Europawahlen – na und?

Beitrag verfasst von: Anke Jäger
[kommentiert]: Anke Jäger zu den Auswirkungen europäischer Entscheidungen im Alltagsleben

 

Ende des letzten Jahres beschloss das Europäische Parlament das Verbot von Einwegplastik, sofern bereits eine umweltverträglichere Alternative auf dem Markt verfügbar sei. So sollen beispielsweise Wattestäbchen, Einweggeschirr oder Trinkhalme aus Plastik ab Anfang 2021 vom Markt verschwinden. „Auswirkungen für alle spürbar: EU beschließt Verbot von Einwegplastik“[1] titelte hierzu die Tiroler Tageszeitung. Wir werden demnach das Fehlen dieser Produkte bzw. ihren Ersatz durch Alternativprodukte alltäglich bemerken.

Man könnte angesichts dieser Schlagzeile meinen, dass Entscheidungen des Europäischen Parlaments nur in Ausnahmefällen, und auch dann nur in geringem Maße, für jeden spürbar seien. Im Normalfall verliefe „die Politik da oben“ über unsere Köpfe hinweg und beträfe uns im Alltag gar nicht. Aber der Schein trügt: Europarechtliche Entscheidungen haben nicht nur einen direkten Einfluss auf wirtschaftliche Prozesse und unser Alltagsleben, wie es bei dem genannten Verbot der Fall ist, sondern auch einen indirekten Einfluss auf politische Entscheidungen in Deutschland durch Gerichtsentscheidungen, Richtlinien und die Verpflichtung zur Umsetzung selbiger.

So trug die europäische Politik zur Bekämpfung von Diskriminierung in der Arbeitswelt, im Familienrecht, im Sozial- und Einkommenssteuerrecht sowie in vielen weiteren Bereichen entscheidend bei.[2] Bis zum Jahr 2011 war es beispielsweise möglich und üblich, Versicherungsprämien z. B. bei der KFZ-Haftpflichtversicherung oder der Krankenversicherung für Frauen und Männer unterschiedlich hoch anzusetzen. Begründet wurde dies mit Statistiken, die eine unterschiedliche Risikobewertung zuließen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sah jedoch in der zugrundeliegenden „Gender-Richtlinie 2“ einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz der Grundrechte-Charta, wodurch die Regelung für unwirksam erklärt wurde. Seither dürfen sich derlei Prämien nicht aufgrund des Geschlechts unterscheiden.[3]

Doch die EU trägt nicht nur zur Bekämpfung von Diskriminierung bei. Auch im Arbeitsrecht sind die europäischen Einflüsse unverkennbar: Jüngst traf der EuGH eine Entscheidung, die ArbeitnehmerInnen vor unbezahlten Überstunden schützen soll und in naher Zukunft den Alltag tausender Menschen in ganz Europa nach offiziellem Dienstschluss ändern könnte.[4] Hintergrund des Urteils war die Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen den spanischen Ableger der Deutschen Bank. Die Gewerkschaft hatte gegen die fehlende Erfassung der Arbeitszeit geklagt, und darauf verwiesen, dass über 50% der Überstunden in Spanien nicht erfasst würden und somit unbezahlt blieben. Als Konsequenz des Urteils müssen die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten nun Regelungen treffen, welche die ArbeitgeberInnen verpflichten, die Arbeitszeiten ihrer ArbeitnehmerInnen zu erfassen. Dies soll besonders im Niedriglohnsektor zu geregelten Arbeitszeiten und fairerer Bezahlung führen. Wie der deutsche Gesetzgeber diese Vorgabe im Einzelnen umsetzen wird und welche Folgen das für Vertrauensarbeitszeiten und interne Home-Office-Regelungen haben könnte, ist noch unklar. Sicher ist jedoch, dass die auf europäischer Ebene getroffene Entscheidung tief in den Arbeitsalltag vieler ArbeitnehmerInnen und -geberInnen eingreifen wird.

Wie sich durch diese und ähnliche Urteile erkennen lässt, fokussiert die EU in ihren Entscheidungen immer wieder Minderheitenschutz und eine Stärkung schwächerer Interessengruppen. Dies zeigt sich auch in den Verbraucherschutzrichtlinien: Fast der gesamte in Deutschland geltende Verbraucherschutz beruht auf der Umsetzung europäischer Richtlinien. Die detaillierte Zutatenauflistung bei Lebensmitteln, durch welche Personen mit Allergien geschützt werden, die Unwirksamkeit von unfair einseitig belastenden Klauseln im Kleingedruckten von Verbraucherverträgen oder die hohen Standards, die an die Inhaltsstoffe und Erprobung von Kosmetika und Medikamenten gestellt werden, haben wir der EU zu verdanken. Einerseits führen zuletzt genannte Regelungen dazu, dass Katastrophen wie die Contergan-Medikation während der Schwangerschaft verhindert werden. Andererseits sorgen sie auch für eine spätere Zulassung von neuartigen Medikamenten, zum Beispiel zur Krebsbehandlung. Auch hier nimmt die EU merklich Einfluss auf unseren Alltag wie auch auf unsere Gesundheit.

