[analysiert]: Matthias Micus über Rechtspopulismus in Europa.
Ein Gespenst geht um in Europa – wieder einmal. Doch handelt es sich dieses Mal nicht um den Kommunismus, sondern um den (Rechts-)Populismus. Und dieser zweite Geist scheint erheblich agiler zu sein als jener, der mit dem Fall der Mauer langsam aber sicher den Geschichtsbüchern Europas zugeordnet worden ist, schließlich spukt er seit einigen Jahren vor nahezu jeder bedeutenderen Wahl aufs Neue durch den Blätter-, oder wie man heute vermutlich eher sagen muss: Blätter-,Blog-und Bilderwald. Immer dann, wenn Stimmen- und vor allem Mandatsgewinne populistischer Parteien zu erwarten sind.
Insofern überrascht es nicht, dass „der“ Populismus vor der anstehenden Europawahl erneut in aller Munde ist. Könnten doch laut aktueller landesweiter Umfragen und ihrer Projektion auf die Ebene der Europäischen Union künftig deutlich mehr EU-Gegner vom rechten Rand im Parlament sitzen als bisher. Momentan sind es 55 Abgeordnete, künftig könnten es zwischen gut 80 und knapp 130 sein, also 10 bis 17 Prozent aller Europaparlamentarier.[1] Rechte und linke Europaskeptiker zusammen kommen diesen Zahlen zufolge sogar auf bis zu 27 Prozent der 751 Sitze, die im Europaparlament zu vergeben sind.[2]
Noch bemerkenswerter – und je nach politischer Neigung glänzender oder furchterregender – sind die demoskopischen Werte einzelner als populistisch bezeichneter Gruppierungen in einer Reihe von Mitgliedsländern des europäischen Staatenbundes: Eine Umfrage des Instituts IFOP aus dem Januar taxiert etwa die Partei von Marine Le Pen, den französische Front National, für die Mai-Wahl auf 23 Prozent der Stimmen, womit sie noch vor der konservativen UMP mit 21 Prozent und den Sozialisten mit 18 Prozent läge und somit zur stimmenstärksten Partei würde. Die United Kingdom Independence Party (UKIP) könnte nach jüngsten Umfragen gar mit etwa 26 Prozent der Stimmen rechnen – dies sind satte zehn Prozentpunkte mehr als 2009. Die finnische Partei „Die Finnen“ kann ihr Ergebnis der Europawahl 2009 von 9,8 Prozent vermutlich annähernd verdoppeln und damit ähnlich stark hinzugewinnen wie die Freiheitliche Partei Österreichs, nur dass letztere von einem höheren Wählerniveau aus startet und daher ebenso wie der FN und die UKIP deutlich über 20 Prozent erzielen dürfte. Und selbst in Deutschland prognostizieren die Meinungsforschungsinstitute einer Organisation aus dem rechtspopulistischen Spektrum, der Alternative für Deutschland (AfD), ein Ergebnis von sechs bis sieben Prozent, womit sie mindestens fünf Abgeordnete ins EU-Parlament entsenden könnte.
Aus dem bisher Gesagten ergeben sich nun freilich eine Reihe von Fragen: Warum schneiden, wie die Umfragen suggerieren, die Rechtspopulisten mutmaßlich gerade bei der Europawahl so stark ab? Weshalb sind die rechtspopulistischen Kräfte in den letzten Jahren und Jahrzehnten insgesamt so viel erfolgreicher als die linkspopulistischen Wettbewerber? Ist (Rechts-)Populismus rundweg schlecht, verwerflich, gefährlich, in Bausch und Bogen ablehnenswert? Und vor allem: Was ist überhaupt Populismus?
Die hier verwendeten Formulierungen „als populistisch bezeichneter Gruppierungen“ und „aus dem rechtspopulistischen Spektrum“ deuten schon darauf hin, dass Populismus eine schwammige, oft unreflektiert und vielfach willkürlich oder zur bloßen Diskreditierung des politischen Gegners verwendete Bezeichnung ist. Die Anfälligkeit gerade dieses Begriffs für derartige sinnentstellende Verwendungen resultiert aus dem Umstand, dass es sich beim Populismus um eine sogenannte „dünne Ideologie“ handelt.
