[analysiert]: Franz Walter über den Einsatz von Populismus in Demokratien.
Populistische Anführer pflegen in der Regel robuste, verwegene Typen zu sein. Den meisten ist eine ordentliche Portion Chuzpe eigen, der wilde Antrieb, den eingeschlagenen Weg, koste es, was es wolle, fortzusetzen, die Tabubrüche und Regelverletzungen, welche dem Populismus inhärent sind, zu steigern, ja zu radikalisieren. So, auf diese Weise, machten bekanntlich – wie in den Monaten vor den anstehenden Europawahlen wieder und wieder mit besorgten Untertönen zu lesen war – einige radikal-populistische Parteien der rechten Mitte in der mit den 1980er Jahren beginnenden Krise der bisherigen Großparteien europaweit Furore; neben Österreich noch in der Schweiz, in den Niederlanden, in Belgien, Frankreich, in Skandinavien, neuerdings auch auf der britischen Insel. Einige politische Formationen gehörten ursprünglich zur liberalen Parteifamilie.
In den früheren Jahren, so zwischen 2001 und 2010, begannen in Deutschland einige Freie Demokraten wohl auch deshalb, ein wenig mit dieser Politmethode zu liebäugeln, trauten sich dann allerdings nur, mit den populistischen Streichhölzern zu kokeln, nie aber einen wirklichen Brand zu legen. Möllemann war die Ausnahme, den die Partei infolgedessen auch aussortierte. Westerwelle hat ebenfalls ab und an auf der populistischen Klaviatur zu spielen versucht, hat wie alle Populisten seit dem 19. Jahrhundert gegen „Denkverbote“ gewettert, sich in der Zeit der Opposition als Sprecher der „schweigenden Mehrheit“ in Szene gebracht, die sich den „Ritualen der politischen Korrektheit“ nicht unterwerfen würde.
Oft wurde gesagt, dass Westerwelle rundum gescheitert wäre, als er im Februar 2010 mit dieser Attitüde die „spätrömische Dekadenz“ geißelte, um den Tiefflug seiner Partei aufzuhalten. Ganz richtig war das nicht. In den zwei Wochen nach seinem Vorstoß rückte die FDP wieder nahe an die Zehn-Prozent-Grenze heran, wie die Demoskopieinstitute damals ermittelten. Nur: Als Außenminister konnte er die innere Konsequenz seiner politischen Strategie nicht fortführen. Einen gedrosselten Populismus jedoch gibt es nicht, jedenfalls nicht erfolgreich.
So war es bisher in der rechten Mitte der deutschen Republik. Bleibt es so auch mit der AfD? Bislang obsiegten im deutschen Kleinbürgertum die Skrupel und Ängstlichkeiten, durch den Appel au peuple die Geister nicht mehr einfangen zu können, die es von der Leine lassen müssten. Seine politischen Repräsentanten schienen zur politischen Brutalität dieser Art das Zeug nicht zu haben. Deutschland dürfte seit den 1950er Jahren unter den Demokratien weltweit den geringsten Anteil an organisiertem Populismus im parlamentarischen System aufweisen. Doch ragt das Land zugleich durch den höchsten Grad an einem aufgeregten Anti-Populismus hervor. Sicher, die tief besorgte Attitüde lässt sich mit einigen schwerwiegenden Argumenten rechtfertigen. Da sind die politisch verheerenden Schlussjahre der Weimarer Republik mit ihren aufgeputschten Extremismen. Und kaum zu leugnen ist, dass der politischen Kultur im einst mustergültig liberalen Holland und im sozialpartnerschaftlich lange befriedeten Österreich die brutalisierte Rhetorik Haiders, Fortuyns, Straches und Wilders nicht gut getan haben. Populisten dieses Schlages favorisieren das Schwarz-Weiß, sind als Individuen oft reichlich egomanische Gestalten mit einem evident verkorksten Seelenleben, zügellos in ihrer Geltungssucht und immer wieder Opfer autoaggressiver Selbstzerstörung.
