Eine Kiste, in die nicht alles hineinpasst?

Beitrag verfasst von: Philipp Scharf

Thema:

Kurzbeschreibung:

Philipp Scharf über die Fachtagung „Demokratiefeindliche Brückennarrative in der politischen Bildung“ der Bundesfachstelle Linke Militanz.

Am Donnerstag, den 10. November 2022, lud die Bundesfachstelle Linke Militanz zu ihrer Fachtagung „Demokratiefeindliche Brückennarrative in der politischen Bildung“ ein. Erklärtes Ziel der Veranstaltung war es, die „strukturierende und identitätsstiftende Funktion“ von Antisemitismus und Antiimperialismus innerhalb „von verschiedenen radikalisierten Gruppen“[1] zu prüfen und – grundsätzlicher – den analytischen Mehrwert eines solchen Konzepts der „Brückennarrative“ zu erörtern. Zu diesem Zweck kamen rund vierzig Personen aus der Kinder- und Jugendarbeit, der politischen Bildungsarbeit, der Wissenschaft und von Sicherheitsbehörden zusammen; weitere 22 Teilnehmer:innen konnten dank des hybriden Veranstaltungsformats digital den Ausführungen der Referent:innen lauschen.

Der wissenschaftliche Leiter der Bundesfachstelle, Prof. Dr. Simon T. Franzmann, ging in seinem Geleitwort zunächst auf die wissenschaftliche Verortung des Konzepts der Brückennarrative ein. Die Strategie, unter Zuhilfenahme von Narrativen Brücken zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu schlagen, sei demnach in der Parteienforschung weithin bekannt und akzeptiert, würde dort mitunter allerdings anders benannt. Überdies sei vor der Beobachtung des gesellschaftlichen Strukturwandels, der mit dem Bedeutungsverlust der klassischen sozioökonomischen Konfliktlinie zwischen „links“ und „rechts“ einhergehe, nach gesellschaftlichen Kohäsionsprozessen zu fragen; neuerdings bestimmten in post-industriellen Staaten primär Identitätskonflikte das politische Zusammenleben. Narrative könnten unter diesen Voraussetzungen als identitätsstiftendes Moment in ideologisch unsicheren Zeiten wirken. Ob der Begriff des Brückennarrativs somit tatsächlich eine sinnvolle konzeptionelle Neuerung darstellt oder ob es sich eher um alten Wein in neuen Schläuchen handelt, blieb zu diesem Zeitpunkt noch unbeantwortet.

Den Mitarbeitern der Bundesfachstelle Alexander Deycke und Tom Pflicke oblag es daher, ihre Interpretation und den etwaigen wissenschaftlichen wie praktischen Nutzen von Brückennarrativen eingehender vorzustellen: Das Konzept stamme aus der Radikalisierungsforschung und solle zeigen, wo die diskursiven „Gemeinsamkeiten ideologischer Elemente in verschiedenen radikalisierten Gruppen“[2] liegen. Diese Grundüberlegung greifen Deycke und Pflicke auf, indem sie ähnliche ideologisch-narrative Elemente und sinnstiftende Erzählstrukturen zwischen radikalen Gruppen identifizieren. Dass die Ideologie in derartigen Gemeinschaften, so die Referenten, keinen entscheidenden Faktor für die individuelle Radikalisierung einnehme, solle kein Hindernis für die Auseinandersetzung mit potenziell demokratiegefährdenden Narrativen darstellen. So sei insbesondere der gruppenspezifische Antiimperialismus oftmals ein Einfallstor für eine Spielart des linksradikalen Antisemitismus. Anhand zahlreicher historischer Beispiele zeigte das Referentenduo, wann und wie innerhalb der radikalen Linken antisemitische Stereotype produziert wurden.