Aber wie wirkt die Union auf den deutschen Gesetzgeber ein und warum ist es wichtig, Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene mitzugestalten?

Neben den verpflichtenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs steht der Europäischen Union als Einwirkungsmittel der Erlass einer Richtlinie zur Verfügung. Die Europäische Kommission schlägt dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament einen Entwurf vor, über welchen dann verhandelt wird, zum Beispiel über eine bindende Regelung zu einzuhaltenden CO2-Austoß-Grenzwerten und möglichen Wegen dahin. Können sich die Fraktionen nach Verhandlungen auf Grenzwerte einigen, werden diese als Richtlinie von Parlament und Rat verabschiedet. Die verabschiedete Richtlinie legt Zielvorgaben fest, welche binnen einer einem Gesetzgebungsverfahren angemessenen Frist durch nationale Gesetze umzusetzen und durch Vollzugsakte einzuhalten sind.[5] Vollständig umgesetzt ist eine Richtlinie, wenn durch die erlassenen nationalen Gesetze und behördliches Handeln[6] die Zielvorgaben der Richtlinie, in unserem Beispiel die CO2-Grenzwerte, erfüllt werden. Der Gesetzgeber kann aber auch mehr regeln, als die Richtlinie verlangt, indem er für die Einhaltung niedrigerer Werte als die vorgeschriebenen Grenzwerte sorgt. Die Richtlinie stellt somit nur Minimalanforderungen an die Mitgliedstaaten.

Schon während der Umsetzungsfrist sind bereits vorhandene nationale Gesetze richtlinienkonform auszulegen – gibt es also eine Möglichkeit, das Gesetz so zu interpretieren, dass es die Richtlinie bereits ganz oder teilweise umsetzt, findet diese Lesart Anwendung. Wird die Frist nicht gewahrt, werden die Richtlinien unter bestimmten Umständen sogar unmittelbar angewandt, gelten also wie bereits in Kraft getretenes nationales Recht.[7] In einzelnen Rechtsgebieten, in denen die EU durch die Mitgliedstaaten besonders ermächtigt wurde (genannt seien etwa gemeinschaftliche Sozialpolitik und Handelspolitik), werden Rechtsakte ohne vorherige Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber vollzogen. Dies gilt für Verordnungen: Sie bedürfen keiner Umsetzung und gelten direkt und unmittelbar im nationalen Recht.[8]

Überdies etablierte der EuGH die Direktwirkung der gemeinschaftlichen Rechtsakte auf EU-Bürgerinnen und -Bürger.[9] Direktwirkung bedeutet, dass Angehörige von Mitgliedstaaten auch Rechte aus Unionsrechtsakten vor nationalen Gerichten einklagen können[10] und diese Vorrang vor nationalem Recht genießen.[11]

All das zeigt die mittelbare und unmittelbare Bedeutung der Entscheidungen auf europäischer Ebene für unser alltägliches Leben. Vielfach sind den EU-Bürgerinnen und -Bürgern die Vor- oder Nachteile, welche infolge der Umsetzung von europäischen Rechtsakten entstehen, wie der Minderheitenschutz, der Verbraucherschutz oder die Diskriminierungsverbote, kaum bewusst. Es mangelt u. a. an einer transparenten Berichterstattung, die die stattfindende politische Arbeit auf supranationaler Ebene in die einzelnen EU-Staaten trägt: In den Medien wird weder auf politische Debatten und Diskurse zwischen den Fraktionen in Brüssel eingegangen, noch Transparenz hinsichtlich der internen Fraktionsentscheidungen innerhalb des europäischen Parlaments geschaffen. Selten werden die Entwicklungsprozesse von Entscheidungen unter Nennung der verantwortlichen Parteien abgebildet, weshalb das Gefühl der EU als einheitliche, von den Einzelstaatsinteressen gelenkte Legislativmacht entsteht. Hieraus ergibt sich ein Problem bei der Entscheidungsfindung für die Wahlberechtigten: Wenn nicht bekannt ist, welche Partei wofür steht und sich die Wahlwerbung inhaltlich teilweise wenig unterscheidet (z. B. „Europa. Die beste Idee, die Europa je hatte“[12], „Europa richtig machen“[13] und „Europa im Wandel – Zeit zu handeln“[14]) wird den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit genommen, sich parteipolitisch zu positionieren und die Entscheidungen der Parteien zu verfolgen.[15]

