Göttingens Tradition der Nonkonformisten

[analysiert]: Robert Lorenz über die Tradition des Widerstands an der Universität Göttingen.

In diesem Jahr begeht die Georg-August-Universität Göttingen ihr 275-jähriges Jubiläum. Dabei kann sie auf eine ereignisreiche Geschichte zurückblicken – auffällig ist vor allem eine bemerkenswerte Häufigkeit von politischen Aktionen ihrer Hochschullehrer. Insbesondere drei Begebenheiten vermitteln den Eindruck, als gebe es eine regelrechte Tradition des Protests und der Courage, als sei der politische Nonkonformismus eine lokale Spezialität der südniedersächsischen Universitätsstadt. Aber was steckt hinter dieser Vermutung?

Im vormärzlichen Königreich Hannover richteten im November 1837 sieben Professoren[1] eine Protestschrift an den gerade inthronisierten König Ernst August I. – denn dieser hatte die erst vier Jahre zuvor in Kraft getretene Verfassung aufgehoben, wogegen nun die anschließend sogenannten „Göttinger Sieben“ Einspruch erhoben. Postwendend verloren diese Protestierenden durch ein herrschaftliches Dekret ihre Lehrstühle, drei von ihnen wurden sogar des Landes verwiesen. Ein gutes Jahrhundert darauf, zwischen Mai und Juni 1955, erzwang die Universität den Rücktritt des soeben berufenen Kultusministers Leonhard Schlüter (FDP), indem mehrere Professoren von ihren Ämtern in der universitären Selbstverwaltung zurücktraten, darunter der Uni-Rektor Emil Woermann. Denn Schlüter war durch rechtsextreme Äußerungen aufgefallen und obendrein Eigentümer eines Verlags, der Schriften rechtsradikaler und antisemitischer Autoren vertrieb; ein weiterer Verlag seiner Gattin publizierte Literatur von ehemaligen SS-Offizieren und nationalsozialistischen Kriegshelden. Nur zwei Jahre später kritisierten 18 Atomphysiker[2] in der sogenannten „Göttinger Erklärung“ im April 1957 in den großen westdeutschen Tageszeitungen die Verteidigungspolitik der Bundesregierung und forderten, dass die Bundesrepublik „ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet“[3].

Jedenfalls: Die „Göttinger Sieben“, die „Schlüter-Affäre“ und die „Göttinger Achtzehn“ begründeten den weltbekannten Ruf der Universität Göttingen als Ausgangspunkt politischer Verantwortungsübernahme durch Nichtpolitiker, Hochschullehrer zumal. Die erstaunliche Häufigkeit, mit der Göttinger Wissenschaftler – mit denen sich die Vorstellung von exakter Erkenntnis und zuverlässigem Urteil verbindet – in die Politik, einen Bereich, der als unberechenbar gilt, eingriffen, suggeriert eine besondere Aura Göttingens als Ort mutigen Bürgersinns, an dem sich das Ideal des verantwortungsbewussten Gelehrten verwirklicht. Wünscht man sich nicht gerade heute – in Zeiten der vermeintlichen Postdemokratie, in der politische Mitsprache nur noch in der Form nach intakten Verfahren lediglich simuliert wird, oder auch vor dem Hintergrund entfesselter, gesellschaftsbedrohender Finanzmärkte – eine Wiederkehr des politischen Professors in der Tradition des Göttinger Geistes? Doch zunächst wäre zu ergründen: Aus welchen Energien speiste sich jeweils die intellektuelle Dissidenz von Orientalisten, Chemikern oder Agrarwissenschaftlern, was führte zur jeweiligen Gelehrtenfronde?

So lohnt sich ein detaillierterer Rückblick auf die drei Daten, auf die in der Universitätschronik nicht ohne Stolz verwiesen wird.[4] Bei aller historischen Verschiedenheit der Fälle lassen sich dennoch acht Gemeinsamkeiten ausmachen: Erstens begehrten bei allen drei Protesten Universitätsprofessoren gegen die staatliche Exekutive auf – gegen einen monarchischen Machthaber, gegen eine Landes- und gegen eine Bundesregierung. Jedes Mal lag darin viel Potenzial, die notorische Skepsis der Bürger gegen politische Machthaber zu mobilisieren: die Causa Schlüter im Jahr 1955 habe z. B. gezeigt, dass es „zuweilen einer Aktion unabhängiger Männer außerhalb der politischen Parteien bedarf, um den Clan der politischen Parteien zur Räson zu bringen, der sich so leicht keiner Zumutung an die Wählerschaft schämt“[5].

