: Kallinich, Daniela/Schulz, Frauke (Hrsg.): Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009–2011, Stuttgart 2011, S. 283-304; Probst, Lothar: Bündnis, 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“? Eine Analyse der Entwicklung der Grünen seit der Bundestagswahl 2005, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 79-107.
[16] Siehe Müller, Christa/Werner, Karin: Neuer Urbanismus. Die New School grüner politischer Utopie, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 4 (2015), H. 2, S. 31-45.
[17] Siehe Les Convivialistes: Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, hrsg. von Claus Leggewie u.a., Bielefeld 2014; Adloff, Frank/Heins, Volker M. (Hrsg.): Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld 2015.
[18] Siehe Leggewie, Claus: Konvivialismus als neuer Internationalismus, in: Adloff/Heins (Hrsg.) 2015, S. 237-248.