FDP: Fortschritt oder Besitzstandswahrung?

Beitrag verfasst von: Michael Freckmann
[gastbeitrag]: Michael Freckmann über das ambivalente Verhältnis der FDP zu Fortschritt.

Bild von Kevin Schneider auf Pixabay.

Die FDP prägt ein eigentümliches Verhältnis zu gesellschaftlichem Wandel. Im Bundestagswahlkampf 2017 bezeichnete sich die Partei selbst plakativ als „Fortschrittbeschleuniger“. Daran anknüpfend warnte Parteichef Lindner auf dem Bundesparteitag im April 2019 vor „Pessimismus und Panik“ der anderen Parteien und steht dabei durchaus in der liberalen Tradition: Schon der FDP-Vordenker Ralf Dahrendorf postulierte 1983, die liberalen Wähler dürften vor allem nicht „Verfechter des Status Quo“[1] sein. Und dennoch zeigt sich seit den Anfängen des deutschen Liberalismus bis in die Gegenwart hinein ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen Fortschrittsoptimismus und Besitzstandswahrung bei den Liberalen. Dies wird auch in gegenwärtig geführten Debatten um Mobilität, Wohnen und dem Klimawandel deutlich.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt die Ursachen des Hangs der Liberalen zu zeitweiligen Phasen der Besitzstandswahrung: Den frühen Liberalen im 19. Jahrhundert war die deutsche Einheit wichtiger als konsequente Demokratisierung; das „Volk“ bestand in ihren Vorstellungen nur aus dem „Bürgertum“.[2] In den 1870er Jahren setzten sich die Liberalen erfolgreich für die lang ersehnte Einheit, den Rechtsstaat, das kapitalistische Wirtschaftssystem sowie für eine starke Wissenschaft und Kultur als Teil des bürgerlichen Lebens ein. Der Großteil des liberalen Bürgertums war damit zufriedengestellt. Das Erreichen des lange propagierten „Fortschritts“, sowie die liberal-bürgerliche Urangst vor der Herrschaft der Massen bewirkten, dass die Liberalen sich an die erreichten Privilegien des Bürgertums klammerten.

Zudem standen die Liberalen in komplizierten Strukturbedingungen, welche einen internen Interessensausgleich notwendig machten und sich so als gemeinsamer Nenner das Erreichte bot. So waren die Liberalen eingekeilt zwischen der konservativen Regierung Bismarcks auf der einen und der aufkommenden Arbeiterbewegung auf der anderen Seite. Über den Verzicht auf das parlamentarische Königsrecht – die Budgethoheit – zugunsten Bismarcks Kriegsplänen kam es sodann sogar zur Spaltung in zwei liberale Parteien. Während die linksliberal „Freisinnigen“ versuchten, die Brücke zur Arbeiterschaft zu schlagen, damit scheiterten und sich zerstritten, wankten die Nationalliberalen zwischen liberaler Prinzipienfestigkeit und Regierungspragmatismus. Hinzu kam: Das gesamtliberale Milieu war zu divergent: Professoren, Handwerksmeister, mittelständische Unternehmer, Großbauern und Staatsbeamte kamen aus zu unterschiedlichen Lebenswelten. Das Nichtvorhandensein gesellschaftlicher Außenseiterpositionen, eine fehlende konsistente Ideologie sowie eine individualistische Lebensführung mit wenig Bereitschaft für parteiliches Engagement prägten den vielstimmigen und strukturell schwachen Charakter der liberalen Parteiorganisationen.[3] Dies zusammengenommen ließ nur schwer eine konsistente Formulierung einer liberalen Idee möglich werden, die auch weitere Teile der Bevölkerung umfasst hätte und etwa ein Wahlrecht für alle oder insbesondere die aufkommenden Fragestellungen von Arbeitsbedingungen im Industriezeitalter adressiert hätte.

In der Gründungszeit der Bundesrepublik waren wesentliche Ziele der Liberalen bereits von Beginn an umgesetzt: Die Einführung der bürgerlichen Grundrechte und der Kapitalismus. So wurde die 1948 gegründete FDP in den Anfangsjahren lediglich zum Sachwalter der Besitzenden in der Gesellschaft. Erst in den 60er Jahren, getrieben durch gesellschaftliche Veränderungen der Bildungsexpansion, begannen neue Kräfte die Partei zu prägen, was dann in die Sozialliberale Koalition im Bund führte. Dieser Aufbruch der sozialliberalen Phase der 60er und frühen 70er Jahre war jedoch mehr eine auf bestimmte innerparteiliche Kreise beschränkte Erscheinung, welche maßgeblich für das Verfassen der „Freiburger Thesen“ verantwortlich waren. Die inhaltlichen Ausführungen zur Reform des Kapitalismus, betrieblicher Mitbestimmung, Umweltschutz, einer Modernisierung des demokratischen Systems sowie auch der Betonung sozialer Grundrechte scheiterten letztlich langfristig daran, dass die materiellen Interessen des alten Bürgertums in der Partei bestimmend blieben.[4] Die Partei definierte sich nunmehr wieder stärker über die Gefahrenabwehr als Korrektiv gegen die Sozialdemokratie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Später nahm die FDP diese Rolle gegen die Grünen ein: Zunächst ebenfalls gegen eine „linke“ Wirtschafts- und Steuerpolitik, für die Fortführung der Atomkraft und gegen jene sozialökologischen „Moralapostel“. Diese gewählte „Funktion“ vernachlässigte jedoch oftmals die inhaltliche Klärung und überdeckte die Konflikte zwischen Besitzwahrung und Wandlungsorientierung innerhalb der unterschiedlich ausgerichteten Segmente der eigenen Sympathisantenschaft.