Dies spiegelt sich in den Statistiken zu den Europawahlen wieder: Die Wahlbeteiligung 2014 betrug insgesamt 43,09 %, Deutschland lag mit einer Beteiligung von 47,9 % sogar über dem europäischen Durchschnitt.[16] Allerdings wirkt diese Zahl gegenüber der allgemeinen Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen (76,2 % im Jahr 2017[17]) dann doch etwas fad.[18] Dass der einwohnerstärkste EU-Mitgliedstaat mit den meisten Vertreterinnen und Vertretern im Parlament und der damit verbundenen starken Machtposition nur von weniger als der Hälfte seiner wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger legitimiert wird, stellt eine deutliche Schwächung der europäischen Demokratie dar.

Je höher die Wahlbeteiligung ist, desto stärker ist die gesellschaftliche Legitimation der deutschen Vertreterinnen und Vertreter im Europaparlament.[19] Die bereits aufgeführten Einflüsse der EU-Beschlüsse bestimmen unser alltägliches Leben, weshalb die Wahl zum Europäischen Parlament eine ernstzunehmende Entscheidung nicht nur für die multinationale Zukunft Europas ist, sondern auch für unser tägliches Miteinander auf nationaler Ebene.

 

Anke Jäger studiert Rechtswissenschaft und Europarecht in Würzburg. Seit 2015 arbeitet sie dort als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, seit 2017 außerdem am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 

[1] Tiroler Tageszeitung: Auswirkungen für alle spürbar: EU beschließt Verbot von Einweg-Plastik, 19.12.2018, URL: https://www.tt.com/politik/europapolitik/15142963/auswirkungen-fuer-alle-spuerbar-eu-beschliesst-verbot-von-einweg-plastik [eingesehen am 22.5.2019].

[2] Hierzu: Berghahn, Sabine/Wersig, Maria: Einflüsse des Europäischen Rechts auf die Geschlechterverhältnisse und andere Diskriminierungsumstände in den Mitgliedstaaten, Berlin 2005, S. 2.

[3] EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09; Dauses, Manfred A./Ludwigs, Markus: Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, München 2019, Rn. 302 ff.

[4] EuGH, Urt. v. 14.05.2019 – Rs. C-55/18.

[5] Ehrbeck, Thorsten: Umsetzung von Unionsrecht in föderalen Staaten, Berlin 2011, S. 31 f.

[6] Siehe Art. 5 EGV; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, Berlin 1997, S.74 ff.

[7] EuGH, Urt. V. 6.10.1970, Rs. 9/70 (Grad Finanzamt Traunstein), Slg 1970, S.825.

[8] Rickert, Beate: Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht, Berlin 1997, S. 241.

[9] EuGH, Urt. v. 5.2.1963, Rs. C-26/62 (Van Gend en Loss), Slg. 1963, S. 1.

[10] Schmidt, Siegmar/Schünemann, Wolf J.: Europäische Union – Eine Einführung, Stuttgart, Baden-Baden 2013, S. 198 f.

[11] Ebd. S. 53.

[12] Text auf einem Wahlplakat der Partei Die Grünen zur Europawahl 2019.

[13] Text auf einem Wahlplakat der Partei CDU zur Europawahl 2019.

[14] Text auf einem Wahlplakat der Partei SPD zur Europawahl 2019.

[15] Hierzu vertieft: Kiegeland, Julia: DIN-A-Nonsense? Julia Kiegeland über den Sinn und Unsinn von Wahlplakaten, https://www.demokratie-goettingen.de/blog/achtung-wahlkampf [eingesehen am 21.5.2019].

[16] Bundeszentrale für politische Bildung: Blog zur Europawahl 2014, Redaktion am 5.6.2014.

[17] Bundeszentrale für politische Bildung: Ergebnisse der Bundestagswahl 2017, Redaktion am 30.4.2017.

[18] Vgl. auch zu den Vorjahren: Schmidt, Siegmar/Schünemann, Wolf J.: Europäische Union – Eine Einführung, Stuttgart, Baden-Baden 2013, S. 72.

[19] Zum möglichen Demokratiedefizit in der Europäischen Union Tiedtke, Andreas: Demokratie in der Europäischen Union, Berlin 2005, S. 41 ff., 55 ff.