… und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?

[kommentiert]: Tobias Graßmann zur jüngsten Religionsdebatte.

„Respekt? Wovor denn?“, fragte der Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon kürzlich auf ZEIT Online und traf damit den Nerv vieler Leser. Innerhalb kürzester Zeit stieg der Text zum meistgelesenen Artikel auf und erhielt über tausend Kommentare. Im Hintergrund standen die teils gewalttätigen Reaktionen auf ein anti-islamisches Video im Internet, die zeitgleich viele islamisch geprägte Länder erschütterten, sowie die Überlegungen der Bundesregierung, eine Vorführung des Films durch sog. Islamkritiker zu verhindern. Michael Schmidt-Salomon ist Vorstandssprecher der kirchen- und religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung – einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Weltanschauung des „Evolutionären Humanismus“ zu vertreten und im Namen der Aufklärung insbesondere gegen den Einfluss der Religion in Politik und Gesellschaft zu kämpfen. Die Religion wird dabei primär als Bedrohung für die aufgeklärten, westlichen Gesellschaften und die Wissenschaft gesehen, woraus sich auch die Linie des Kommentars ergibt: Respekt vor den Gefühlen religiöser Menschen sei fehl am Platz.

Auffällig ist an diesem Text zunächst die Art und Weise, wie Schmidt-Salomon die heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam gebraucht, um seine Argumentation zu stützen. Eine Auswahl von Koran- und Bibelzitaten, teilweise verstümmelt und immer aus dem Kontext isoliert, sollen belegen, dass den Religionen „jeder Respekt gegenüber Andersdenkenden fehlt“. Dieses Vorgehen ist allerdings hoch problematisch, wie sich von den Schriftreligionen lernen ließe. Wer mit einer heiligen Schrift argumentieren möchte, muss schließlich seit jeher klären: Was ist die präzise Bedeutung der einzelnen Wörter? Was ist der Sinn einer Schriftstelle in ihrem Kontext? Überhaupt: Welche Stelle der Schrift ist für das jeweilige Problem einschlägig und wie geht man mit Widersprüchen in den heiligen Texten um? Die enorme philologische Gelehrsamkeit der Rabbis und Korankommentatoren, die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn, das reformatorische Prinzip der Schrift, nach dem diese sich von ihrer Mitte in Christus her selbst auslegt – dies sind nur einige Wege, um die Schwierigkeiten der Interpretation zu bewältigen.

Seit der Renaissance mit ihrem neu erwachten Interesse an den Urtexten und der historischen Kritik der Aufklärung ist die Erkenntnis hinzugekommen, dass die Texte durch ihre Entstehungskontexte bedingt und in ihrer Endgestalt ferner selten aus einer Hand sind. In Schmidt-Salomons Beitrag ist von all dem nichts zu finden; als Advokat der „Streitkultur der Aufklärung“ bedient er sich der selektiv-atomistischen Methode salafistischer Hassprediger und evangelikaler Straßenmissionare. Dass man seinen Feinden oft ähnlicher wird, als man sich selbst eingestehen möchte, ist allerdings nicht so verwunderlich, schließlich muss man sich zumindest partiell auf gemeinsame Argumentationsmuster einlassen.

Nun folgt Schmidt-Salomon zudem einer sehr merkwürdigen Aufrechnungslogik: Da Religion intolerant sei, sei ihr auch mit Intoleranz zu begegnen. Es solle aber nicht nur Gleiches mit Gleichem vergolten werden, sondern – das ist die Pointe – dies auch noch im Namen der Aufklärung und im Dienste eines Erkenntnisprozesses: Die Gläubigen sollen, in ihren religiösen Gefühlen gekränkt, „von selbst erkennen, wie irrsinnig es ist, wegen einer harmlosen Zeichnung in die Luft zu gehen“. Vielleicht muss man evolutionärer Humanist sein, um diese Logik zu verstehen. Ob durch solche Provokation allerdings dem Bemühen der Aufklärung um eine Entschärfung religiöser Konflikte mit den Mitteln der Vernunft gedient ist, bleibt äußerst fraglich. Dabei spielt der Text mit biologischem und medizinischem Fachvokabular. Das „Krankheitsbild Religion“ wird in die Nähe psychischer Pathologien, genauer: der Angststörung gerückt. So soll auf sprachlicher Ebene zusätzlich ein Widerspruch zwischen naturwissenschaftlich-medizinischem Denken und vormodern-irrationaler Religion konstruiert werden.

