Gesellschaftliche Spannungsbögen

[analysiert]: Lose Gedanken von Franz Walter zur Politik im Sommerloch 2010

1. Seit zwei, drei Jahrzehnten ist der Pragmatismus das Credo schlechthin in den nachideologischen Gesellschaften. Man hat das, durchaus mit einigem Recht, als eine Art Befreiung aus den Fesseln enger Weltanschauungen gedeutet. Doch andererseits zwängte gerade der Pragmatismus sich und die Gesellschaften, die er repräsentierte, in ein nicht minder enges Korsett einer vorgegebenen, fixen Rationalität, der weder die Gegenwart noch die Zukunft sich angeblich zu entziehen vermag. Der Sachzwang der Pragmatiker verhielt sich dergestalt autoritativer als manche der zuvor erleichtert verabschiedeten Großnarrative.

Das Ergebnis des pragmatischen Vierteljahrhunderts lässt sich vielleicht am deutlichsten im Wandel der Einstellungen deutscher Studenten seit Mitte der 1980er Jahre beobachten. Eine empirische Studie hat das zuletzt ebenso beeindruckend wie beunruhigend festgehalten. Die Studierenden haben sich in diesem Zeitraum von aktiv Beteiligten zu einer eher passiven Kundschaft öffentlicher Angelegenheiten gewandelt. Statt wie zunächst politisch pointiert Stellung zu beziehen, neigen sie nun mehrheitlich zur Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. Entscheidungsängstlichkeit hat früheres Engagement ersetzt. Die Suche nach Alternativen ist durch Konventionalitäten abgelöst worden. Man erprobt weniger Neues, sondern nimmt überwiegend die Gegebenheiten hin.

Insgesamt hat sich der Trend während der letzten 25 Jahre von einer idealistischen Grundhaltung zu allein nutzorientierten Einstellungen verändert. Doch ohne Ziele fehlt die Richtschnur, die Grammatik des gemeinschaftsorientierten Handelns. Ziellosigkeit produziert Leere, Ängstlichkeit. Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, können gar politische Beute hemmungsloser Populisten werden.

2. Vor allem: Normen und Ziele können sich nicht in ökonomischer Effizienz erschöpfen. Aus der wirklich seriösen Glücksforschung wissen wir, wie denkbar unglücklich gerade Menschen sind, die ständig in Kategorien nur von Renditeverbesserung denken, wie sehr sie auch unter den ständigen Mobilitätszwängen leiden. Übrigens: Nach Aristoteles stiftet nicht Arbeit gleich welcher Art Zufriedenheit, sondern Tätigkeit, sinnvolle, oft auch zuwendende Tätigkeit.

Tätigkeit solcher Art dürfte es in der ergrauenden deutschen Gesellschaft diesseits abstumpfender und trostloser Erwerbsarbeit auf ominöser 1-Euro-Grundlage grundsätzlich in opulenter Fülle geben. Doch zugegeben sind die Überlegungen zu einer solchen, neuen Tätigkeitsgesellschaft nicht sonderlich weit fortgeschritten.

3. Sorgen muss man sich wohl schon machen, dass die Demokratie und ihre Institutionen es in den nächsten Jahrzehnten nicht leicht haben werden – und dies natürlich aus anderen Gründen als noch vor einem Vierteljahrhundert. Es sind nicht so äußere, ideologisch totalitäre Feinde, welche die Demokratie bedrohen. Es sind vielmehr Entwicklungen aus dem Inneren der demokratischen Marktgesellschaften, welche die Handlungsfähigkeiten gerade auch des Parlamentarismus zurückgedrängt.

