Eine Schule der Demokratie

[kommentiert]: Oliver D’Antonio widerspricht Frank Decker, der auf Zeit Online die Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Ländern fordert.

„Hessische Verhältnisse“ stehen synonym für die Probleme einer Koalitionsbildung nach der Etablierung eines Fünfparteiensystems in Westdeutschland. Hessische Verhältnisse verstören, denn sie bringen keine handlungsfähigen und stabilen Regierungen hervor, man sucht Auswege. Dies tut auch Frank Decker, in dem er vorschlägt, den Ministerpräsidenten künftig direkt vom Volke wählen zu lassen. Nun bekäme auch das TV-Duell endlich das von ihm präferierte politische System.

Koch gegen Ypsilanti wäre nun endlich ein echter Zweikampf und stünde nicht mehr unter dem Vorbehalt der sie stützenden Parteien. Denn diese meist eher faden „Schlagabtausche“, die sich in den vergangenen zehn Jahren in die politische Kultur des Landes eingenistet haben, sind im Parlamentarismus eigentlich Kuckuckseier. Die Wahl eines Bundeskanzlers oder eines Ministerpräsidenten ist im hiesigen parlamentarischen System nämlich Sache des Parlamentes respektive einer Parlamentsmehrheit und nicht des Wahlvolkes selbst. Das TV-Duell ist insofern ein Kind präsidentieller Demokratien.

Der Vorschlag Deckers wäre in der Tat ein historischer Bruch mit der bundesrepublikanischen Traditionslinie eines strikten Parlamentarismus. So neu die Umgestaltung wäre, so alt scheint jedoch die Debatte um diese. Immer wieder wird ein direkterer Zugriff des Volkes im Rahmen der Demokratie gefordert, so in der Debatte um die Direktwahl des Bundespräsidenten. Doch Deckers Vorschlag ist im Vergleich dazu revolutionär. Denn hiermit stünde nicht nur ein spezifisches Amt zur unmittelbaren Volkswahl, sondern das parlamentarische System auf Landesebene würde zugunsten der Regierungsfähigkeit zur Disposition gestellt. Mit Blick auf die Problematik stabile Regierungsmehrheiten im Fünfparteiensystem hervorzubringen, stellt sich Decker eine politische Struktur vor, die jener auf der kommunalen Ebene gleicht: Ein Dualismus zwischen einem direkt gewähltem Regierungschef und einem Rat.

Diese Lösung erscheint mit Blick auf die parteipolitische Komplexität nicht nur innovativ, sondern auch pragmatisch und für die Demokratie sogar förderlich zu sein, was der Erfolg auf der kommunalen Ebene beweise. Doch hat ein solcher Dualismus durchaus seine Schattenseite. Denn höhere politische Ebenen stehen automatisch stärker im medialen Fokus. Damit erscheint es durchaus plausibel, dass der themenpolitische Pragmatismus, der die lokale Ebene dominiert, einer Parteipolitisierung auf der Landesebene weichen könnte – es droht die Blockade zwischen Ministerpräsident und Landtag. Die oft quälenden Phasen einer französischen „Cohabitation“, in der Präsident und Parlamentsmehrheit unterschiedlichen politischen Lagern entstammen, sollten daher eine Warnung sein.

Auch bleibt unklar, wer einem direkt gewählten Ministerpräsidenten während seiner Regierungszeit das Vertrauen entziehen kann, wenn dieser in seiner Politik untragbar wird. Es bedürfe zusätzlicher Verfahren, wie des „Impeachments“ – die Amtsenthebung des amerikanischen Präsidenten – , die schon aufgrund ihrer Komplexität nur selten und nur in bei schwersten Verfehlungen Anwendungen findet.

Am schwersten würden sich jedoch die Konsequenzen eines solchen Systemwechsels auf die politische Kultur der Republik auswirken. Frank Decker geht davon aus, dass Bundesländer, die de facto ohnehin mehr verwalteten als regierten, auch formal das Verwalten stärker betonen sollten, denn das Politikmachen. Doch welche Folgen zeitigt solch eine Zentralisierung von Regierungsgewalt in Berlin für die Demokratie und ihre politische Kultur? Dass Landtagswahlen gleich einer direkten Ministerpräsidentenwahl eine Aufwertung erfahren würden erscheint zweifelhaft. Neben dem personalisierten Showdown von zwei bis fünf Kandidaten für den Posten des Regierungschefs würden die Parlamentswahlen, aus Sicht vieler Wähler, eher zu lästigem Beiwerk von zweifelhaftem Sinn verkümmern.