Viele Leserkommentare und die Erfahrungen religiöser Menschen mit der Religion distanzierten Gesprächspartnern zeigen, dass die ‚Große Erzählung‘, die Schmidt-Salomon darbietet – kurz: ‚aufgeklärte‘ Wissenschaft gegen Priesterbetrug und Pfaffenherrschaft – für viele noch immer eine große Plausibilität zu besitzen scheint, besonders wenn sie auf den Islam gemünzt wird. Dass das Bild der religionsfeindlichen Aufklärung heute ebenso nachgebessert werden muss wie das des angeblich finsteren Mittelalters, dass man mittlerweile immer mehr gelernt hat, die interne Breite und Vielfalt religiöser Traditionen zu sehen, dass Weltreligionen wie Christentum und Islam unglaublich komplexe und in sich differenzierte Erscheinungen sind, auch dass Naturwissenschaft und Religion sich längst nicht mehr notwendig im Gegensatz befinden, all das wird hier wie so oft ignoriert. Schmidt-Salomon ist, wie vielen Kommentatoren aus allen Lagern, anscheinend wenig daran gelegen, seine ‚Große Erzählung‘ zu hinterfragen, an der Lebenswirklichkeit sowie an wissenschaftlichen Befunden zu prüfen.

Geht es um religiös relevante Themen, werden öffentliche Debatten gerne quasi ‚aus der Gottesperspektive‘ geführt, der größtmöglichen Totalen, und unter Verwendung klarer Gegensätze. Die Religionen selbst mögen dabei nicht ganz unschuldig sein. In einer solchen Perspektive aber, die dort scheinbar klare Fronten schafft – Aufklärung vs. Religion, Christentum vs. Islam, Abendland vs. Orient und viele andere –, wo die Wirklichkeit äußerst komplex ist, verschwinden bitter notwendige Differenzierungen. Zugleich wird das Problem auf eine Ebene gehoben, auf der es um Alles oder Nichts geht. So entstehen die Ängste, welche in diesen Diskussionen für die charakteristische Schärfe und den schrillen Ton sorgen. Wer kann schließlich noch besonnen bleiben, wenn die Alternative heißt: Meinungsfreiheit oder Scharia? Verschärft werden die Frontstellungen noch durch Dammbruch-Argumente: Wenn erst einmal x, dann sei es nur eine Frage der Zeit, dass y. Wenn man nicht gegen x einschreite, könne man gegen y auch nichts unternehmen. Nun besitzen Dammbruch-Argumente oft nur Scheinevidenz. Wer a sagt, kann in der Regel noch einmal überdenken, ob er unter gegebenen Bedingungen auch b sagen will.

Mit der nötigen differenzierteren Betrachtungsweise hängt zusammen, dass das überzeitliche Wesen von Religionen und Kulturen aus politischen Debatten ausgeklammert gehört. Die Fragen, was genau das unverlierbare Wesen des Islams, des Christentums, Deutschlands, der Aufklärung oder der Moderne ist, sind sicher interessant (und wohl kaum abschließend zu beantworten, ergießt sich jedes dieser Wesen doch in täglich neue Formen). Solche Identitätsdiskurse sind aber nichts, was sich in Debatten forcieren oder gar den Religionen und Kulturen von mehr oder weniger gelehrten ‚Experten‘ im Ergebnis andemonstrieren lässt – etwa, als könnte man anhand einer gängigen Koran- oder Bibelübersetzung Widersprüche einer ‚Religion‘ mit dem modernen, aufgeklärten und rechtsstaatlichen Denken sammeln, eliminieren und schließlich eine Art bereinigte Kerndogmatik unbedenklicher Glaubenssätze erstellen, welche die Glaubenden dann anzuerkennen hätten.

Stattdessen sind Religionen in ihrer geistigen Umwelt und ihren Lebenszusammenhängen zu betrachten. Von dort aus kann man erhellen, wie die heiligen Schriften in gewissen sozialen Kontexten gelesen und interpretiert werden. Etwas anderes ist dagegen die historische Untersuchung von Texten, die nicht etwa zum Wesen einer Religion führt, sondern lediglich das Bewusstsein der historischen Distanz schärfen und eine vergangene Erscheinung näher erforschen kann. Gerade in politischen Debatten kann und soll es jedoch nicht darum gehen, ob gewisse religiöse Schriften an sich tolerant oder intolerant sind, sondern darum, wie Juden, Christen, Muslimen hier und heute ihre heiligen Schriften lesen und aneignen, um zu klären, was sich daraus an religiösen Folgerungen, Ansprüchen und Konflikten ergibt. Eine islamische Theologie an deutschen Hochschulen wäre hier zu begrüßen, die nicht nur historisch-philologisch, sondern auch systematisch und gegenwartsorientiert für den Islam Partei ergreifen könnte.

Ist also Ludwig Greven zuzustimmen, wenn er in seinem Kommentar „Mehr Respekt bitte!“ schreibt: „Respekt und Rücksichtnahme, die tieferen Form einer bloß oberflächlichen Toleranz, sind den meisten verloren gegangen“? Dieser kulturpessimistischen Diagnose muss man nicht folgen. Der Boden für Toleranz und Respekt dürfte (noch) bereitet sein. Aber wir müssen unsere Debatten aus ihren abstrakten Sphären auf die Erde holen. Hier ist echte Aufklärung fällig, hier ist – im Sinne der Überschrift – auch kritische Selbstprüfung gefragt.

Tobias Graßmann studiert evangelische Theologie auf Pfarramt an der Georg-August-Universität Göttingen.