Auch in aktuellen Debatten wird die Betonung der Bestandswahrung deutlich: Die Partei gibt sich als Schutzpatronin der Dieselfahrenden – Lindner forderte gar eine „Diesel-Garantie“[5]. Ähnliches konnten Beobachter auch auf dem FDP-Bundesparteitag vor einigen Wochen erleben. In der Wohnungspolitik wurde sehr emotional gegen mögliche Sozialisierungen von Wohnungseigentum gewettert. Es wurde beschlossen, den dies ermöglichenden Grundgesetzartikel streichen zu wollen. Damit schließt die FDP an ihre eigene Tradition an: Bereits in den 50er Jahren versuchte sie mehrfach, Artikel 15 des Grundgesetzes zu beseitigen.[6]

Auf selbigem Parteitag rief ebenfalls die grüne „Verbotskultur“ in der Ernährung Ängste hervor: „Also wir werden alle Vegetarier und Veganer, wenn es nach denen geht“[7], warnte Lindner seine Parteitags-Delegierten. Ebenso eine diskutierte Frauenquote für Parteigremien wurde mit großer emotionaler Emphase abgelehnt – man wolle sich nicht in einen „grünen Diskurs“ zwängen lassen und zu „Quotenfrauen“ werden. Die Partei spricht sich einerseits für eine Erhöhung des Frauenanteils in ihren Reihen aus, lehnt aber eine Quote ab und setzt stattdessen auf „Selbstverpflichtungen“. Hiermit läuft sie Gefahr, wie bei von ihnen in der Vergangenheit mehrfach eingesetzten Instrumenten zu diesem Zweck[8], letztlich den Status Quo zu zementieren, weil der Freiwilligkeitscharakter gerade jene Teile der Partei mit größerem „Handlungsbedarf“ in dieser Frage von der Umsetzung abhalten könnte. In diesen Diskussionen spiegeln sich nach wie vor die unterschiedlichen Einstellungen der einzelnen Wählermilieus wider: Einerseits sind hierunter die gesellschaftspolitisch progressiv Eingestellten zu finden, d. h. eher jüngere und urbane Menschen, die Veränderung als Chance begreifen und sich hiervon Vorteile versprechen. Andererseits gehört zum Stammklientel der FDP eben auch und nach wie vor der eher ländlich konservative Typus des Mittelständlers.[9]

Aktuell begibt sich die FDP in die Gefahr, bürgerliche Freiheit als Abwehr jeden Einflusses auf den aktuellen Status Quo auf Teile ihrer Klientel zu verstehen. Damit setzt sich die Partei aber auch dem Vorwurf aus, Freiheit stark von gesellschaftlichem Status abhängig zu machen. So etwa stünde die Freiheit der Dieselbesitzer sowohl vor der körperlichen Unversehrtheit der Bewohner vielbefahrener Straßen als auch vor dem Schutz der Umwelt. Auch für solch eine Position gibt es zwar in der Gesamtwählerschaft empfängliche Gruppen, jedoch: Zahlenmäßig sind sie für die FDP zu gering. Eine ähnliche Form der protestartigen Besitzverteidigung spricht auch die AfD aus. Außerdem passt es gerade nicht zu dem vermeintlich modernen, wandlungsoffenen Image der Freien Demokraten.

Ein Ausgleich der divergenten Wählergruppenperspektiven entlang des Gegensatzes von Fortschritt und Besitzstandswahrung scheint kaum erreichbar, stellt aber zugleich seit je her eine zentrale Spannungslinie des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland dar. Die Lösungen gegenwärtig diskutierter Probleme in den Bereichen Mobilität, Umwelt, Wohnung und Altersversorgung sind daher weniger in einem Verweis auf Bestehendes oder der Verteidigung von Besitzansprüchen zu finden. Gerade weil die FDP gegenüber Konservativen und Grünen gegen Verbote und Eingriffe wettert, erfordert es vielmehr eine Diskussion darüber, wie Freiheiten anderer durch Besitzstandswahrung eingeschränkt werden und wie sich stattdessen die Abwägung dieser unterschiedlichen Freiheitsansprüche zueinander gestalten soll.

 

Michael Freckmann ist Lehrbeauftragter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und forschte hier u.a. zu Lindners FDP

 

[1]Dahrendorf, Ralf: Die Chancen der Krise, Stuttgart 1983, S. 210.

[2]Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993, S. 28.

[3]Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993, S. 46ff.

[4]Vorländer, Hans: Der soziale Liberalismus der F.D.P., in: Holl, Karl/Trautmann, Günter/Vorländer, Hans: Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190–226, hier S. 213f.

[5]Reisener, Thomas: FDP verlangt Diesel-Garantie, in: RP-online.de, URL: https://rp-online.de/politik/deutschland/fdp-will-diesel-garantie-zum-schutz-des-eigentums-von-diesel-fahrern_aid-34959731 [eingesehen am 05.05.2019].

[6]Vorländer, Hans: Der soziale Liberalismus der F.D.P., in: Holl, Karl/Trautmann, Günter/Vorländer, Hans: Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190–226, hier S. 198.

[7]Lindner, Christian: Rede zum Bundesparteitag, 26.04.2019, Berlin; URL: https://www.fdp.de/pressemitteilung/lindner-rede-dieses-land-waechst-mit-seinen-menschen [eingesehen am 05.05.2019].

[8] Nentwig, Teresa/Werwath, Christian: Die FDP, in: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel, Wiesbaden 2009, S. 95–128.

[9]Faus, Jana/Faus, Rainer/Gloger, Alexander: Kartografie der politischen Landschaft in Deutschland, Friedrich-Ebert-Stiftung 2016.