Auf dem Weg in den Polizeistaat?

Beitrag verfasst von: Marvin Hild
[analysiert]: Marvin Hild über die Entwicklung der Sicherheitpolitik in Frankreich

Paris, 13. November 2015. Ein islamistisch-antisemitischer Anschlag auf die Konzerthalle „Bataclan“ und ein weiterer Angriff auf das Stade de France kosten insgesamt 130 Menschen das Leben, 683 werden verletzt. Die Stadt befindet sich in einer Schockstarre, die Regierung Valls ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Franҫois Hollande ruft zum 14. November, mit Gültigkeit ab 0:00 Uhr, den Ausnahmezustand aus. Das letzte Mal lag zehn Jahre zurück, es war während der Unruhen in den Banlieues im Jahr 2005.

Mit dem Ausnahmezustand gehen weitreichende Befugnisse der Exekutivorgane einher. Innerhalb von fast zwei Jahren wurde er ganze sechs Mal vom Parlament verlängert, bis er schließlich am 1. November 2017 formal endete. Zuvor jedoch war am 30. Oktober 2017 das Sécurité Intérieure et Lutte contre le Terrorisme (SILT)-Gesetz (dt. „Innere Sicherheit und Kampf gegen den Terrorismus“) verabschiedet worden, welches die zentralen Sonderbefugnisse des Ausnahmezustandes in die normale Gesetzgebung integrierte.

Nicht ohne Grund war Frankreich das erste Ziel der kurz zuvor berufenen UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in der Terrorismusbekämpfung Fionnuala Ní Aoláin. So vermerkte sie u. a. Bedenken bezüglich „ethnischem und religiösem Profiling im Kontext der Terrorismusbekämpfung“[1] mit Auswirkungen auf die Rechte bestimmter Minderheiten. Dies ist nicht weiter überraschend, betrachtet man Hintergründe und Entwicklung des Ausnahmezustands in Frankreich.

Im Rahmen antikolonialer Revolten in Algerien wurde 1955 ein Gesetz verabschiedet, welches der Exekutive eine erhebliche Ausweitung ihrer Befugnisse zugestand. Dazu gehörten die Möglichkeit zur Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Befugnis, Ausgangssperren zu verhängen. Es ist leicht erkennbar, dass dieses Gesetz mit dem Zweck, die innere Sicherheit und Stabilität im Angesicht unmittelbarer Bedrohung zu gewährleisten, vor allem als repressives Instrument gegen die algerischen Proteste gedacht war. Die französische Polizei ging erwartungsgemäß nicht immer verantwortungsvoll mit ihren zusätzlichen Macht um, wie die Vorfälle vom 17. Oktober 1961 – festgehalten von Yasmina Adi in der Dokumentation „Ici on noie les Algériens“[2] (dt. „Hier ertränken wir die Algerier“) – schmerzlich aufzeigen.

War der Ausnahmezustand bislang nur ausgerufen worden, wenn die Sicherheit bzw. vielmehr die Einheit der Republik auf dem Spiel standen, so stellte die Ausrufung desselben im Jahr 2005 einen Wendepunkt dar. Am 27. Oktober 2005 kamen in Clichy-sous-Bois, einer Banlieue von Paris, die Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré ums Leben. Sie hatten versucht, einer Kontrolle durch die Polizei zu entgehen, und waren bei der darauf folgenden Verfolgungsjagd in die Reichweite einer Starkstromleitung geraten. Der Vorfall hatte Revolten in diversen Pariser Vororten zur Folge. Als Reaktion rief der amtierende Präsident Chirac am 8. November den Ausnahmezustand aus, welcher kurz darauf um drei Monate verlängert wurde,[3] obwohl die Aufstände bereits am 17. November weitestgehend zum Erliegen gekommen waren.[4] Zwar handelte es sich um einen in Gewalt ausartenden sozialen Konflikt, die Einheit Frankreichs war jedoch zu keiner Zeit in Gefahr.

Ähnlich kann auch die Situation 2015 begriffen werden. Der Ausnahmezustand diente als Werkzeug, um der chaotischen Situation im Rahmen der Terroranschläge Herr zu werden. Eine gewalttätige Auseinandersetzung, zweifelsohne, jedoch keineswegs eine Bedrohung für die Einheit der Republik. Wenn in diesem Kontext die Rede davon ist, der Situation Herr zu werden, so geht es zum einen um Maßnahmen, wie sie bereits im Rahmen der algerischen Aufstände von Bedeutung waren (z. B. Versammlungsverbote, auch durch Schließung sozialer Begegnungsräume wie Cafés oder Theater). Zum anderen spielen aber auch Eingriffe in die Privatsphäre und in die Unschuldsvermutung (bspw. Hausdurchsuchungen auch mit geringem Anfangsverdacht und präventive Festnahmen) eine Rolle.[5]

Am 17. November 2018 ist nun die Revolte[6] der Gelbwesten ausgebrochen, ihr war ein Video[7] der 51-jährigen Jacline Mouraud vorausgegangen, in dem diese sich gegen die Ökosteuer auf Treibstoff aussprach und dazu aufrief, als Zeichen des Protests eine gelbe Warnweste hinter die Windschutzscheibe zu legen. Die soziale Struktur der „gilets jaunes“ ist mittlerweile durchmischt, ebenso rekrutieren sie sich u. a. aus beiden politisch extremen Lagern, dem rechten wie dem linken. Im Mittelpunkt ihrer Forderungen steht das Thema soziale Gerechtigkeit; Präsident Macron sah sich bereits zu diversen Zugeständnissen genötigt, darunter eine Aussetzung der Ökosteuer, des Steins des Anstoßes. Nichtsdestotrotz ebbten die Proteste und Ausschreitungen nicht ab. Inzwischen beschloss die Regierung den Einsatz von Elitesoldaten aus Anti-Terror-Einheiten und Überwachungsdrohnen gegen die Protestierenden. Auch Versammlungsverbote wurden erlassen.[8] Deren Verhängung wurde zusätzlich dadurch erleichtert, dass die Nationalversammlung Anfang Februar dieses Jahres ein „Anti-Randalierer-Gesetz“ beschlossen hat. Dadurch ist keine richterliche Grundlage mehr erforderlich und es können Haftstrafen von bis zu sechs Monaten bei Zuwiderhandlung verhängt werden.

