Schon seit Längerem litt Portugal unter Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung. Mit der Schuldenkrise hat sich dieses Problem verschärft. Größere Proteste wie am 15. September 2012[1] blieben bislang allerdings die Ausnahme. Entgegen des weltweiten Trends regt sich ausgerechnet abseits von Massendemonstrationen politischer Widerstand gegen Kürzungsmaßnahmen und Deregulierung. Die portugiesischen Bürger reichten direkt einen Gesetzesentwurf zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung im Parlament ein. In den kommenden Tagen wird über diese Gesetzesinitiative abgestimmt, für die verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen, begleitet von einer aufwändigen Kampagne, monatelang mehr als 35.000 Unterschriften sammelten.
Freilich war der Anteil prekär Beschäftigter in Portugal schon immer hoch.[2] Im Zuge der Finanzkrise sind Teilzeit- und Zeitarbeit zwischen 2007 und 2010 jedoch nochmals angestiegen, während der Anteil unbefristeter Verträge stark abgenommen hat.[3] Aufgrund der hohen Arbeitslosenrate und der oft komplett fehlenden staatlichen Unterstützung im Fall von Arbeitslosigkeit ist der Druck, eine prekäre Beschäftigung anzunehmen, gewaltig.
Dies trifft vor allem junge Menschen: Unter den 16-24-Jährigen sind aktuell 36,4 Prozent arbeitslos. Infolgedessen sind es u.a. auch viele junge Menschen, die eine scheinselbstständige Arbeit annehmen. Dadurch müssen sie allerdings den Sozialversicherungsbeitrag von Selbstständigen zahlen, der kürzlich von 29,6 auf 30,7 Prozent erhöht wurde. Ein Selbstständiger, der den für Portugal nicht unüblichen Lohn von 500 Euro im Monat verdient, zahlt so jeden Monat alleine 128,70 Euro in die Sozialversicherung ein. Die Regierungsparteien nehmen unterdessen von Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung Abstand. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahre hat sich an dem Ideal orientiert, staatliche Ausgaben möglichst zu senken. Statt den bedrängten Gruppen des Arbeitsmarkts aus ihrer misslichen Lage herauszuhelfen, wurden in verschiedenen Sparprogrammen die Zuwendungen an Arbeitslose noch weiter gekürzt und der Arbeitsmarkt sogar stärker dereguliert.
Lange Zeit war Portugal ein hervorragender Nährboden für prekäre Beschäftigung, Gesellschaft und Politik nahmen dies einfach hin. So lässt sich die Zeit vor 2007 wohl am besten mit Klaus Peter Japps Diktum „Grievances are everywhere, movements not“[4] charakterisieren. Seit 2007 gibt es Demonstrationen gegen prekäre Beschäftigung: Als Teil der internationalen Mayday-Proteste, die 2005 in Italien initiiert wurden und sich in verschiedene Länder Europas ausbreiteten, entstanden auch in Portugal verschiedene Gruppen, die sich gegen prekäre Beschäftigung engagieren: Precários Inflexíveis (die „Unflexiblen Prekär Beschäftigten“), FERVE (Abkürzung für „Wir haben die Scheinbeschäftigung satt“) und speziell für die prekär Beschäftigten aus dem Unterhaltungsbereich – etwa Filmemacher, Schauspieler oder Musiker – die Gruppe Intermitentes do Espectáculo.
Diese Gruppen unterstützten auch die größte Demonstration in Portugal seit der Nelkenrevolution von 1974, die am 12. März 2011 stattfand, in Deutschland jedoch wegen ihrer zeitlichen Überschneidung mit dem Erdbeben in Fukushima weitgehend unbeachtet blieb. An diesem Tag demonstrierten ca. 500.000 Personen überwiegend in den beiden Großstädten Lissabon und Porto. Sie nannten sich „Geração à Rasca“ („Generation in der Bredouille“). Im Gegensatz zu den spanischen Protesten, die sich nach den ersten großen Demonstrationen am 15. Mai 2011 rasant ausbreiteten und an Teilnehmern dazugewannen, folgten auf die portugiesischen Märzproteste zunächst aber keine weiteren Demonstrationen. Erst ab Oktober 2011 kam es zu weiteren Straßenprotesten, die allerdings erst am 15. September 2012 mehr als 100.000 Menschen auf die Straßen brachten.
Zwar trugen die Proteste im März 2011 wesentlich zum Rücktritt der damaligen Regierung bei. Die Forderungen der Protestierenden nach neuen Arbeitsplätzen, die dem hohen Ausbildungsgrad vieler junger Portugiesen gerecht werden, und nach dem Ende prekärer Beschäftigungsbedingungen sowie nach freiem Zugang zu Bildung blieben dagegen ohne Antworten von Seiten der Politik. Dennoch sind die Proteste vom 12. März 2011 ein wichtiges Ereignis: Verschiedene neue Aktivistengruppen gründeten sich nach diesem Datum und die Zusammenarbeit der bestehenden Gruppen verstärkte sich.