Zweitens war keiner der Proteste ohne eine hierfür ausschlaggebende Vorgeschichte: So ließen sich die Göttinger Sieben erst in einem zweiten Schritt auf eine Konfrontation mit der Politik ein, wandten sich zunächst also gar nicht an den König, sondern an das Kuratorium der Universität. Im Schlüter-Fall war eine mehrfache Intervention der späteren Protestler gescheitert, die Berufung Schlüters auf einem informellen, nicht-öffent­lichen Weg zu verhindern. Nicht anders verhielt es sich bei der Göttinger Erklärung, der ein Gespräch mit dem zuständigen Fachminister Franz Josef Strauß vorangegangen war. Drittens richteten sich alle drei Aktionen gegen einen verwundbaren Gegner – den selbstherrlichen König, dessen autokratisches Gebaren in einer zunehmend liberal denkenden Gesellschaft anachronistisch wirkte; einen frisch gewählten Ministerpräsidenten (Heinrich Hellwege), der allem Anschein nach die Moral seinen persönlichen Machtinteressen unterordnete; und einen Bundeskanzler (Konrad Adenauer), der im Wahlkampf sämtliche Zweifel an seiner politischen Kompetenz auszuräumen hatte.

Viertens war es in allen drei Fällen die Empörung einer weit über die Göttinger Stadtgrenzen hinausreichenden Öffentlichkeit, von der sich die historische Bedeutung des jeweiligen Ereignisses ableitete. 1837 verbreiteten schreibwütige Studenten Kopien in ganz Deutschland, daneben war die Protestation Gegenstand der liberalen Presse und der bildungsbürgerlichen Privatkorrespondenz; 1955 kam es im In- wie Ausland zu Solidaritätsbekundungen, Analysen und Berichten; und 1957 waren die Achtzehn mehrere Wochen lang in der Tagespresse, auch ausländische Zeitungen berichteten.

Alle drei Proteste beriefen sich, fünftens, auf die unerschütterliche Autorität des Gewissens. Die Sieben wollten die monarchisch angeordnete Verfassungsrevision nicht einfach hinnehmen; der Rektor und seine Kollegen rechtfertigten ihren Widerstand 1955 mit einer selbstempfundenen „Mitverantwortung für die Würde der Demokratie“[6]. Und auch die Achtzehn begründeten ihren Schritt mit der Verantwortung, die ihnen ihre Stellung als Experten und Urheber der Atomforschung auferlegt habe.

Sechstens profitierten bei allen drei Protesten einige der Professoren von ihrer Tat – in Form von Prestige und Prominenz. Die Göttinger Sieben sind seither das Symbol schlechthin für couragierte Bürger, die heldenhaft dem Fürstenthron trotzten; ihnen wurden Denkmäler errichtet und man benannte öffentliche Plätze nach ihnen – in Büchern zur deutschen Geschichte haben sie einen festen Platz eingenommen. Mit ihrer Auflehnung gegen die Schlüter-Berufung dokumentierte die Göttinger Universität zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur vor den Augen der Weltöffentlichkeit ihre Entschlossenheit, mit aller Härte gegen rechtsradikale Einflüsse vorzugehen – dafür erhielten die Beteiligten viel Lob. Die Göttinger Achtzehn avancierten ebenfalls zu Helden der öffentlichen Meinung; für ihren Kopf, Carl Friedrich v. Weizsäcker, war die „Erklärung“ sogar das Vehikel, mit dem er anschließend zu einem politischen Intellektuellen ersten Ranges avancierte.