Im Grunde befinden wir uns tatsächlich geradezu idealtypisch in einer Situation, die Politikwissenschaftler den „populistischen Moment“[1] zu nennen pflegen. Die europäischen Eliten arrangieren unter sich eine Politik, die sie apodiktisch als nicht diskursfähig dekretieren. Mit ihren Fachkürzeln wie ESM oder EFSF halten sie das Volk schon semantisch auf Abstand, nähren beim Demos das Gefühl der Ohnmacht. Die Rechtsordnung und die politischen Legitimationen werden je nach Opportunität und nach oft sie selbst überraschenden Ereignissen umgedeutet oder zumindest elastisch zurechtgebogen. Die politische Führung verliert auf diese Weise, was jede Repräsentation zwingend benötigt: den Handlungskredit, der auf Vertrauen basiert. Doch zeichnet sich Deutschland weiterhin nicht durch ein Übermaß an populistischer Unruhe aus. Eher irritiert der Mangel an republikanischem Selbstbewusstsein, sich der den nationalen Parlamenten und der Öffentlichkeit entzogenen Notstandspolitik exklusiver politischer und ökonomischer Exekutiven zu widersetzen und sie zu Diskussionen/Referenden mit alternativen Ausgangsmöglichkeiten zu zwingen.
Doch mag sich so das berühmte Gelegenheitsfenster für Populisten öffnen, da eine gesellschaftlich gravierende Konfliktlinie politisch unrepräsentiert bleibt, die somit neu und jenseits der institutionellen Konventionalität politisiert werden kann.[2] Das war schon – oft übersehen – in der Sattelzeit der Parteibildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so. Zu Beginn stand auch damals bereits stets der Appel au peuple. Der frühe Liberalismus war in seiner Verschmelzung mit dem Nationalismus und der Nationalbewegung originär populistisch. Das katholische Milieu agierte im Kulturkampf der 1870er Jahre mit genuin populistischen Methoden gegen die protestantisch-liberale Führungsschicht in Staat, Wirtschaft und an Universitäten.[3] Für das messianische proletarische Welterlösungsversprechen und die bipolare Klassenanalyse der marxistischen Vorkriegs-SPD galt das gleiche. Die Konservativen gerieten in den 1890er Jahren durch die Allianz mit dem wüst sozialreaktionär agitierenden „Bund der Landwirte“ in einen populistisch lärmenden Verbund.[4] Noch die basisdemokratische, zunächst antiparlamentarische Erweckungsagitation der Grünen stand, dann hundert Jahre später, durchweg in populistischer Tradition. Auch die (bestenfalls wohl nur halbe) Neubildung der Linken im letzten Jahrzehnt verdankte ihren zuvor schwerlich absehbaren Erfolg zu einem Gutteil dem populistischen Geschick des Oskar Lafontaine.[5] Schließlich wiesen die Piraten ebenfalls die typischen Wesenszüge des Populismus aus, da auch sie alles Übel und Heil von Gesellschaft und Politik aus einem Punkt heraus interpretierten und mit Hilfe der von ihnen feilgebotenen Zauberformel die identitäre Übereinstimmung, ja Verschmelzung von Volk, Willensbildung und demokratischen Vollzug herzustellen versprachen.[6] „Populistische Lösungen können sich als die wahre Demokratie ausgeben, weil sie die schnelle Umsetzbarkeit von Volks- und Wählerwillen suggerieren können.“[7]
