Empörung ohne Widerspruch

Beitrag verfasst von: Jöran Klatt

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[kommentiert]: Jöran Klatt über die Parallelen zwischen Peter Taubers und Martin Schulz Sicht auf prekäre Beschätigungen

Peter Tauber hat mit einem Tweet einen Shitstorm gegen ihn ausgelöst. „Wenn Sie etwas Ordentliches gelernt haben,“ so der CDU-Generalsekretär, „dann brauchen Sie keine drei Minijobs“. Die Welle der Empörung ist groß. Wenig verwunderlich, dass Vertreter_innen der Konkurrenzparteien sich dem Angriff auf ihn anschließen. Einer von ihnen ist der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Schulz ließ via Facebook verlauten: „Als ich damals ohne Abschluss von der Schule ging, haben mir nicht die Leute mit den klugen Sprüchen geholfen. Sondern diejenigen, die an mich geglaubt und mich unterstützt haben. […] Dank ihrer Unterstützung machte ich eine Ausbildung, bekam mein Leben wieder in den Griff.“ Schulz’ Antwort ist eine genügsame Kritik an Taubers Arroganz, die sich v.a. an die Kernklientel der Sozialdemokraten richtet. Er selbst, Schulz, sei das gelungene Beispiel, wie es denn funktionieren könne, wenn man denn nur an die kleinen Leute glaube.

Indes: Zwischen den Zeilen widerspricht Schulz’ Kommentar Tauber gar nicht. Denn dieser verbleibt in dem, was Linguisten wie die in Berkeley lehrende Elisabeth Wehling einen Frame nennen, also einem sprachlichen Rahmen, der vorsortiert, was gilt und was nicht. Sowohl in Taubers offener Kritik an den „Unqualifizierten“ als auch in Schulz’ vermeintlicher Verteidigung dieser ist die unterschwellige Botschaft dieselbe: nämlich der Frame von Arbeitslosigkeit (und generell Lebensnot) aus mangelnder Qualifizierung heraus.

Der sozialdemokratische Wahlkampf bleibt bislang stets in dieser Logik und verharrt in dem „Aufstieg durch Bildung“-Mythos, also in der Idee, dass eine gute Qualifikation auch gute Jobs und ein gutes Leben verspreche und man sich folglich an der Steigerung der individuellen Ressourcen (hier der Qualifikation) zu orientieren habe. Doch so kraftvoll und wirkmächtig die Erzählung eines Aufstiegs aus eigener Kraft auch (gewesen) sein mag, offenbaren sich bei genauerem Hinsehen doch allerhand Gründe, an ihr zu zweifeln.

Dem Soziologen Oliver Nachtwey zufolge sei das Versprechen des sozialen Aufstiegs mittlerweile ausgehölt, ja es habe sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt – sei es doch vielmehr der „Abstiegs“-Charakter, der als zentrales Signum dieser Zeit und Gesellschaft gelten könne. Nachtwey vergleicht die Gesellschaft dabei mit einer nach unten fahrenden Rolltreppe, auf der die Menschen in Fahrtrichtung entgegengesetzt laufen müssen, nur um an gleicher Stelle bleiben zu können. In dieser Abstiegsgesellschaft ist Bildung nicht alleine ein Wert an sich. Es kommt stark darauf an, welche Form von Bildung besteht.

Ersteres meint das, dass heutzutage für den gleichen Job und den gleichen Status höhere Abschlüsse verlangt werden als in der Vergangenheit. Klassische Ausbildungsberufe erfordern heute nicht mehr einen Haupt- oder Realschulabschluss, sondern mindestens das Abitur. Zweitens bedeutet es, dass das besonders von der SPD häufig angerufene Bildungsnarrativ, also die immer wieder betonte Versprechung guter Jobs durch gute (Aus-)Bildung, gleichzeitig nur eine halbe Wahrheit ist.

Denn gute (bei Tauber heißt sie „ordentliche“) Ausbildung ist relativ. Im neoliberalen Zeitalter sind hohe Bildungsabschlüsse nämlich keineswegs ein Weg, den sozialen Status zu halten oder gar aufzusteigen. Die Abstiegsgesellschaft zeichnet sich durch die sogenannte Prekarisierung aus, welche die LINKE-Politikerin Katja Kipping einmal als „Kontrolle der Gesellschaft durch Angst“ bezeichnet hat. Prekäre Berufe, also Jobs mit Lohn am unteren Rand des Existenzminimums und fehlender sozialer Sicherung (v.a. in Form von Befristungen), finden sich nicht mehr alleine in den gering qualifizierten Bereichen der Gesellschaft, sondern auch bei eigentlich Hochqualifizierten (bspw. Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen).

Formulierungen wie „ordentlich“ bei Tauber wie auch die Rede von „Ausbildung“ und „Leben wieder in den Griff“ bekommen bei Schulz implizieren dabei das Gleiche: Sie sind Appelle an einen letztlich konformistischen Pfad marktwirtschaftlich akzeptabler Berufe – kurzum: sich der Marktlogik zu fügen. Das neoliberale Zeitalter unterscheidet sich dabei von dem, was Oliver Nachtwey „soziale Moderne“ nennt, dadurch, dass es noch restriktiver sortiert, welche ökonomisch verwertbare Lebenswege und welche nicht sind. In der Konsequenz liegt die Verantwortung für die individuelle Lage dann darin, zu welcher Berufswahl sich Menschen (vielleicht auch aus Leidenschaft oder Eignung) entschlossen haben, sich dabei aber (so implizieren beide Aussagen) für einen sicheren, ökonomisch sinnvolleren Lebensweg hätten entscheiden können. Ausgeblendet wird die Tatsache, dass es ein System gibt, welches das eine bevorzugt und das andere abwertet; und dass sich eine Gesellschaft auch demokratisch entscheiden könnte, welche Lebensmodelle und Berufe vielleicht wirtschaftlich nicht verwertbar sind, aber trotzdem zu ergreifen möglich sein sollten und welche die Gesellschaft braucht.

Die Schuld an Armut und prekärer Situation wird infolgedessen nicht nur in Taubers direkter und unmissverständlicher Aussage auf die jeweiligen Menschen abgewälzt. Auch Martin Schulz’ Aussage bleibt dabei, dass man ja eine „Chance“ habe, die man ergreifen sollte, sprich: dass man nicht den falschen Lebensweg wählt und falls man es denn getan hat, doch möglichst noch den richtigen einschlagen sollte. Statt über eine Gesellschaft nachzudenken, die den enormen Reichtum, den sie erwirtschaftet hat, einfach gerechter verteilt und den Menschen dadurch mehr Freiheit (auch in der Berufswahl) gewährt, bleiben somit letztendlich beide Aussagen dabei, dass man sich doch am Ende bitte richtig – sprich marktkonform – verhalten solle. Unterscheiden tun sie sich dabei lediglich darin, wie restriktiv oder unterstützend man dabei den Menschen gegenüber zu sein hat.

Jöran Klatt M.A. ist Sprach- und Kommunikationswissenschaftler und arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.