[debattiert]: taz-Redakteur Daniel Bax über die Rückkehr des Abendlandes.
Ausgerechnet in der sächsischen Hauptstadt Dresden nahmen die Kundgebungen der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, für die das Kürzel „PEGIDA“ steht, ihren Ausgang. Dass das erstaunlich ist, weil in der Stadt wie im restlichen Sachsen kaum Muslime leben, darauf ist schon oft hingewiesen worden. Genau so absurd ist aber, dass die „PEGIDA“-Aktivisten im Namen ihrer Bewegung das Wort Abendland tragen und behaupten, dieses zu verteidigen. Denn das Wort Abendland ist religiös konnotiert, und zwar ursprünglich in einem katholisch-konservativen Sinne. Doch Sachsen gehört zu den säkularisiertesten und religionsfernsten Regionen Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt; die große Mehrheit der Menschen in Sachsen – über siebzig Prozent – ist konfessionslos und areligiös, und das gilt auch für die große Mehrheit der „PEGIDA“-Mitläufer. Wie passt das zusammen?
Ein Kampfbegriff – zu fast allen Zeiten
Dass der Begriff Abendland neuerdings sogar von Atheisten und Agnostikern ins Feld geführt wird, um sich von Flüchtlingen und Muslimen abzugrenzen, ist nur die jüngste Wendung in der erstaunlichen Karriere dieses Kampfbegriffs.
Indirekt geht das Abendland, wie so viele Wörter und Redewendungen im Deutschen, auf den Reformator Martin Luther zurück. Als Luther 1521 in seiner Schreibstube auf der Wartburg bei Eisenach die Bibel aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte, musste er sich für die „Heiligen Drei Könige“, die aus dem Osten kommend dem Stern von Bethlehem gefolgt sein sollen, eine deutsche Bezeichnung ausdenken. So kam er auf die Wendung von den drei „Weisen aus dem Morgenland“.
Aus Luthers Neuschöpfung leiteten andere später das Wort Abendland ab – quasi als Gegenstück zum Morgenland. Zunächst war das Abendland nur eine deutsche Übersetzung des lateinischen Begriffs Okzident als Pendant zum Orient, dem Osten. Diese Begriffe gehen auf die antike Vorstellung zurück, dass die Sonne im Osten auf- und, von Rom aus gesehen, in Westeuropa untergeht. Doch schon früh wurde der Begriff Abendland ideologisch aufgeladen und der Okzident zum Kulminationspunkt einer bestimmten Kultur stilisiert.
Spätestens seither war das Abendland ein politischer Kampfbegriff, der zur Integration nach innen ebenso wie zur Abgrenzung nach außen diente und mit dem insofern zugleich die Angst vor einer diffusen „Gefahr aus dem Osten“ beschworen wurde. Die Formel von einem „Kampf zwischen Abendland und Islam“ bürgerte sich aber erst sehr viel später ein. Zunächst wurde das Abendland gegen andere Gegner in Stellung gebracht: mal in Konkurrenz zum orthodox geprägten Byzanz aufgerufen, mal gegen Demokratie und Liberalismus einerseits, den Kommunismus oder das Judentum andererseits gewendet.
Dieses Abendland war schon immer mehr eine Idee als ein geografisch fest umrissener Ort: eine Projektion, entstanden aus dem Wunsch, eine gemeinsame westeuropäische Identität zu behaupten, die Deutschland und Frankreich, aber auch England, Italien, Spanien, Portugal und nach Bedarf sogar die von Europa geprägten USA umfassen konnte. In den letzten Jahrzehnten sind die geografischen Grenzen dieses Abendlands noch weiter verschwommen: Inzwischen werden von manchen auch der christlich-orthodox geprägte Osten und Südosten Europas dazugezählt.
Neue Feinde
Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) hat das Abendland ebenfalls inzwischen für sich entdeckt. Die „abendländische, christliche Kultur“ wolle man bewahren, heißt es gleich zu Beginn in ihrem Parteiprogramm. Doch auf den nachfolgenden Seiten findet sich der Begriff „christlich“ nur selten, und er wird kaum mit Inhalt gefüllt. Zwar gibt es einen „Arbeitskreis der Christen in der AfD“. Aber mit den beiden großen Kirchen steht die AfD eher auf Kriegsfuß. Sie nimmt der Katholischen und Evangelischen Kirche ihr Engagement in der Flüchtlingshilfe übel. Die AfD-Vize Beatrix von Storch forderte deshalb auch schon mal die Abschaffung der Kirchensteuer.
Was manche der AfD-Anhänger inhaltlich mit dem Begriff „Abendland“ verbinden, zeigte sich bei Aufmärschen in Dresden oder Erfurt. Dort wurden vielfach Wirmer-Flaggen geschwenkt, die mit ihrem versetzten Kreuz einer skandinavischen Flagge ähneln – nur, dass sie in Schwarz-Rot-Gold gehalten sind. Der Entwurf dieser Fahne geht auf den katholisch-konservativen Juristen Josef Wirmer zurück, ein Mitglied der Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944. Die Wirmer-Flagge ist das Erkennungszeichen einer Neuen Rechten geworden, die sich auf die Ideen der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit bezieht. Deren Vordenker waren aber weniger christlich als vielmehr antiliberal, antiegalitär und antidemokratisch eingestellt.