Viel weniger als etwa bei der sozialistischen Ideologie oder gar dem Marxismus lassen sich die Konturen, Substanz und Abgrenzungen des Populismus bestimmen. Vielmehr zeichnet er sich als besagte „dünne Ideologie“ eben dadurch aus, sich mit Elementen anderer Weltanschauungen bzw. -Ismen kombinieren und verschmelzen zu lassen. So kann Populismus rassistisch ethnische Differenzen propagieren, in der Traditionslinie des Konservatismus die Bewahrung des Bestehenden fordern oder sich – gut sozialistisch – zum Fürsprecher des Restproletariats gegen die Herrschenden aufschwingen. Populismus wird deshalb gelegentlich auf ein spezifisches Handlungsmuster, auf einen Stil reduziert, er bezeichnet dann die rüpelhafte Attacke, den vulgären Wortgebrauch, das opportunistische Schielen auf Volkes Maul, wie es sich in Meinungsumfragen artikuliert.
Hier soll dennoch an einer auch inhaltlichen Bestimmung des Populismus festgehalten und – als sein wesenhaftes Bestimmungsmerkmal – auf das populistische Selbstverständnis als Sprachrohr des Volkes verwiesen werden. Wobei das Volk als homogene Einheit gedacht wird, die rigide gegen „oben“, also die abgekoppelte, korrupte, ausbeuterische Elite, ebenso wie gegen „außen“, d.h. Andersdenkende aller Art, abgegrenzt wird. Alles andere, wie die Forderung nach einer Ergänzung oder gar Ablösung des parlamentarischen Repräsentativsystems durch direktdemokratische Verfahren, die schlichten Parolen, hemdsärmelige Auftritte, die Elitenschelte, die Anti-Pose – alles andere folgt aus dieser Konzeption einer dem organischen Volkskörper unversöhnlich gegenüberstehenden Führungsgruppe und der eigenen Rollendefinition als verlängerter Arm des „einfachen Mannes“.
Und wieso sind die Rechtspopulisten gerade auf der europäischen Ebene so stark? Weshalb schneiden sie bei den Umfragen zur Europawahl weithin stärker ab als beispielsweise bei Prognosen für kommende nationale oder regionale Wahlen? Liegt es daran, wie bisweilen gemutmaßt wird, „dass die früheren ‚Nicht-Themen’ Europa und EU zunehmend zu einem zentralen Punkt im Parteienwettbewerb werden“[3]?
Zunächst einmal profitieren Populisten, wie Kleinparteien und verhältnismäßig organisationsschwache Wahlteilnehmer insgesamt, von dem geringen Bevölkerungsinteresse und der niedrigen Beteiligungsbereitschaft an Europawahlen. Sodann kommt ihnen als in der Regel nicht-etablierte Anti-Eliten-Parteien zugute, dass europaweite Abstimmungen als Zwischenwahlen gelten, deren Bedeutung gering eingeschätzt wird und die sich deshalb zur Bekundung von Unmut und zur Abstrafung der nationalstaatlichen Regierungen eignen.
Darüber hinaus aber ist Europa, ist die EU regelrecht der Inbegriff all dessen, was dem prekären unteren Gesellschaftsdrittel und den abstiegsgefährdeten Mittelschichten Angst macht. Die EU ist ein Musterbeispiel für die Entfremdung zwischen den Führungsgruppen und der großen Mehrheit der Bevölkerung: ob nun wegen der mangelhaften Wähl- und Abwählbarkeit ihrer Eliten in Europaparlament, Kommission und Europäischem Gerichtshof, aufgrund der Undurchschaubarkeit der politischen Entscheidungsprozesse oder der räumlichen Distanz der europäischen Institutionen von den Bürgern. Sie verkörpert den Neoliberalismus, da sich das europäische Modell des Ausgleichs zwischen Markt und Sicherheit im Zangengriff von neoliberalem Deregulierungsglauben und des Abwertungsdrucks durch einen gemeinsamen Markt sozialpolitisch stark ungleich entwickelter Regionen nicht hat halten lassen und zugunsten der Marktfreiheit aufgegeben wurde.