Eine siebte Gemeinsamkeit der drei Proteste besteht in der komplexen Motivation – denn die Professoren waren von unterschiedlichen Beweggründen zu ihren Aktionen veranlasst worden. Nicht alle der Göttinger Sieben waren z. B. ausschließlich, jedenfalls zwingend nachweisbar von einem moralischen Anspruch getrieben – so suchte z. B. der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht eine von ihm selbst vertretene Staatsrechtstheorie zu etablieren, deren Gültigkeit er durch sein Handeln untermauern wollte; und vieles deutet darauf hin, dass der Germanist Jacob Grimm in der Öffentlichkeit ein pathosreiches Bekenntnis ablegen wollte, um sich innerhalb der Wissenschaftsgemeinde zu exponieren. Und auch die dezidierte Stellungnahme der Göttinger Universität in der Schlüter-Affäre – die sich unbestreitbar positiv auf die demokratische Kultur der jungen Bonner Republik auswirkte – gründete unter dem Mantel der kollektiven Interessenvertretung, zumindest in Teilen, auf einem egoistischen Interesse: Durch besonders integres Verhalten galt es seinerzeit, die nicht selten problematische Verwicklung einiger Göttinger Professoren in die Verbrechen der NS-Zeit zu überspielen und überdies die Beziehungen zu ausländischen Forschungseinrichtungen nicht zu belasten – denn mit einem rechtsextremistischen Kultusminister drohte die Meidung des Göttinger Campus. Bei den Göttinger Achtzehn dürfte die Gewissensnot zwar einen Teil, jedoch nicht das alleinige Motiv ausgemacht haben – v. Weizsäcker suchte nach einer Möglichkeit zur öffentlichen Intervention, die Nobelpreisträger Werner Heisenberg und Otto Hahn wollten den Verdacht vermeiden, die westdeutsche Atomforschung habe sich in den Dienst des Militärs gestellt.

Achtens offenbart sich mit dem Blick auf 1837, 1955 und 1957 ein Reaktionsmuster der herausgeforderten Politiker. Der hannoversche König Ernst August I. erboste sich über die Widerworte der sieben Professoren, die er als unverfrorenes Benehmen seiner eigentlich untertänigen Beamten sowie einen unzulässigen Eingriff in seine Domäne betrachtete. Der Ministerpräsident Heinrich Hellwege warf ihnen vor, sich aufgrund eines fehlenden demokratischen Mandats ungebührlich „als eine ernste Gefahr für den Gedanken der parlamentarischen Demokratie“[7] in die verfassungsmäßige Zuständigkeit des Parlaments einzumischen und zog ihre politische Neutralität in Zweifel, indem er ihnen eine katholisch und sozialdemokratisch inspirierte Gegnerschaft zur FDP unterstellte. Adenauer und Strauß sprachen den Wissenschaftlern ebenfalls die Zuständigkeit für die (Verteidigungs-)Politik ab und echauffierten sich in den Medien über diesen offenbar illegitimen Appell.

Die zivilgesellschaftlichen Proteste Göttinger Universitätsangehöriger 1837, 1955 und 1957 schufen und verfestigten insgesamt ein Image der Stadt und ihrer akademischen Bildungseinrichtung, das diese – jeweils vor einem brisanten gesellschaftlichen Hintergrund – als besonderen Ort beständiger und vorbildhafter Moral, als wiederholtes Exempel demokratischer Gesinnung und Verantwortung auswies. Vermutlich begründeten die Göttinger Sieben eine Tradition ziviler Moral, gerade weil sich nachfolgende Protestaktionen historisch auf sie berufen konnten, mit dem Anspruch, sie fortzuführen.

Aus allen drei Fällen ging die Stadt Göttingen jeweils mit national und international gesteigerter Reputation hervor, erwarb sich das Ansehen einer engagierten Zivilgesellschaft. Jedoch sollte dabei nicht vergessen werden: So wünschenswert ihr Beitrag für die demokratische Kultur und eine kritische Öffentlichkeit auch sein mag, so lag der ursprüngliche Antrieb zu den drei Protesten zu einem nicht geringen Anteil in selbstdienlichen Zielen, waren insbesondere die vehementen Stellungnahmen gegen Schlüter und die Atombewaffnung darauf aus, Göttingen wenige Jahre nach NS-Diktatur und Kriegstreiben als antinationalsozialistisch und pazifistisch gesinnten Forschungsstandort auszuweisen.

Dr. Robert Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 


[1] Dies waren der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht, der Staatsrechtler Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Georg Heinrich August Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, die verschwisterten Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm sowie der Physiker Wilhelm Eduard Weber.

[2] Diese waren: Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker und Karl Wirtz.

[3] Siehe z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. April 1957.

[4] Siehe http://www.uni-goettingen.de/de/52652.html [zuletzt eingesehen am 03.09.2012].

[5] O.V.: Ein Feuer soll lodern, in: Der Spiegel, 15.06.1955.

[6] Professor Wolfgang Trillhaas zitiert nach Marten, Heinz-Georg: Der niedersächsische Ministersturz. Protest und Widerstand der Georg-August-Universität Göttingen gegen den Kultusminister Schlüter im Jahre 1955, Göttingen 1987, S. 48.

[7] Heinrich Hellwege zitiert nach ebd., S. 42.