Überhaupt scheint der Antisemitismus von Links das in diesem Forschungsfeld relevanteste Brückennarrativ zu sein – dies zog sich als ein roter Faden durch den Tag und wurde durch einen eigenen Vortrag von Anetta Kahane, die 1998 Mitbegründerin und bis März 2022 hauptamtliche Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung war, verdeutlicht. Kahane zufolge gebe es keine „antisemitismusfreien Zonen in der Gesellschaft“; dies gelte auch für ein antiimperialistisches Milieu, das in seiner Hinwendung zu nationalen Befreiungsbewegungen eine „Rückkehr zum Völkischen“ Vorschub leiste und damit genuin linke bis linksradikale Gewissheiten konterkariere.

Indes: Den Ton der Tagung setzte ein Anderer. Der Leiter der Landeszentrale für Politische Bildung Berlin, Thomas Gill, legte in seinem Vortrag bereits vor dem Göttinger Foschungstandem seine Skepsis gegenüber Brückennarrativen dar, die in der Praxis – mit Ausnahme des Antisemitismus – nicht relevant seien. In der Verzahnung des Konzepts und der politischen Bildung identifiziert Gill ein großes Gefahrenpotential; er warnt weiterhin vor einer „Versicherheitlichung“ der politischen Bildung, die sich aus dem expliziten Bezug auf Radikalisierungsforschung ergebe und auf eine praktische Präventionsarbeit hinausliefe. Stattdessen bedürfe es einer Anerkennung von Jugendlichen und ihren Lebenswelten, deren Selbstbestimmung es zu fördern gelte. Eine emanzipativ verstandene politische Bildung könne die kritische Selbstreflexion Jugendlicher befördern und so langfristig gesellschaftliche wie politische Integration hervorbringen. In einer solchen „Pendelbewegung“ aus – vermeintlicher – Radikalisierung und Selbstkritik würden mündige politische Bürger:innen erwachsen. Würden heranwachsende politische Subjekte jedoch nicht ernstgenommen oder sogar kriminalisiert – Gill verweist auf den derzeit kursierenden Kampfbegriff der „Klima-RAF“ – bestünde die Gefahr, die entsprechenden Personen zu stigmatisieren und tatsächliche Ablehnung des Demokratischen zu fördern. Gill schließt seinen Vortrag mit einem emphatischen Plädoyer: „Bewegen müssen wir uns, nicht die, die ausgestiegen sind.“

Nachdem am Nachmittag zwei Projekte der politischen Praxis – die Bildungs- und Beratungsstelle PHÄNO des Sozialpädagogischen Instituts Berlin „Walter May“[3] sowie jugendschutz.net[4] – die Gelegenheit hatten, ihre Arbeit vorzustellen, bildete die Podiumsdiskussion den Abschluss einer ereignisreichen Tagung. Neben Thomas Gill wurde das Podium durch Dr. Helle Becker (Geschäftsführerin von Transfer für Bildung e.V. sowie Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung), Carolin Ullrich (PHÄNO) sowie – digital zugeschaltet – Prof. Dr. Anja Besand (Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf politische Bildung der Technischen Universität Dresden) komplettiert. Moderiert wurde die Diskussion von Prof. Dr. Simon Franzmann.

Die Debatte verlief fortan zweigeteilt: Einerseits wurde nach dem Nutzen von Brückennarrativen in Wissenschaft und Praxis gefragt, andererseits die Gegenwart und Perspektiven der politischen Bildung erörtert. Hinsichtlich der Brückennarrative herrschte weitgehend Einigkeit auf dem Podium – lediglich Carolin Ullrich beschrieb das Konzept als nützlich für ihre alltägliche Arbeit. Der Kritik nach leiste das Konzept keinen Erkenntnisfortschritt und würde sogar Zusammenhänge verstellen; die Vorstellung von Jugendlichen, die von schädlichen Narrativen „infiziert“ (Besand) würden, sei irreführend. Es würde eine Kiste aufgemacht, in die nicht alles hineinpasst (Gill). Unklar sei aus Sicht der Diskutant:innen, zwischen welchen Akteur:innen Brücken geschlagen werden sollten und wie die empirische Ausgestaltung einer entsprechenden Analyse aussähe. Interessanter sei viel mehr die Diversifizierung von Narrativen, die sich mit der eingangs beschriebenen Differenzierung der Gesellschaft decke. Daraus ergibt sich die Frage der Prioritätensetzung: Interessant sei weniger die Beobachtung von Brückennarrativen als vielmehr die Frage danach, weswegen Narrative in den Lebenswelten der Jugendlichen verfangen. Ohnehin seien zentrale Basiskonzepte der politischen Bildung, etwa die Auseinandersetzung mit (politischer) Freiheit oder dem Antisemitismus, längst erforscht, bearbeitbar und für die alltägliche Arbeit operationalisierbar; die Debatte um Brückennarrative damit „kalter Kaffee“ (Besand). Auch vermeintliche gesellschaftliche Neuerungen, wie die voranschreitende Digitalisierung der Kommunikation, führten nicht, oder nur in einem geringen Ausmaß, zu einem qualitativen Umschlag der beschriebenen Entwicklungen.

