[präsentiert]: Michael Lühmann liest Mary Fulbrook und Ilko-Sascha Kowalczuk
Zwanzig Jahre nach deren Ende ist die große Frage „Was war die DDR eigentlich?“ noch immer nicht beantwortet. Vielmehr scheint diese, wie Hans-Ulrich Wehler es apodiktisch formulierte, „Fußnote der Geschichte“ kaum noch ein öffentliches Nachdenken wert – obwohl die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik, bis heute, nicht ohne die Existenz des anderen Deutschlands erklärbar sind. Schließlich hat die bundesrepublikanische Demokratie über die Diktatur obsiegt. Der Dank für die Befreiung des ostdeutschen Volkes aus der alltäglichen Unterdrückung geht an die großen Männer Kohl, Bush sr. und Gorbatschow – Vorhang zu, keine Fragen offen.
Zwei Bücher – das, der britischen Historikerin Mary Fulbrook und das, des Berliner Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk – vermögen es indes, dieses Bild gänzlich in Frage zu stellen. Beide reißen den Vorhang weit auf und schärfen den Blick auf diesen, real zwar untergegangenen, in den Erinnerungen vieler Menschen aber noch immer existenten Staat. Dabei versuchen sich beide Autoren an völlig unterschiedlichen, letztlich doch aufeinander zu laufenden, Fragestellungen abzuarbeiten.
Mary Fulbrook entwirft mit ihrer Sozialgeschichte vom „ganz normalen Leben“ in der DDR, das sie unter das Theorem der „partizipatorischen Diktatur“ stellt, eine dichte Beschreibung der lebensweltlichen Muster der Einrichtung im und der Aushandlung mit dem System. Zwar scheidet sie in der Beschreibung des „Zellenstaates“ in gut- und bösartige Verteilungen von Macht und Partizipation. Aber letztlich waren es sämtliche staatlicherseits gegebenen und gesellschaftlich vielfach angenommenen Möglichkeiten der „kontrollierten Beteiligung“ (die „guten“ wie „bösen“), die ein richtiges Leben, an das sich heute gern erinnert wird, ermöglichten. Sie schufen Identifikation mit der DDR und beförderten so auf lange Sicht die lang anhaltende Stabilität der DDR.
Fulbrook verortet diese Prozesse vielfach in den späten sechziger und siebziger Jahren, in den vermeintlichen goldenen Jahren der DDR, als vor allem in der Folge des Machtwechsels von Honecker auf Ulbricht bescheidener sozialistischen Wohlstand in der DDR Einzug erhielt. Umgekehrt hatten sich die ersten Kinder der DDR zu dieser Zeit offensichtlich mit den äußeren Gegebenheiten, allen voran dem brutalen Grenzregime, arrangiert.
Was Fulbrook damit auch gelingt, ist auf äußerst fundierte, zugleich meinungsstarke, Art und Weise all die Totalitarismustheoretiker des Landes gegen sich auf den Plan zu rufen. Denn ihr Zugang dekonstruiert das Bild des von den neuen, nun sozialistisch argumentierenden Diktatoren, dauerhaft unterdrückten Volkes weitgehend – ohne die Brutalität und Boshaftigkeit des Regimes auszublenden. Vielmehr sortiert sie die DDR, ganz anders konnotiert als bei Wehler, über die Frage des Systems hinaus, in die brüchige deutsche Geschichte des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts ein (die englische Originalausgabe trug den bezeichnenden Titel „From Hitler to Honecker?“). Damit befreit sie die DDR zugleich en passant „aus dem engen Spezialistenghetto hinter ihren eigenen unsichtbaren historischen Mauern.“ (S. 11).
Auch Ilko-Sascha Kowalczuk reibt sich genüsslich an scheinbaren Wahrheiten, vor allem den Mythen der allerjüngsten deutschen Geschichte. Sein Zugang ist dem von Fulbrook nicht unähnlich. Auch Kowalczuk entfernt sich von den großen Linien der politischen Ereignisgeschichte, auch er dreht am Objektiv der Geschichtswissenschaft. Kowalczuk versucht (und es glückt ihm hervorragend) näher dran zu sein, als all die Apologeten der großen Meistererzählungen von geglückten Demokratiegeschichten, langen Wegen nach Westen oder in sich geschlossenen deutschen Gesellschaftsgeschichten.