Zudem symbolisiert die EU mit ihren Regelungen zur Geld-, Güter- und Personenfreizügigkeit den Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Grenzen, die Öffnung für fremde Einflüsse, kurzum: die Globalisierung. Dagegen wenden sich die (Rechts-)Populisten mit dem Konzept eines „nationalen Kapitalismus“ und ihren Forderungen nach sozialstaatlichen Eingriffen zum Schutz der einheimischen Bevölkerung vor internationalen Billigkonkurrenten und Finanzmärkten. Und dabei treffen sie mit ihrer Symbiose aus wirtschaftlicher Liberalität nach innen und Protektionismus nach außen den Nerv der (tatsächlichen ebenso wie der nur gefühlten) Modernisierungsverlierer. Diese halten von Verstaatlichung und der Einschränkung ihrer Konsumfreiheit ebenso wenig wie sie an die Fähigkeit des Staates glauben, die Marktkräfte zu kontrollieren. Und vor diesem gegebenen, als unabänderlich hingenommenen Hintergrund fürchten sie die Konkurrenz von Einwanderern bei Sozialleistungen und auf dem Arbeitsmarkt.
Wichtiger noch: Die EU ist die Inkarnation „einer Gegenwart, die immer mehr Fremdes und Unbekanntes mit sich bringt und vielen das Gefühl vermittelt, die Kontrolle über ihre vertraute Welt zu verlieren“[4]. Es drohe also nichts Geringeres als der Verlust der Souveränität über das eigene Leben, über den persönlichen Erfolg, das individuelle Scheitern. In Zeiten des beschleunigten Wandels nimmt man diese Souveränität ohnehin als permanent gefährdet wahr.
Bleibt die Frage, warum es die Rechtspopulisten eher als linke populistische Bewegungen sind, die seit den 1980er und 1990er Jahren von den allgemeinen Umständen – von dem, was manche einen „populistischen Moment“ nennen – profitiert haben und noch immer profitieren. Im Aufstieg des Rechtspopulismus kommt das Sicherheitsbedürfnis und die zukunftslose Rückwärtsgewandtheit der Verängstigten und Marginalisierten zum Ausdruck. Die Linke ist ihrem Wesen nach bei allem Materialismus doch zugleich fortschrittsorientiert und der Zukunft zugewandt. Eine Perspektive, die für das Restproletariat, dessen Arm die Räder der Wohlstandsproduktion nicht mehr anhalten kann und sich nicht mehr im Bündnis mit einer wie auch immer gearteten neuen Zeit sehen kann, nichts mehr verheißt. Mit der Entbindung von unterem Gesellschaftsdrittel und Sozialdemokratie ist jener Kitt verloren gegangen, der die Arbeiter (und arbeitslos Gewordenen) mit dem linken Politiklager verknüpfte und ihre immer schon vorhandenen autoritären Denkmuster und Ressentiments auf linke Ziele hin ausrichtete. Und schließlich ist das Neubürgertum, sind die kulturellen, sozialen und medialen Meinungsführer seit den 1980er Jahren links(-liberal). Genau auf deren hedonistisches Genießertum, gegen das, was man als „Toskana-Kultur“ bezeichnet hat, den Latte Macchiato und die teuren Restaurants, deren Bildungsdünkel, Multikulturalismus und Gleichstellungspostulate, richtet sich das Ressentiment der rechtspopulistischen Agitatoren ebenso wie der Zukurzgekommenen.