In allen historischen Fällen speiste sich der Populismus in seiner parteibildenden Gründerzeit aus zunächst rückwärtsgewandten Motiven, aus der Erinnerung an traditionelle Rechte, die durch jähe gesellschaftliche Modernisierungsschübe unbarmherzig in Frage gestellt wurden. Die populistische Empörung darüber wirkte eben parteibildend, aktivierend und mobilisierend. Im Laufe einer langen parlamentarischen Selbsterziehung indes blieb nicht viel davon übrig. Die Realentwicklung von Sozial- und Christdemokraten, Liberalen und Ökolibertären jedenfalls macht deutlich, dass populistische Anfänge keineswegs in die Permanenz eines erregten Fundamentalismus münden müssen. Allerdings auszuschließen ist es nach den bisherigen historischen Erfahrungen auch nicht: Wo der charakteristische Radikalsierungsstoff des Populismus in Gänze freigelegt und der eskalierende Gebrauch einer bedenkenlosen Führung überantwortet wurde, ohne dass die Bewegungsideologie begrenzende, ethisch bindende Selbstgebote enthielt, da waren die destruktiven Kräfte, die Lust an der Enthemmung und Zerstörung letztlich nicht mehr zu bremsen oder gar zu domestizieren. Ob die etwa vom Front National verkündete Strategie der „Normalisierung“ und „Entdiabolisierung“ seiner selbst wirklich zu parlamentarischen Adaptionen und zur Bändigung ihrer Anhängerschaft führen wird bzw. überhaupt führen soll, ist keineswegs ausgemacht.[8]
Nur: Die populistischen Abenteurer kommen nicht, gleichsam wie Zieten aus dem Busche, in einer rundum erfreulichen Demokratie bar jeglicher Ursachen nach oben. Populisten finden lediglich dann Gehör und Zulauf, wenn in einer Gesellschaft etwas nicht stimmt, präziser: wenn die staatlichen Repräsentativorgane ihre Bindungen zu den Bürgern eingebüßt haben, wenn der Souverän folglich mit der etablierten politischen Klasse fremdelt, wenn sich ganze Gruppen von den verborgen operierenden Netzwerken und Aushandlungssystemen der Politik und Finanzökonomie ferngehalten, wenn sie sich kulturell enteignet, vor allem: wirtschaftlich betrogen fühlen. Populisten brauchen den Resonanzboden der Deformation, sonst bleiben ihre Künder nur verschrobene Sektierer für exaltierte Randgruppen. Daher ist zugkräftiger Populismus ein verlässlicher Seismograph für das, was schief läuft zwischen sozialen wie kulturellen Eliten hier und niedriger geschichteten Bürgern dort, auch: zwischen politischen Institutionen im Staatssektor oben und gesellschaftlichen Gruppen im Wurzelbereich unten.[9] Populismus ist daher auch kein Monopol der politischen Rechten, auch kein Alleinstellungsmerkmal einer in Krisenzeiten panisch reagierenden sozialen Mitte. Mit dem klassischen Gestus und Duktus des Populismus erzielte, nochmals, die Linke Lafontaines und Gysis bei den Bundestagswahlen Resonanz in solchen Schichten, die sich bereits in die Wahlenthaltung und Teilhabelosigkeit verabschiedet zu haben schienen. Insofern ist Funktion und Wirkung des Sozialpopulismus zumindest ambivalent: Er kann Gruppierungen reaktivieren, die sich zuvor nahezu apathisch ihrem Ausgrenzungsschicksal ergeben hatten.
Wenn die Eliten, noch dazu in transnationalen Zirkeln oder bürokratischen Stäben, zu sehr zusammenrücken und sich abschließen, in ihrer Kommunikation durch sprachliches Distinktionsgebaren abgrenzen, dann schlägt die Stunde des antielitären Protests, der eben nicht ohne allen Grund Salz in die Wunden eines monolithisch verengten politischen Diskurses streut. Der Erfolg der charismatischen Außenseiter weist stets auf Defizite der herrschenden Eliten hin, auf den Niedergang der öffentlich-parlamentarischen Rede, auf die Erfahrungsverdünnung in der politischen Klasse, auf den Mangel an Bildern, Phantasie, Sinnlichkeit in der offiziellen politischen Ansprache. Populisten finden Zuspruch, wenn sie eine volksnahe Sprache verwenden, zu der die Eliten nicht mehr in der Lage sind. Immer noch wird der zunehmende Tribalismus der modernen Gesellschaft in sprachlichen Eigenkulturen unterschätzt. Die populistische Agitatoren reüssieren, wenn die Sprache des politischen und ökonomischen Establishments zum Distinktionsjargon wird – introvertiert, abgehoben, technokratisch, herrisch.