Die Marktdemokratien haben die Freiheit des Konsumenten entfesselt, wodurch allerdings auch das Politische/die Gesellschaft aus der Sicht von Konsumenten betrachtet werden – launisch, ungeduldig, jederzeit fordernd, ohne selbst mitwirken zu wollen. Und weiter: Eine parlamentarische Weltgesellschaft gibt es nicht; in ökonomischer Hinsicht ist sie jedoch realisiert – und wird von wenigen, ohne Kontrolle und Möglichkeiten eines dem Parlamentarismus als Minimum inhärenten Elitenwechsels, dirigiert. Auch das lässt Menschen am Wert und der Wichtigkeit von Wahlen zweifeln.

Schnell wird daher oft nach vermehrter Partizipation gerufen. Indes ist schwerlich auszublenden, dass die unzweifelhaft elementare Partizipationswelle der 1970/80er Jahre auch zur Ermüdung gerade der Aktiven, zu einem großen Privatisierungsrückzug (zumindest aus der Politik) während der 1990er Jahre, zugleich auch zu einer noch gestiegenen Komplexität (durch die ausgefächerte Artikulation von verschiedenartigsten Interessen und Vetopositionen) geführt hat, wodurch sich die Zentralisierung politischer Entscheidungen in eher wenig transparenten Räumen noch erhöhte. Das ist so ein ganz typisches Spannungsspektrum von Paradoxien und Zwiespältigkeiten, aus welchen man nicht einfach leugnend aussteigen kann.

4. Nutzen da noch feste Prinzipien? Existieren zumindest Wertmaximen, die auch in den raschen Wechselhaftigkeiten modernerer Gesellschaften unverzichtbar wichtig sind? Hier, auf diesem Fragenfeld, findet man wohl den Kern aller Selbstzweifel und Lähmungen selbst früher rundum überzeugter politischer Aktivisten. Es geht nicht um ganz große Erzählungen, aber um ordnende, auch ordnungsstiftende Ideen, den roten Faden, der einen regulativen Grund- und Leitgedanken bilden könnte.

Die Kategorie des Vertrauens gehört ebenfalls in diesen Konnex. Vertrauen ist, wie wir wissen, nur ganz, ganz langsam und geduldig aufzubauen; und es ist unglaublich schnell zu zerstören. Hier ist gewiss politisch zuletzt einiges kaputtgegangen. Vertrauen ist ein besonders elementares, aber auch schnell erschütterbares Sozialkapital in modernen Gesellschaften, in denen überlieferte Ligaturen nicht mehr selbstverständlich verfügbar sind, der Bedarf nach Kohäsion infolge der Komplexitätsmehrung aber stark angewachsen ist. Der Einzelne kann sich in der Vielfalt nicht mehr hinreichend auskennen, vermag nicht in jeder Frage kompetent zu entscheiden. Also muss er vertrauen können. Er stattet andere – im parlamentarischen Demokratien: Parteien, Abgeordnete, Minister – mit einem Handlungskredit aus, in der Erwartung, dass ihn diese nicht enttäuschen.

Wer vertraut, riskiert. Er liefert sich auf Zeit den Adressaten seines Vertrauens aus. Umso schlimmer wird er sich betrogen fühlen, wenn der »Vorschuss«, den er gewährt hat, verspielt ist, wenn er getäuscht, hereingelegt wurde. Man wird beim nächsten Mal sehr viel zurückhaltender mit dem Vertrauen umgehen, wird gar generell Misstrauen hegen. Für Organisationen, die auf Langfristigkeit zielen (wie Parteien und erst recht der Staat), ist das eine brisante Stimmung. Der Entzug von Vertrauen schwächt Bindungen und den Willen zur kooperativen Mitarbeit. So sind Bindungen seltene Rohstoffe geworden. Der Bedarf danach dürfte künftig infolgedessen wieder steigen. Doch kann das dann antipluralistische Angebote fördern. Denn: „Die Sehnsucht nach dem Absoluten ist das Ergebnis eines Zeitalters des Relativismus“ (Ernst Troeltsch).

5. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland, die so wichtig wie tragend für das Sozialgefüge ist, leidet darunter, dass die sozialen Balancen und Ausgleichsregeln der  sozialen Marktwirtschaft, wie sie sie über Jahrzehnte kannten, mittlerweile nicht mehr recht gelten. Gerade die gesellschaftliche Mitte hatte das Leitbild der „gerechter Äquivalenz“ verinnerlicht und vollauf bejaht: Man zeigte Fleiß, bekam dann mehr Lohn oder Gehalt, durfte mit Aufstiegschancen rechnen. Dieser Kausalkette ist jedoch in den Augen der „Mitte“ gesprengt. Ihre (erwachsen gewordenen) Kinder steigen unter höchst labilen Bedingungen in das Berufsleben ein, trotz akademischer Ausbildung, trotz steter Anpassungsanstrengungen an wechselnde Profilbeschreibungen. Gleichwohl ist an soziale Mobilität über den erreichten Status der Mitte hinaus nicht zu denken; der Fall nach unten ist ungleich wahrscheinlicher.

6. Noch bedrückender fällt oft die Bilanz aus, die von älteren Menschen der „kleine-Leute-Milieus“ gezogen wird – ein sicher schmelzendes, aber in den nächsten Jahren noch beachtlich großes Segment der Gesellschaft. Sie haben in der Regel hart gearbeitet, waren sparsam und nachhaltig. Sie haben Kinder in die Welt gesetzt und versucht, aus ihnen ordentliche Menschen zu machen. Sie haben rechtschaffend und fleißig gelebt. Aber irgendwann während der letzten 20 Jahren verloren ihre einfachen Bildungsabschlüsse, ihre manuellen beruflichen Fertigkeiten und ihre traditionell geprägten biographischen Erfahrungen an Wert, jedenfalls im Ansehen derjenigen, die gesellschaftlich nun  den Ton angaben und seither dominant definierten, was als „Leistung“ zu gelten habe und was nicht.

Das Leben und die Arbeit der früheren Schreiner, Tischler, Bergarbeiter, Hausfrauen und Näherinnen wurden so aus der „Leistungsgesellschaft“ der postindustriellen Eliten verbannt. Seither ist an der früheren, alt gewordenen Basis der arbeitsamen Industriegesellschaft eine Verbitterung zurückgeblieben, die auch die Erosion der Volksparteien in Teilen erklärt. Denn diese erschienen nicht mehr die Schutzmächte der „kleinen Leute“, als die sie ursprünglich noch Stimmen gesammelt hatten.

7. Doch die entscheidende Frage blieb und bleibt, ob Mitte und Mehrheit in den modernen Demokratien des 21. Jahrhunderts zur Solidarität überhaupt fähig und willens sind. Nicht ganz wenige kluge Beobachter äußern bekanntlich Skepsis. Und viele verbinden das mit einem düsteren Ausblick auf die Zukunft. Angesichts des Anstiegs von Ungleichheit und Ungerechtigkeit gebe es in den nächsten Jahrzehnten zwar einen wachsenden Bedarf an Solidarität. Aber während die Nachfrage nach Solidarität zugenommen habe, seien die tragenden Bedingungen solidarischer Zusammenschlüsse und Aktionen zuletzt kräftig abgeschmolzen.

Solidarität bedeutet nicht Mildtätigkeit, sondern eine gegenseitige Unterstützungsbeziehung von im Grunde gleichstarken Gruppen bzw. Individuen. Bis in die 1970er Jahre funktionierte die Industriegesellschaft so, dass auch Solidarität gelingen konnte. Seither aber hat sich in den Brachen der niedergegangenen industriellen Räume eine Schicht von »Überflüssigen«, »Entbehrlichen«, und »Verlorenen« entwickelt und verfestigt, die nicht zurückgeben kann, was ihr über Abgaben und Steuerzahlungen insbesondere der Mittelklassen, zugeleitet wird. Das aber stellt das Grundgesetz der Solidarität infrage. Hierüber denken auch und gerade die härtesten Verteidiger der Sozialstaatlichkeit zu wenig nach.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.