Nun stimmt natürlich, dass vom Populismus Gefahren ausgehen, etwa die Verrohung der öffentlichen Umgangsformen. Zutreffend wird von einigen Sozialwissenschaftlern diagnostiziert, der Populismus betreibe eine „umgekehrte Psychoanalyse“. Populisten, meint das, würden die individuellen Verunsicherungen und neurotischen Ängste in der Bevölkerung aufgreifen, aber nicht, wie es der Psychoanalytiker tut, um sie zu überwinden, sondern um sie gezielt zu verstärken. Populisten lösen Probleme also nicht, sie verschärfen sie nur, sie kurieren Ressentiments nicht, indem sie diese thematisieren, sondern beuten sie aus, radikalisieren sie.
Doch weisen Populisten auch auf Probleme hin, sie machen auf thematische Leerstellen und inhaltliche Blickfeldverengungen auf Seiten der Entscheidungsträger aufmerksam. Populisten können Seismographen sein, welche die Eliten auf gesellschaftliche Veränderungen und Repräsentationsdefizite hinweisen, etwa – um noch einmal den Blick auf die Europawahlen zu richten – auf dem Feld der Europapolitik und der von den Etablierten weitestgehend einstimmig geteilten Befürwortung der europäischen Integration. Überhaupt wäre es eine Illusion zu glauben, der Erfolg des Populismus erkläre sich aus sich selbst heraus. Eher im Gegenteil, sein Aufstieg ist an die populistischen Erwartungen des Publikums geknüpft, an das, was Herbert Kitschelt den „populistisch plebiszitären Impuls“[5] genannt hat, also die politischen Normen breiter Bevölkerungsgruppen und deren Sicht auf das Politische.
Und wenn rechter Sympathien unverdächtige Autoren wie Slavoj Žižek beklagen, die Grundform der Politik bilde heute „die weitgehend entpolitisierte, sozial objektive, fachmännische Verwaltung und Koordination von Interessen“[6]; wenn der Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit die testosteronschwangeren Führungsfiguren von früher herbeisehnt und konstatiert, Aggressivität könne helfen, um große, schwierige Projekte durchzusetzen[7] – bedarf es dann nicht eines gewissen Maßes an Populismus? Wie ja auch die Sozial- und Christdemokraten in ihren goldenen Milieu- und Volksparteizeiten Politik nie auf die Sache, den Gedanken und den Verstand allein verkürzten, sondern immer um die Bedeutung von Emotionen, Leidenschaften, Geselligkeiten wussten. Und was folgt eigentlich aus Ralf Dahrendorfs Diagnose, was des einen Populismus sei des anderen Demokratie?[8]
Dr. Matthias Micus ist akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Heinen, Nicolaus /Hartleb, Florian: EU-Skeptiker im Aufwind? Wirtschaftspolitische Implikationen der Europawahl, 31.01.2014, abrufbar unter http://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE-PROD/PROD0000000000327966.pdf;jsessionid=DD6BFB134DFC02BB0C98313499534EE7.srv-net-dbr-de [eingesehen am 30.03.2014].
[2] Vgl. hierzu auch Christ, Sebastian: Europawahlen im Mai: Umfragen sehen Aufwind für Rechtspopulisten, in: huffingtonpost.de, 11.02.2014, abrufbar unter http://www.huffingtonpost.de/2014/02/11/europawahlen-rechtspopulisten_n_4766229.html [eingesehen am 01.04.2014].
[3] Vgl. Heinen/Hartleb: EU-Skeptiker im Aufwind?, a.a.O.
[4] Krupa, Matthias: Ein bisschen Wut muss sein, in: Die Zeit, 03.04.2014.
[5] Zit. in Berking, Helmuth: Populismus: Inklusion und Exklusion als politischer Stil, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 48/1997, S.25-32, hier: S.27ff.
[6] Zizek, Slavoj: Barbarei mit menschlichem Antlitz, in: Die Zeit, 16.04.2014.
[7] Kurbjuweit, Dirk: Republik Seelenruh, in: Der Spiegel, 50/2013, S.126-128.
[8] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit. Europäische Revue, (2003) 25.