Sie leben davon, Affekte fortwährend zu aktivieren, statt sie zu dämpfen. Sie agieren nicht mehr wie früher die Altliberalen als primär elitärer Interessenverein der „Wohlhabenden“, sondern als Protestvehikel (auch) der „einfachen Leute“, verfolgten gewissermaßen – nach oben leise, nach unten schrill – das „Bündnis von Elite und Mob“ (Jan Philipp Reemtsma). Schließlich haben die Modernisierungsströme der letzten Jahrzehnte in der Gesellschaft nicht nur links-libertäre Wertemuster begünstigt und postmaterialistisch-ökologische Strömungen genährt, sondern ebenso prononcierte Gegenwelten dazu gespeist. Hier siedelte Verdrossenheit über den Staat, Verachtung der großen Volksparteien, aber erst recht Verdruss über Grüne und ihre Ökopredigten, Ärger über hohe Abgabelasten, Wut über den ihn zu teuren Wohlfahrtsstaat, Misstrauen gegen schlecht ausgebildete Migranten bzw. Ablehnung von Einwanderung, dem Fremden überhaupt.
Eliten schwärmen von Globalisierung, Internationalisierung, Mobilität und Flexibilität. Ganze Bevölkerungssegmente hingegen bekommen es mit der Angst zu tun, wenn sie diese Begriffe nur hören. Eliten fordern Weltoffenheit, Elastizität, lebenslanges Lernen ein. Das alles löst jedoch (zumindest) bei etlichen Älteren mit formal geringer Bildung in ihrer oft kleinstädtischen Sesshaftigkeit blanke Furcht und heftige Besorgnis aus. Zugleich sperrt sich der Effizienzdiskurs, da er für sich unzweifelhafte Autorität einer gänzlich alternativlosen Sachverständigkeit erheischt, gegen jedes Veto, also: gegen das demokratische Versprechen.
Populismus gedeiht vorwiegend in gesellschaftlichen Räumen, die durch den Niedergang von zuvor die Lebenswelten prägenden Vergemeinschaftungen und Normen sozialkulturell entleert wurden. Populismus und geistige Obdachlosigkeit, organisatorische Verwaisung und politischer Repräsentanzverlust gehören zusammen.[10] Akademische Menschen mit reichlichen Vorräten an Einkommen und Bildung haben sich daran gewöhnt, solcherlei Entbindungen in säkularisierten Gesellschaften als wunderschönen Zugewinn an Freiheit und Optionen wertzuschätzen. Menschen ohne diese Ausstattung hingegen, besonders die große Zahl schlecht ausgebildeter, in vielerlei Hinsicht nicht mehr nachgefragter Männer[11], reagieren verunsichert, fühlen sich allein gelassen, ungehört, sind infolgedessen empfänglich für die populistische Einrede. Die von den wissensgesellschaftlichen Gewinnern goutierte Modernität und gepriesene Individualität sind stets auch Schrittmacher für populistisch nutzbare Ängste, die allein als „Wohlfahrtschauvinismus“[12] kritisch-verächtlich abzustempeln weder analytisch hinreichend noch politisch klug ist. Jedenfalls: Der Fortschritt ist ohne des Janusgesicht schwerlich zu haben. Der Populismus ist insofern auch ein elementarer Seismograph für Fehlentwicklungen in Demokratien, bietet infolgedessen die Chance zur Selbstkorrektur eines offenen Systems. Was etwa die Linke zu bedenken hätte, angesichts der rapiden Vertrauensverluste bei den „unsichtbaren“[13] Franzosen, die ihre Ängste und ihre Wut in der Politik nicht berücksichtigt sehen, beschreibt klar der französische Soziologe Alain Mergier:
„Warum wenden sich die Unterschichten und die Mittelklassen immer mehr der Front national zu? Nicht weil diese Partei einen fremdenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen Diskurs pflegt, sondern weil ihr Diskurs einen Spiegel hinhält, in dem sie ihre eigenen sozialen Erlebnisse wiedererkennen: das Brüchigwerden der sozialen Verbindungen, deren wachsende Verwundbarkeit, die Nichtvorhersehbarkeit des nächsten Tages. Der Vorwurf, den sie der UMP und der PS machen, besteht darin, sich angesichts dieser Zerstörung ihres alltäglichen Lebens taub zu stellen. (…)Von 2005 an können wir eine Veränderung der Stimmabgabe für die Front national feststellen. Die Protestwahl ist zu einer Überzeugungswahl übergegangen, nicht so sehr was das Programm angeht, sondern