[analysiert]: Franz Walter über den Chef-Theoretiker der 68er.
Er galt als der Star, genauer: als der große Ideologe der „68er“. Herbert Marcuse, geboren 1898 in Berlin, jüdischer Herkunft wie so viele linke Intellektuelle im Deutschland des ersten Drittels im 20. Jahrhundert. In den frühen 1920er Jahren wurde er in Literaturgeschichte promoviert; Ende des Jahrzehnts zeigte er sich fasziniert von Martin Heidegger in Freiburg. Ehe die Weimarer Republik ganz zerbrach, hatte sich Marcuse des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zugewandt, geriet in einen über Jahrzehnte währenden, wenngleich spannungsreichen Kontakt mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno auf der gemeinsamen Basis der Kritischen Theorie. Der Nationalsozialismus zwang ihn zur Emigration in die Vereinigten Staaten, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg Professuren für Politische Wissenschaft erhielt und allerlei Schriften verfasste, die allerdings lange kaum jemand wahrnahm. Vor allem in Deutschland kannten die universitären Fachforscher so gut wie nichts von oder über Marcuse. Dann erschien 1964 dessen Buch „One-Dimensional Man“. Und Marcuse avancierte damit schlagartig, also bereits vier Jahre vor 1968, zum Meisterdenker der „kritischen Jugend“ an den Universitäten der westlichen Welt.
Marcuse, nicht Adorno wurde zum Idol der neuen Linken. Dabei hatten in Deutschland mehrere, noch dazu die klügsten Köpfe im SDS in den Vorlesungen Adornos gesessen, sich an seiner preziösen, nur für Eingeweihte zugänglichen, daher einen Distinktionsgewinn verschaffenden Sprache berauscht, waren damals – und blieben es im Grunde ihr Leben lang – ungemein stolz, bei diesem Mann – Jude, Sozialist, Emigrant in der NS-Zeit – mit seinen geheimnisvollen, an Metaphern überreichlichen Formulierungen, die düster, abgründig, trostlos in ihren Aussagen wirkten, studiert zu haben. Marcuse war, vom Temperament und Charakter, gewiss auch in einigen seiner Ideen der Antipode zu Adorno. Er freute sich, lebte auf, wenn er irgendwo auf spontane Rebellionen und Provokationen stieß, die Adorno und besonders Horkheimer doch in erster Linie einen erheblichen Schrecken einjagten. Marcuse reihte sich gerne ein, skandierte die Losungen mit, wenn die jungen Leute zunächst an den Universitäten in den USA demonstrierten oder eine Einrichtung blockierten. Den Frankfurtern wäre das nie in den Sinn gekommen. Dass die Theorie, zumal die revolutionäre, irgendwann zur Aktion drängen müsse, hielt Marcuse für selbstverständlich. Seine beiden professoralen Kontrahenten in der gemeinsamen Schule der Kritischen Theorie lehnten eine solche Rolle des intellektuellen Denkens dagegen als Magd für die Praxis schroff ab.
So genau wusste Marcuse nicht, auf welche Wege und zu welchem Ziel er die Revolte tragen mochte; aber der Versuch, aus den Verhältnissen auszutreten, musste seiner festen Überzeugung nach sein. Solcher Voluntarismus befremdete Adorno. Der Frankfurter war ganz ein Mann des Katheders im elitären Kreis seiner intelligentesten und belesensten Studenten. Marcuse richtete seine Ansprache weiter, sprach mit Lust und Vergnügen vor Tausenden, sah sich als der Dolmetscher und pädagogische Vermittler der Kritischen Theorie, verdichtete seine politischen Botschaften zu knappen, einprägsamen Sentenzen: „Eindimensionaler Mensch“, „Repressive Toleranz“, die „Große Weigerung“ – all diese Begriffe wurden zu Klassikern der Gesellschaftskritik und der politischen Losungen der frühen studentischen Proteste, die man als 68er-Revolte erinnerte.
1964/65 existierte eine Art Kairos-Situation für die Ideen Marcuses. Die jungen Linken litten an einer Gesellschaft, die dem großen Rest der Bürger durchaus zusagte, auch den nach den Maßstäben sozialistischer Theorien eigentlich „Ausgebeuteten“ und „Entrechteten“ des Systems. Bei Herbert Marcuse konnten sie nun nachlesen, wie diese Paradoxie zu begreifen und aufzulösen war. Er porträtierte eine Gesellschaft, die auf technologisch höchstem Niveau funktionierte. Die strengen Rationalitätsnormen ökonomischer Effizienz der Produktionsmethoden standen im Zentrum, konstituierten allen Sinn und alle Regeln des Zusammenlebens, welche die Gesellschaft, Kultur, Ökonomie und Staat einheitlich – oder kritisch: eindimensional – durchwirkten. Interessen oder Bedürfnisse, Denkweisen oder Lebensformen diesseits des Primats ökonomischer Leistungssteigerung waren nicht vorgesehen, auch nicht erforderlich. Schließlich empfanden die eindimensional zugeschnittenen Einzelnen in der Masse der eindimensional verfassten Gesellschaft das keineswegs als Freiheitsentzug. Denn ihnen winkte erst durch die Optimierung der wirtschaftlichen Produktion das ihnen allein geläufige Reich der Freiheit in ihrer Rolle als Konsumenten bei der Auswahl aus dem schier unendlichen Sortiment von Waren und Dienstleistungen. Die Masse hatte sich längst von früheren kollektiven Eigenkulturen gelöst, hatte auch ihre genuine Sprache zur spezifischen Gruppenartikulation verlernt. Es zirkulierten einzig die Formeln der Mächtigen, in Werbung und Propaganda, allmählich von allen übernommen und verwendet. Die Manipulation war umfassend; die Gesellschaft trug totalitäre Züge, ohne dabei in erster Linie auf staatlichen Terrorismus, brutale Willkürmaßnahmen, Gewaltexzesse zurückgreifen zu müssen. Die Unterdrückten akzeptierten und goutierten durch den materiellen Überfluss ihre Lage, drängten nicht darüber hinaus, kannten auch keinen Zustand des ganz Anderen, konnten ihn sich nicht einmal vorstellen.