Kowalczuk ist vielmehr ein Meister der Miniatur, die selten weniger zu erklären vermag als das große Ganze. Seine Bilder einer Gesellschaftskrise interessieren sich weniger für Brandts Ostpolitik oder den Kanzler der Einheit. Kowalczuk nähert sich der DDR über das Ausscheiden der drei staatsnahen DDR-Fußballvereine aus dem Europapokal 1987, über die „Wartburgkrise“ oder über Otto Schilys Hang zur Diskreditierung der ostdeutschen Revolution, die argumentativ auf einer Banane aufbauen.
Vor allem die „Wartburgkrise“ scheint ein Lehrstück, wie man den Untergang der DDR auch zu erklären vermag. Anhand dieses Beispiels verhandelt Kowalczuk nahezu sämtliche Aspekte der von Fulbrook beschriebenen Muster des „normalen Lebens“. Konkret hatten sich im Frühjahr 1988 die Gerüchte verdichtet, dass der neue Wartburg mindestens fünfzig Prozent teurer würde, als sein Vorgängermodell – ein Politikum in einer Planwirtschaft. Anhand der nachvollzogenen Eingaben aus der Bevölkerung bis hin zu den Diskussionen bis in höchste Parteikreise führt Kowalczuk vor, wie weit fortgeschritten und tief verwurzelt die Vertrauenskrise Ende der achtziger Jahre war.
Fulbrooks Diagnose des „normalen Lebens“ trifft bei Kowalczuk auf die tiefe Krise des Sozialismus in den Farben der DDR. Kowalczuk legt an kleinen – für die Totalitarismusfreunde der Zunft kaum messbaren – Ereignissen, die tiefgründigen Verwerfungen frei, die den Versuch, ein richtiges Leben im falschen System aufrecht zu erhalten, immer mehr konterkarierten.
So sehr die „Normalisierung“ große Teile der Gesellschaft zumindest zum Still- und Aushalten anhielt, so sehr erschütterte die Gesellschaftskrise Ende der achtziger Jahre die Fundamente dieser Gesellschaft. Nur vor diesem Hintergrund konnten die Aufbruchssignale aus der Sowjetunion wirkmächtig werden, nur vor diesem Panorama ist die extreme Beschleunigung und Breitenwirkung des Protestes im Jahr 1989 verständlich. Hier erklärt sich auch, warum für kurze Zeit DDR-Opposition und Volk auf der Strasse einträchtig Seit’ an Seit’ schritten.
Will man die DDR, deren seltsame Stabilität auf der einen und deren schneller Zusammenbruch auf der anderen, in ihrer Komplexität verstehen, wird man ohne Fulbrooks Diagnose des normalen Lebens und Kowalczuks Bilder einer Gesellschafts- und später Diktaturkrise nicht umhin kommen. Zugleich wird man die populärsten Fehldeutungen der DDR-Geschichtsschreibung fortan zumindest hinterfragen müssen.
Erstens: Die DDR-Bevölkerung mit Hilfe der Totalitarismustheorie zu Opfern zu stempeln und gleichzeitig deren reale Leben mit zu entwerten, wird nicht mehr funktionieren. Vielmehr erschließt sich aus Fulbrooks Annahmen ein möglicher verstehender Zugriff auf die Aporien der ostdeutschen Gesellschaft.
Zweitens: Nicht große Männer machten 1989/90 Geschichte, sondern das ostdeutsche Volk. Nur die Erhebung großer Teile der ostdeutschen Gesellschaft, und nicht eine Handvoll Bürgerrechtler oder später Kanzler Kohl, zwangen der Weltgeschichte eine Kurskorrektur auf.
Und drittens: Bei den Ereignissen des Herbstes 1989 handelte es sich zweifelsfrei um eine Revolution, getragen in der Breite auch von der ganz „normalen“ Bevölkerung. In den Worten Kowalczuks:
„Die alte Ordnung war handlungsunfähig, delegitimiert und moralisch kompromittiert; die von ihr vertretenen Werte und Überzeugungen zerschlissen; Bürger- und Massenbewegung stellten sich ihr entgegen und forderten neue politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Strukturen; eine neue Ordnung wurde errichtet; innerhalb weniger Monate beseitigte die Bewegung alte Strukturen, Werte, Ideen, Kulturen und Herrschaftseliten, fast nichts war im öffentlichen Raum mehr wie zuvor; was spricht dann gegen die Bezeichnung als Revolution?“ (S. 540)
Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Primus, Darmstadt 2008.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, C.H. Beck, München 2009.