Spätestens wenn sich die schrumpfenden Parteien dieses Umstands gewahr werden, werden sie sich organisatorisch wie personell aus der Fläche zurückziehen. Dagegen dürften lediglich weitere umfängliche Investitionen in Materialschlachten zugunsten des jeweils eigenen Spitzenkandidaten erfolgen. Auch ist dies letztlich zum Schaden einer Demokratie, die im Grunde nichts nötiger bräuchte als weniger Distanz und mehr lokale Repräsentanz von Parteien, Parlamentariern und Regierungsvertretern.

Des Weiteren würde eine solche Personalisierung dem Aufkommen populistischer Kandidaten zur Wahl Vorschub leisten. Was bislang zumindest notwendigerweise durch Parteien abgefedert wird steht nun offen zu Wahl. Ein Roland Schill, ein Franz Schönhuber, ein Udo Pastörs könnten unter diesen Bedingungen leichter reüssieren und die Kandidaten etablierter Parteien stärker in Verlegenheit bringen.

Nicht zuletzt ist der Parlamentarismus auf der Landesebene eine wichtige Schule der Demokratie in personeller wie koalitionspolitischer Hinsicht: Personell, weil die Kanzler Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder sich allesamt im Alltag des parlamentarischen Geschäftes auf der Landesebene erprobt, nicht zuletzt in Koalitionsbildung und in der Pflege parlamentarischer Mehrheiten verdient machen mussten. Zahlreiche Bundesminister konnten ähnliche Karrieren als Landesminister und -parlamentarier durchlaufen. Und koalitionspolitische Innovationen auf Bundesebene konnten immer nur institutionalisiert werden, wo sie zuvor auf Landesebene erprobt wurden. Dies trifft auf die ersten sozialliberalen Koalitionen in den späten fünfziger Jahren in Hamburg und Bremen ebenso zu, wie auf die ersten rot-grünen Gehversuche in Hessen in den Achtzigern. Auch damals waren die Prozesse quälend, mühsame Konstruktionen wie Minderheitsregierungen und Hängepartien nach Wahlen folgten, Regierungsbrüche waren nicht unwahrscheinlich. Letztlich hatte dies aber zur Folge, dass neue parteipolitische Verhältnisse im Land erprobt und später für den Bund Modell stehen konnten, heute gemeinhin als etabliert gelten. Gewiss können Schwarz-Grün, Jamaika oder Rot-Rot-Grün ganz ähnliche Karrieren hinlegen, erste Schritte dahin sind gemacht. Auf Bundesebene eine solche Wende zu vollziehen, ohne ein föderales Schnittmuster zur Hand zu haben dürfte weit schwieriger werden.

Auch wenn die Bindungskraft politischer Parteien nachlässt und die Systeme instabiler werden besitzt der Parlamentarismus noch ausreichend Kraft und Legitimität,  sich selbst zu stabilisieren. Allen Krisenerscheinungen zum Trotz ist die parlamentarische Parteiendemokratie immer noch integraler Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik. Einer der Altmeister der Politikwissenschaft, Ernst Fraenkel, hatte die Fahne des Parlamentarismus stets hochgehalten. Die Komplexität und Vielfalt gesellschaftlicher Interessen müsse nicht zuletzt in einer organisatorischen Vielfalt und auch in der Mühsamkeit demokratischer Entscheidungsprozesse zum Ausdruck gelangen. Das Verständnis für diese Prozesse gelte es durch politische Bildung zu vermitteln und ihnen dadurch Akzeptanz zu verschaffen. Der Parlamentarismus, auch und nicht zuletzt auf der Landesebene, ist diesbezüglich einer der besten Lehrmeister seiner selbst. Möge er noch lange erhalten bleiben.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Hier gehts zum Text von Frank Decker auf Zeit Online:

Wählt die Ministerpräsidenten direkt!