Auf dem Weg zum politischen Zutrauen

[analysiert]: Yvonne Wypchol über Kindheit, Freizeitgestaltung und Milieudifferenzen.

Politikverdrossenheit, politisches Desinteresse und ein generelles Misstrauen gegenüber Politikerinnen und Politikern – das sind Phänomene, die vor allem der sogenannten „Unterschicht“, den „bildungsfernen“ Milieus zugeschrieben werden. Derartige Einstellungen sind aus parlamentarischen Systemen kaum wegzudenken, ihre Revision ist ein schwieriges Unterfangen. Dennoch kann eines durchaus aufgebrochen werden: ihre intergenerationale Wertetransmission, sprich die Weitergabe.

Die Kinderwelt spaltet sich aufgrund von Milieudifferenzen früh – sehr gut lässt sich das an der Freizeitgestaltung beobachten: Für einige Kinder ist sie durch freies Spielen und selbstbestimmte Gestaltung gekennzeichnet, für manch andere durch organisierte Hobbies und außerschulische Unterrichtsstunden geprägt. Insbesondere ersteres Kindheitsmuster ist in „bildungsfernen“ und finanziell benachteiligten Milieus vorzufinden, während das zweite Muster charakteristisch für den Nachwuchs in hochgebildeten und wohlhabenden Familien ist. Man sieht: Die Freizeitgestaltung von Kindern wird durch ihre soziale Herkunft beeinflusst. Damit einher geht aber, dass Kinder aus „bildungsnahen“ Milieus aufgrund ihres vielseitigen Freizeitprogramms spezifische Fähigkeiten entwickeln können. Ihr freizeit- und vereinsbezogener Habitus führt zwar oft zu einem hohen Zeitdruck, doch erlernen jene Kinder schnell, sich und ihr Leben zu organisieren, mit Terminen umzugehen und sie bewegen sich früh in einem institutionellen Rahmen. Zusätzlich entwickelt sich oft ein selbstbewusstes Auftreten und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, wenn bei Kindern kulturelle, musische und kommunikative Inhalte im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stehen. Die damit zusammenhängenden Kompetenzen bereiten sie nicht nur – quasi nebenbei – auf das Bildungssystem, sondern auch auf das spätere berufliche und institutionelle Leben vor. Ergebnis ist ferner ein auch politisches Selbstzutrauen, sprich: So aufgewachsene Kinder engagieren sich später häufig in Projekten, Initiativen und Vereinen – denn schließlich sind ihnen diese Organisationsformen von klein auf bekannt.

Aber nicht nur eine unterschiedliche Freizeitgestaltung kennzeichnet Milieudifferenzen von Kindern, auch die Eltern-Kind-Interaktion fällt verschieden aus: Kinder aus „bildungsfernen“ Milieus erleben oft weniger Kommunikation, Lob und Nachfragen bezüglich ihrer eigenen Meinung als Kinder aus anderen Milieus. Zwar wird hier durch eine bestimmte Gruppe vordefiniert, was eine „gute“ Eltern-Kind-Interaktion ausmacht, gleichwohl zeigt sich, dass gewisse Fähigkeiten infolge von „zu wenig“ Kommunikation im Elternhaus gering ausgeprägt sein können. So entwickeln sich bei Kindern, mit denen wenig kommuniziert wurde, oft ein schwaches persönliches Ausdrucksvermögen, Sprachbarrieren und unter Umständen ein weniger selbstbewusstes Auftreten; und später im Leben treten auch die politische Urteilskompetenz oder ein Interesse an Politik weniger stark zutage.

Kinder sogenannter „bildungsferner“ Milieus sind somit in zwei Punkten, in denen Gleichaltrige anderer Milieus ihnen hinsichtlich späterer parlamentarischer und gesellschaftlicher Teilhabe voraus sind, benachteiligt: Ihnen mangelt es an positiven Erfahrungen mit Institutionen einerseits und kommunikativen Kompetenzen andererseits. Um diesen Entwicklungen gegenzusteuern, ist eine frühe politische und demokratische Bildung ein elementarer Schlüsselfaktor. Bereits in der Grundschule sollte begonnen werden, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl bezüglich sozialer, partizipatorischer und politisch urteilender Kompetenzen für alle Kinder gleichermaßen zu erhöhen, ja, sogar auf einen Stand zu bringen, um Ungleichheiten aufzuheben. Eine derartige Zielsetzung wird unter dem Stichwort „kompensatorisches Empowerment“ gefasst, sprich, die Kinder sollen dabei erstens überhaupt erfahren, eine eigene Meinung zu haben, zweitens lernen, diese zu artikulieren zu können und drittens in die Lage versetzt werden, andere Meinungen anzuhören und zu respektieren. Damit einhergehend sollen Argumentationskompetenzen, Meinungspluralismus und vor allem das politische Selbstzutrauen gestärkt, aber auch – durch erlebtes Interesse an der eigenen Meinung – erfahrbar gemacht werden. Diese positive Erfahrung ist vor allem für Kinder wichtig, die diese Erfahrungen (noch) nicht gemacht haben.

Dennoch sind in Anbetracht von Milieudifferenzen bestimmte Aspekte zu beachten: Kinder aus „bildungsfernen“ Milieus erleben durch ihre Umwelt beispielsweise frühzeitig Unfähigkeitsunterstellungen, Abwertungen oder Misstrauen, das heißt, den Kindern muss vorurteilsfrei, freundlich und bestärkend begegnet werden – haben sie doch bereits früh ein Gespür für negative Haltungen ihnen gegenüber entwickelt und wenden sie sich bei fehlendem Respekt schnell ab. Überdies: Kinder, die sprachlich ihre Meinung oder ihre politischen Ansichten und Urteile nicht gemäß der läufigen gesellschaftlichen Norm ausdrücken können, haben nicht per se (zukünftig) kein Interesse an Politik. Im Gegenteil: Gerade Kinder haben (noch) keine negativen Erfahrungen mit Demokratie und Politik gemacht und sind damit diesen Themen gegenüber dadurch vorurteilsfreier als viele Erwachsene. Ihr Interesse zu wecken – unabhängig von ihrer Herkunft – ist somit einfacher, wodurch Lerneffekte wiederum zugleich wahrscheinlicher wie auch nachhaltiger werden. Damit ist aber nicht gemeint, dass ausschließlich an Defizite angeknüpft werden sollte, sondern dass vorhandene Ressourcen, beispielsweise eine höhere Sensibilität für Ungerechtigkeit oder ein ausgeprägtes „Mithelfen“, ebenso Beachtung finden wie auch ein persönlicher Bezug aus ihrem und in ihren Alltag.

Insgesamt gesehen spielen Milieudifferenzen oder – anders ausgedrückt – die soziale Herkunft und damit der sozioökonomische Hintergrund durchaus eine besondere Rolle: Kinder bringen unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen mit, die aufgrund unterschiedlicher Kindheitsmuster herbeigeführt und gesellschaftlich konstruiert werden. Dies wiederum wirkt sich in Bezug auf spätere politische, demokratische, parlamentarische Einstellungen und Umgangsformen mit Politik signifikant aus. Milieudifferenzen sollte also auch in der politikwissenschaftlichen Forschung stärkere Beachtung zukommen: Denn es bedarf einer expliziteren Beobachtung und Auswertung, damit eine negativ behaftete intergenerationale Wertetransmission zum Vorteil der parlamentarischen Demokratie aufgebrochen werden kann.

Yvonne Wypchol ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.