Die bereits vorhandenen Gruppen gegen prekäre Beschäftigung und die neue Gruppe Movimento 12M („Bewegung des 12. März“) initiierten gemeinsam einen Gesetzesvorschlag („Iniciativa Legislativa de Cidadãos“) zur Regulierung des Arbeitsmarktes. Im Einzelnen beinhaltet die Gesetzesinitiative drei Hauptpunkte:
1) Als Maßnahme gegen die Scheinselbstständigkeit sollen Beschäftigte leichter einen festen Vertrag einklagen können. Der Gesetzesentwurf begrenzt die Bearbeitungszeit solcher Klagen auf zehn Tage – bisher liegt die durchschnittliche Bearbeitungszeit solcher Klagen bei zwei Jahren.
2) Befristete Verträge sollen nach spätestens drei Verlängerungen oder 18 Monaten in unbefristete Verträge umgewandelt werden.
3) Leiharbeiter einer Zeitarbeitsfirma, die länger als ein Jahr bzw. zwanzig Monate innerhalb zweier Jahre an dieselbe Firma verliehen werden, sollen einen festen Vertrag bei dieser Firma bekommen.
Im Gegensatz zu Petitionen, für die lediglich 5000 Unterschriften benötigt werden, müssen in Gesetzesvorschläge in Portugal im Parlament diskutiert und zur Abstimmung gestellt werden. Allerdings müssen sie auch zuvor auch hohe Hürden nehmen: werden. Über neun Monate lang sammelten die Aktivisten die hierfür notwendigen 35.000 Unterschriften, die schriftlich mit Geburtsdatum, Nummer des Personalausweises und der Wählernummer der Unterschreibenden eingereicht werden müssen. Eine hohe Schwelle also, die vielleicht am besten dadurch verdeutlicht wird, dass es seit der Einführung dieser Form der Bürgerbeteiligung im Jahr 2003 bis heute insgesamt nur zwei Gesetzesvorschläge von Seiten zivilgesellschaftlicher Gruppen gegeben hat.
Begleitet wurde die Initiative von einer breiten Kampagne. Dabei griffen die beteiligten Gruppen überwiegend auf das Aktionsrepertoire sozialer Bewegungen zurück – etwa die Besetzung des öffentlichen Raums mit Plakaten, Banner auf Demonstrationen, das Bemalen einer Wand in der Innenstadt von Lissabon oder die Organisation von öffentlichen Debatten. Ferner machten sie die Gesetzesinitiative im Internet publik. In den Medien erhielt die Kampagne gute Resonanz. Neben verschiedenen Zeitungsberichten wurden die Aktivisten in Talkshows eingeladen, um über das Problem prekärer Beschäftigung und dessen Lösung zu sprechen.
Die Aussichten auf eine Annahme des Gesetzesvorschlags waren stets gering, denn der Vorschlag steht im Widerspruch zur aktuellen politischen Linie der Regierung. Dennoch sind Zeit und Mühen keinesfalls umsonst investiert worden. Durch die Gesetzesinitiative blieb das Thema „prekäre Beschäftigung“ prominent in den Medien vertreten, die Aktivisten zeigten, dass sie zusätzlich zum reinen Protest auch zu konstruktiven Vorschlägen fähig sind, und hatten die Gelegenheit, ihre Ideen direkt mit sämtlichen im Parlament vertretenen Parteien zu diskutieren und über die Massenmedien zu verbreiten. Und nicht zuletzt fordert die Gesetzesinitiative die Parlamentarier heraus, ihrerseits eigene Vorschläge gegen prekäre Beschäftigung zu machen.
* „Vor den Staatsschulden haben wir zuallererst Rechte!“
[1] Siehe http://www.sueddeutsche.de/politik/spanien-und-portugal-hunderttausende-demonstrieren-gegen-sparkurs-1.1469116 [eingesehen am 19.09.2012].
[2] Im Jahre 2007 lag der Prozentsatz der Bürger, die keine permanente Beschäftigung hatten, bei 84,2 Prozent; siehe International Labour Office (Bureau for Workers‘ Activities): From Precarious Work to Decent Work. Outcome Document to the Workers‘ Symposium on Policies and Regulations to combat Precarious Employment, Genf 2012, URL: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_dialogue/—actrav/documents/meetingdocument/wcms_179787.pdf, S. 31 [eingesehen am 19.09.2012].
[3] Siehe International Labour Office/ International Institute for Labour Studies: World of work report 2012: Better jobs for a better economy, Genf 2012, URL: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—dcomm/—publ/documents/publication/wcms_179453.pdf [eingesehen am 19.09.2012].
[4] Japp, Klaus Peter: Selbsterzeugung oder Fremdverschulden. Thesen zum Rationalismus in den Theorien Sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Jg. 35 (1984) H. 3, S. 313-329, hier S. 316.