eher was die Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen betrifft, die sich von den traditionellen Parteien im Stich gelassen fühlen. Diese Entwicklung ist mit einer Verschlimmerung des Gefühls des […] ‚sozialen Abstiegs‘ (‚le descenseur social‘) verbunden, das heißt mit dem Gefühl einer unerbittlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen, begleitet von einem genauso unerbittlichen Gefühl, dass genau dies von Seiten der UMP wie auch von der PS geleugnet wird. Man protestiert nicht mehr gegen die Taubheit [der traditionellen Parteien, d.V.], wenn man für die FN stimmt, denn man hat die Nutzlosigkeit dieses Protests erlebt. Man wählt die FN vielmehr, weil man sich eine Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse erhofft, die das Jahr 2002 vorstellbar gemacht hat.“[14]
Lernbedarf gibt es auch angesichts eines zunehmend geringeren Organisationsniveaus und der abnehmenden gesellschaftlichen Verwurzelung der klassischen Parteien, die ihre Verluste an Mitgliedern, Wählern und Bodenhaftung ganz mit unaufhebbaren Entwicklungen in der Soziologie moderner Nationen zu rechtfertigen versuchen. Aber in den neuen rechtspopulistischen Formationen nimmt seit Jahren die Zahl der Mitglieder zu. Sie mobilisieren an Wahltagen gerade solche Bürger, die schon politisch-parlamentarisch ausgestiegen zu sein schienen. Und sie präsentieren Kandidaten mit intakten Vertäuungen in den jeweiligen Regionalkulturen und Lebenswelten.
Wenn man Populismus in erster Linie als Politik- und Mobilisierungstechnik in der Massendemokratie charakterisiert[15], mögen sich einige der Furchtsamkeiten der Türsteher des puren Rationalismus auflösen. Schon Max Weber hat auf den engen Zusammenhang von Demokratisierung und Populismus hingewiesen, hat den populistischen Politiktypus mit der Entstehung des Verfassungsstaates und der Entwicklung der Demokratie verknüpft, statt ihn als ungehörigen Bastard aus der Familie auszuschließen. Schließlich weiß jeder politisch aktive Bürger, dass auf einer Kundgebung am meisten Energien freigesetzt werden, wenn der Redner in einfacher, bildreicher, zuspitzender Sprache die Kampagne führt. Im Grunde ist auch ein dynamischer, republikanischer Sozialreformismus ohne einen Schuss Populismus schwer vorstellbar, historisch auch kaum auffindbar. Staubtrocken, stocknüchtern, mit allein redlicher Solidität wird man weitreichende politische Entwürfe in den Krisen moderner Gesellschaften mit Erfolg nicht unter das Volk bringen können.
Natürlich lauern hier auch Gefahren. Denn Populisten agitieren gerne nach Schwarz-Weiß-Mustern. Ihre Rhetorik unterminiert oft auch sinnvolle, ja unverzichtbare Tabus, ihr Kampagnenstil polarisiert häufig die politische Kultur. Populistische Anführer sind nicht selten von Ehrgeiz getriebene Typen mit einer ordentlichen Portion Chuzpe. Populisten mögen im tiefsten Inneren ihr Volk gar verachten, da sie es ja für leicht verführbar halten. Aber genuine Populisten lieben diesen Moment, das Bad in der Menge, das Gekreische ihrer Anhänger, die enthemmten Gefühlsausbrüche der Masse. Sie lieben die Tabubrüche und Regelverletzungen, mit der sie ihre Anhänger entzücken und ihre Gegner zur Weißglut treiben. Und sie beugen sich lustvoll dem immanenten Gesetz steter Radikalisierung ihrer Methode. Aber sie sind mittlerweile auch dazu in der Lage, sich zeitweise zurückzuziehen, still zu halten, versöhnlich zu klingen, taktische Allianzen in verschiedene Richtungen einzugehen, als normaler und legitimer Faktor im Prozess parlamentarischer Auseinandersetzungen und Willensbildung betrachtet werden zu wollen. Mehr gar noch: Die furiosen populistischen Heillande und Antreiber der Frühzeit spielen mittlerweile kaum noch die ausschlaggebende Rolle. Die charismatischen Wunderheiler sind nach und nach von kühlen Organisatoren effizient mobilisierender Wahlkampfmaschinen mit einer Reihe von gut ausgebildeten Rednern und Kümmerern ersetzt worden.