Insofern besaßen die Methoden der totalitären Kontrolle und Freiheitsbeschränkungen durchaus subtile, gar überwiegend demokratische Seiten. Das System gab sich tolerant, eröffnete und erweiterte großzügig die Räume einer opulenten Konsumentendemokratie, in der allerdings alle Kultur einer wirklichen Freiheit, insbesondere die Sehnsucht nach einem nicht-entfremdeten Tun, der Wunsch nach Ausstieg aus der Sklaverei der Lohnarbeit wegnarkotisiert und durch die sedierenden Surrogate des Marktes fortkompensiert worden waren. Am Ende stand eine gleichgeschaltete Gesellschaft, bar jeder Opposition, für welche die Mehrheit im Vertrauen auf eine vorhandene alternativlose Vernunft des technischen Fortschritts auch keinen Bedarf mehr sah.
Was aber blieb dann noch? Wer konnte das Subjekt der großen Weigerung überhaupt sein, da es sich doch zu einer eindimensionalen, totalitär durchkontrollierten Diktatur über die selbstunterwürfigen Unfreien entwickelt hatte? Hierfür wies Marcuse den aufständischen Studenten die Avantgarderolle zu. Sie sollten die Lehrmeister, Kader, ja Erziehungsdiktatoren für diejenigen werden, die aufgrund ihres verkrüppelten Bewusstseins mindestens für die Ouvertüre der revolutionären Transformation nicht in Frage kamen.
Für die linken Studenten der 1960er Jahre waren Marcuses Ausführungen wie ein Generalschlüssel zur Explikation des zunächst eher diffusen Unbehagens. Endlich vermochten sie jetzt einleuchtend zu erklären, warum sie – aber allein sie – diese Gesellschaft so verachteten. Und zugleich hatten sie die Bestätigung gefunden, dass sie – ausschließlich sie – zur Erkenntnis der wahren Zusammenhänge in der Lage waren und sie – nur sie – den Pfad aus der Gefangenschaft zu weisen und die Massen Richtung Kanaan zu führen vermochten. Damit hatten sie – lediglich sie – auch die einzig richtige Lehre aus der historischen Lektion des Faschismus gezogen, den man nur dann verhindern konnte, wenn man den schönen Schein der Demokratie als raffinierte Ideologie der Massenverblendung entlarvte. 1964 kam dadurch zusammen, was für einen kurzen geschichtlichen Augenblick trefflich zusammenpasste. Die damals noch denkbar kleine Gruppe linker Studenten griff nicht zufällig zu, als Marcuse ihnen seine Theorie-Offerten unterbreitete.
Dabei: Besonders politisch war es nicht, wie Marcuse dachte. Er war ein romantischer Revolutionär nach Art des 19. Jahrhunderts, ein schierer Voluntarist, der an die umstürzlerische Wirkung der Tat glaubte, von der alle Kraft und Energie zur dann harmonischen Transzendenz ausging. Indes war ein Problem seiner Theorie, dass sie einerseits die schreckliche Hermetik eindimensionalen Denkens in düstersten Farben ausmalte, andererseits vom optimistischen Szenarium der großen Befreiung nicht lassen wollte. Welcher Weg führte von der totalen Ohnmacht in die radikale Insurrektion? Wie konnte es autonome Subjekte noch geben, wo doch alle als Objekte in den Gehäusen der Hörigkeit gefangen waren? War die Gleichschaltung doch nicht so lückenlos, so totalitär erfolgt, wie es in den Hauptteilen seiner Schriften wieder und wieder herausgestellt wurde?
Gleichviel, Mitte der 1960er Jahre sah man in Marcuse den puren, gläubigen, konsequenten Feind des neo-totalitären Kapitalismus, der unmissverständlich Partei ergriffen hatte, während andere das Refugium ihrer Kritischen Theorie nicht verließen. Daher wurde Marcuse zum weltanschaulichen Vater der Revolte. Seine jahrelangen Großauftritte in Berlin waren Festtage der Bewegung, an denen tausende von Jüngern gepilgert kamen, um ihrem Messias zu huldigen. Doch bald, paradoxerweise seit 1968, stand auch Marcuse nicht mehr fest auf dem Sockel der Verehrung. Im Mai 1968 – Marcuse war gerade direkt von den Straßenkämpfen in Paris gekommen – zog er wohl noch einmal 4000 Studenten der FU Berlin an, die seinem Referat „Geschichte, Transzendenz und sozialer Wandel“ zuhörten, aber nun nicht mehr mit achtsamer Bewunderung, sondern mit lautstark artikuliertem Unmut. Man verlangte – was er nicht geben konnte und mochte – nach unmissverständlichen Handlungsanweisungen für die konkreten Kämpfe. Die klassenkämpferische Härte, die jetzt rhetorisch aufkam, konvenierte nicht mit den eher romantischen Anliegen aus der Frühzeit der Revolte. Die Kälte kommunistischer Kader, die sich im asketischen Milieu des protestantischen deutschen Jungbürgertums konstituierten, ersetzte den eschatologisch-utopischen Wärmestrom Herbert Marcuses oder auch Ernst Blochs.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Gemeinsam mit Robert Lorenz hat er den Band 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann herausgegeben.