Offiziellen Stellen zufolge wurden bis zum 3. Februar ca. 1200 Demonstranten verletzt. Bei vielen von ihnen liegt die Ursache für ihre Verletzung im offensiven und massiven Gebrauch von Gummigeschossen durch die Polizei, welche häufig den Mindestabstand für den Einsatz der Munition nicht einhält oder einhalten kann. Dies veranlasste sogar Dunja Mijatović, ihres Zeichens Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, sich besorgt über die Zahl und Schwere der Verletzungen[9] als Folge staatlicher Gewalt zu äußern; eine Einschätzung, welcher der französische Innenminister erwartungsgemäß nicht folgte. Auf Grund der neuen Gesetzeslage und der weitreichenden Befugnisse der Polizei konnte auch ein Antrag, den Einsatz von Gummigeschossen zu untersagen, durch das oberste französische Verwaltungsgericht abgewiesen werden.[10]

Wenngleich die Charakterisierung als Polizeistaat zweifellos noch eine Übertreibung darstellt, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, führt man sich die chronologische Entwicklung hin zum SILT-Gesetz vor Augen, dass Frankreich seit den 1950er Jahren eine stetige – in den letzten Jahren rapide – Verschärfung und Ausdehnung der Interpretation der Gesetzeslage erlebt hat, wenn es um die Befugnisse der Sicherheitsorgane geht. Es ist in diesem Kontext auch wichtig, sich den Wandel des Kontextes, in dem diese Gesetze zur Anwendung kamen, zu vergegenwärtigen. Dienten sie anfangs noch dem kolonialistischen Machterhalt, so können sie mittlerweile durchaus als ein Instrument zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung staatlicher Autorität im Allgemeinen verstanden werden. Es ist geboten, dass die Politikwissenschaft die zukünftige Entwicklung aufmerksam verfolgt.

 

Marvin Hild studiert Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Im Wintersemester 2018/2019 hat er bei Teresa Nentwig das Seminar „Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Frankreich“ besucht.

 

[1] Zit. nach Vauchez, Stéphanie H.: The State of Emergency in France: Days Without End?, in: European Constitutional Law Review, Jg. 14 (2018), H. 4, S. 700–720, hier S. 701 (Übersetzung d. V.).

[2] URL: http://www.allocine.fr/video/player_gen_cmedia=19249583&cfilm=194359.html [eingesehen am 15.03.2019].

[3] Vgl. Wiegel, Michaela: Straßenkrawalle. Paris will Ausnahmezustand verlängern, in: FAZ.NET, 14.11.2005, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/strassenkrawalle-paris-will-ausnahmezustand-verlaengern-1280304.html [eingesehen am 15.03.2019].

[4] Der 17. November 2005 war der letzte Zeitpunkt, zu dem noch nennenswerte Sachschäden als Resultat von Protesten zu verzeichnen waren.

[5] Hierbei handelt es sich um Aspekte, die auch in der deutschen Diskussion über den Umgang mit sogenannten Gefährdern relevant sind.

[6] Vgl. Wihl, Tim: Macrons Revolte, in: Verfassungsblog, 12.12.2018, URL: https://verfassungsblog.de/macrons-revolte/ [eingesehen am 15.03.2019].

[7] URL: https://www.youtube.com/watch?v=06pOTxTvnBU&feature=youtu.be [eingesehen am 15.03.2019].

[8] Vgl. Preker, Alexander: Anti-Terror-Kräfte: Macron setzt Elitesoldaten gegen Gelbwesten ein, in SPIEGEL Online, 20.03.2019, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/gelbwesten-proteste-in-paris-emmanuel-macron-schickt-elite-soldaten-a-1258871.html [eingesehen am 15.03.2019].

[9] Vgl. Rucht, Dieter: Die Gelbwestenbewegung. Stand und Perspektiven, ipb working paper, Berlin 2019, S. 12, URL: https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2019/02/dieter-rucht-gelbwesten.pdf [eingesehen am 15.03.2019].

[10] Vgl. o. V. (Kürzel: aev/AFP): Polizei darf weiter Gummigeschosse gegen Demonstranten einsetzen, in SPIEGEL Online: 01.02.2019, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/gelbwesten-proteste-franzoesische-polizei-darf-weiter-gummigeschosse-einsetzen-a-1251168.html [eingesehen am 15.03.2019]. Interessant außerdem: o. V.: Eskalation in Frankreich: Macron will deutlich härter gegen „Gelbwesten“ vorgehen, in FAZ.NET, 17.03.2019, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/macron-will-haerter-gegen-gelbwesten-proteste-vorgehen-16093605.html [eingesehen am 22.03.2019]; o. V.: „Gelbwesten“-Proteste gegen Polizeigewalt, in tagesschau.de, 22.03.2019, URL: https://www.tagesschau.de/ausland/gelbwesten-171.html [eingesehen am 22.03.2019].