Gleichwohl: Demokratien sind besser dran, wenn sich diese sozialmoralisch ungebändigten Parteien der Frustrationsverstärkung und Feindbildaktivierung nicht zu agil im Alltag umtreiben. Doch wenn sie das tun und dabei Gehör finden, dann sollten auch liberale Bildungsbürger nicht lediglich distinguiert die Nase rümpfen, sondern präzise die Fehlentwicklungen im Verhältnis zwischen Eliten und dem Rest in Politik, Ökonomie, Kultur und – keineswegs zuletzt – Medien unter die Lupe nehmen.[16] Im Übrigen: Öffentlicher Streit und politischer Diskurs können nicht nach den Regeln eines intellektuellen Salons verlaufen. In Massengesellschaften gehören Emotionen dazu, zuweilen auch das große Theater, entfesselte Leidenschaften, erschütternde Dramen. Ignorieren Politiker des demokratischen Zentrums solcherlei Gefühlslagen, argumentieren sie mit gestanzten Rationalisierungsformeln staubtrocken darüber nur gleichgültig hinweg oder erwecken gar den Eindruck, durch ihren steten lehrerhafter Populismus-Vorwurf von oben sich einzig neue Herausforderer von unten zwecks purer Machterhaltung vom Leibe halten zu wollen. Dann allerdings schlägt die Stunde der kalten Tabubrecher und demokratiesprengenden Anheizer der kochenden Volksseele: der dann in der Tat gefährlichen Radikalpopulisten.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.
[1] Siehe etwa Priester, Karin: Der populistische Moment, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2005, S. 301-310.
[2] Vgl. Canovan, Margaret: Taking politics to the people: populism as the ideology of democracy, in: Mény, Yves/Surel, Ives (Hg.): Democracies and the populist challenge, Basingstoke u. a. 2002, S. 25-44.
[3] Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch: Deutschland 1870-1918, München 1988, S. 9ff.
[4] Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1849-1915, München 1995, S. 1060-1067 u. S. 1045-1050.
[5] Vgl. Walter, Franz: Die Linkspartei zwischen Populismus und Konservatismus. Ein Essay über „Vergreisung als Chance“, in: Tim Spier u.a.. (Hg.): Die Linkspartei, a. a. O., S. 339-343.
[6] Hensel, Alexander u.a.: Meutereien auf der Deutschland. Ziele und Chancen der Piratenpartei, Berlin 2102, S. 67 ff.
[7] Nassehi, Arsim: Die großen Vereinfacher, in: Süddeutsche Zeitung, 28.4.2011.
[8] Siehe hierzu schon: O.A.: La vraie nature de Marine Le Pen, in: Le Monde, 23.9. 2012.
[9] Hierzu Kaltwasser, Christóbal Rovira: Populismus Jenseits von Dämonisierung und Vergötterung, in: Berliner Debatte Iniatial 29. 2009, H.1, S. 69-77.
[10] Vgl. Kazin, Michael: The Populist Persuasion: An American History, New York 1995; Cuperus, Rene: The populist defiency of European social democracy: the Dutch experience, in: Browne, Matt/Diamond, Patrick (Hg.): Rethinking Social Democracy, London 2003, S. 29 ff.
[11] Vgl. Geden, Oliver: Männerparteien. Geschlechterpolitische Strategien im österreichischen und schweizerischen Rechtspopulismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 46/2004, S. 24-30.
[12] Etwa Mau, Steffen: Die neue Krankheit, in: Süddeutsche Zeitung, 14.2.2014.
[13] Vgl. Fressoz, Françoise: Le coup de semonce de ‘la France des invisibles’, in: Le Monde, 24.4.2012.
[14]Zit. nach Fressoz, Françoise: „‚Le FN n’est plus à la marge du politique, il en devient le centre‘“, in: Le Monde, 18.09.2013 (Interview mit Alain Mergier).
[15] Puhle, Hans-Jürgen, Zwischen Protest und Politikstil: Populismus, Neo-Populismus und Demokratie“, in: Werz, Nikolaus (Hg.): Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 15-43.
[16]Vgl. Dubiel, Helmut: Populismus und Aufklärung, Frankfurt 1986.