Das Christentum wurde schon immer missbraucht, um eher unchristliche Ziele durchzusetzen: durch weltliche Herrscher, die damit ihren Machtanspruch begründeten; oder Kolonialisten, die auf fremden Kontinenten Kreuze aufpflanzten, um die Bevölkerung zu unterdrücken oder mit Zwang zu ihrem Glauben zu bekehren. Und so beschwören auch die Rechtspopulisten von heute ein imaginäres Abendland, das es so nie gegeben hat, ebenso wenig wie ein einheitliches Christentum. Wie zum Beleg dafür gibt es in anderen Sprachen für den deutschen Begriff „Abendland“ keine wörtliche Entsprechung. Im Französischen spricht man von occident oder l’Occident, im Englischen noch neutraler vom Westen: the West.
Dennoch sind auch diese Begriffe oft implizit – und manchmal auch explizit – christlich konnotiert. Besonders anschaulich zeigt sich dies an der erstaunlichen Karriere der These vom „Kampf der Kulturen“, die der US-Politologe Samuel Huntington aufgestellt hat. Mitte der 1990er Jahre behauptete Huntington, die politischen Konflikte der Zukunft würden nicht mehr von Ideologien und Interessen, sondern von kulturellen Unterschieden bestimmt. Nach Huntingtons Auffassung teilte sich die Welt in mehrere „Kulturräume“ und Zivilisationen auf, die in einer historischen Gegnerschaft zueinander stünden. Im Aufstieg Chinas und einem wiedererstarkten Islam sah er dabei die größten Herausforderungen für die US-Außenpolitik. Die Grenzen Europas markierte Huntington dort, „wo das westliche Christentum aufhört und der Islam beginnt“.
Das gemeinsame Feindbild Islam schweißt heute Evangelikale, Rechtskatholiken, orthodoxe Christen und extreme Nationalisten zusammen. Sie alle pflegen das Mantra, der Islam gehöre nicht zu Europa. Damit leugnen sie nicht nur die vielen arabischen und muslimischen Einflüsse, die zur europäischen Kultur und Geschichte gehören – vom Andalusien unter den Mauren bis zu den türkischen Bädern und Zitadellen des Balkans. Sie vergessen auch, dass europäische Länder wie Bosnien, Albanien und Bulgarien bis heute stark muslimisch geprägt sind.
Ein einheitliches „christliches Abendland“ hat es dagegen nie gegeben. Vielmehr entfremdete sich die (west-)römische Kirche im Mittelalter von Byzanz; und mit der Reformation setzte eine Reihe blutiger Religionskriege ein, bei denen meist Christen gegen Christen kämpften. Als etwa die Stadt Wien im Jahr 1683 während der „zweiten Türkenbelagerung“ von den Heeren des Os-manischen Reichs bedrängt wurde, war der osmanische Sultan mit dem katholischen Frankreich verbündet. Die Rivalität zwischen der französischen Monarchie und den Habsburgern wog letztlich schwerer als die gemeinsame Religion.
Der Deutungskampf geht weiter
Auch heute steht nicht ein einheitliches „christliches Europa“ geschlossen gegen einen homogenen Islam. Vielmehr haben wir es hierbei mit einem innerchristlichen und innereuropäischen Kampf darüber zu tun, was das Christentum und Europa in ihrem Innersten ausmacht. Oder, um es pathetisch zu formulieren: mit einem Kampf um die Seele des Abendlands. Auf der einen Seite stehen Demagogen wie Ungarns Premier Victor Orbán, der behauptet, die „tausendjährige Tradition des Christentums“ in seinem Land zu verteidigen, und der sich an vorderster Front im Abwehrkampf gegen eine muslimische „Invasion“ wähnt. Mit Stacheldraht und Schießbefehl schottet er sich nicht nur nach außen ab, sondern bekämpft erklärtermaßen das liberale Gesellschaftsmodell, wobei er die Katholische Kirche seines Landes zum größten Teil hinter sich weiß. Auch US-Präsident Donald Trump wählte als seinen Vize nicht zufällig einen evangelikalen Hardcore-Fundamentalisten wie Mike Pence, der Abtreibungen bekämpft und an die „Heilung“ von Homosexuellen glaubt, aber nicht an die Evolutionstheorie oder den Klimawandel. Auch deshalb konnte sich Trump bei seinem Wahlsieg auf den Rückhalt evangelikaler Freikirchen verlassen.
Auf der anderen Seite steht etwa Papst Franziskus, der immer wieder für Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen und eine brüderliche Haltung gegenüber Muslimen warb. Wiederholt forderte er, den Islam nicht pauschal mit Gewalt und Terror gleichzusetzen, denn gefährliche Fundamentalisten gebe es auch unter Christen. Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel begründete ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage – und ihre Politik insgesamt – mit dem „christlichen Menschenbild“. Nicht zufällig wird sie von Freunden wie Gegnern als Antipodin und liberales Gegengewicht zu rechten Populisten wie Trump und Orbán angesehen. Ihren Kritikern, die sich vor einer drohenden „Islamisierung“ fürchten, empfahl sie einmal trocken, sie sollten einfach öfter in die Kirche gehen.
Doch mit der christlichen Botschaft von Barmherzigkeit und Nächstenliebe haben es die rechtspopulistischen Angstmacher nicht so. Sie verteidigen ein geistig und spirituell entleertes „Abendland“, in dem alles Muslimische verboten oder verdrängt werden soll und dessen christlicher Charakter sich lediglich auf einige sichtbare Äußerlichkeiten wie Kruzifixe beschränkt. Ein solches Abend-land aber hat es zum Glück nie gegeben.
Daniel Bax, geb. 1970, ist Redakteur im Inlandsressort der taz (die tageszeitung) in Berlin. Dort schreibt er über Migration und Religion, Politik und Popkultur.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Originalbeitrags, der in der INDES-Ausgabe 1-2017 erschienen ist: Hauptsache, es geht gegen den Islam. Über die Rückkehr des Abendlandes.