Der zweite, parallel verlaufende Diskussionsstrang lässt sich resümieren unter der Frage: „Quo vadis politische Bildung?“ Verdeutlicht wurde das aktuelle Spannungsfeld, in dem sich die Disziplin befindet: Sie müsse, so die einhellige Podiumsmeinung, ganzheitlich verstanden werden und Emanzipationsräume, in denen vermeintliche politische Gewissheiten auch radikal befragt werden dürften, sowie Möglichkeiten der kritischen Selbstreflexion schaffen, ohne normativ regressiv und als Erfüllungsgehilfin sicherheitspolitischer Interessen zu wirken. Ziel der politischen Bildung müsse die politische Mündigkeit des Individuums bleiben. Einerseits.

Andererseits bräuchte es klare Handlungsempfehlungen für politische Bildner:innen für deren alltägliche Arbeit, denn die Lage sei bereits prekär: Statt politischer Bildung und Prävention bedürfe es vielfach bereits der politischen Intervention. Da die politische Bildung jedoch ein normatives Feld bleibe – Hinweise auf dieses Spannungsfeld lieferten demnach der Beutelsbacher Konsens oder das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – zeige sich praktisch und theoretisch, dass Patentlösungen und schematische Blaupausen nicht existierten.  Stattdessen müssten politische Bildner:innen individuell stärker geschult werden, um eine – auch selbstkritisch zu verstehende – Ambiguitätstoleranz für politisch abweichende Meinungen aufzubauen. Durch den Dialog mit vermeintlich radikalen oder sich radikalisierenden Jugendlichen solle politische Teilhabe und gesellschaftliche Integration gefördert werden. Die Herausforderungen erschienen zwar weiterhin groß, Mut machte dem Podium allerdings der „Rückenwind aus zwei Richtungen“ (Besand): Durch die Politisierung von Jugendlichen, die durch politische Bildungsmaßnahmen primär angesprochen werden sollten, sowie dem gezeigten bildungspolitischen Problembewusstsein, seien die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit geschaffen. Dennoch: Es bedürfe hierfür einer weiteren Professionalisierung und Reflexion der Disziplin sowie einem Ausbau der didaktischen Konzepte.

Insgesamt verdeutlichte der Verlauf und die Diskussionen der Fachtagung, dass die wissenschaftliche wie politische Auseinandersetzung mit umkämpften Begriffen und Konzepten ein Minenfeld darstellt. Unbestritten ist wohl, dass Narrative ein wichtiges Instrument zur Entwicklung und Verstetigung von Gruppenidentitäten sein können. Sie können damit ein Phänomen der Identitätsfindung in ideologisch unsicheren Zeiten darstellen. Am Beispiel der Brückennarrative entzündete sich eine normativ aufgeladene Debatte, die – allen Zweifeln am analytischen Gehalt des Begriffs zum Trotz –an die emotionalisierte Debatte um den Extremismusbegriff erinnert, der ebenfalls starke Kontroversen provoziert.[5] Ablehnung evozieren beide Konzepte insbesondere, wenn sie mit tatsächlich oder vermeintlich demokratiefeindlichen Milieus verknüpft werden. Für die Forschungslandschaft ergibt sich weiterhin die Beobachtung, dass es „an qualitativen, hermeneutisch sensiblen und historisch vergleichenden Analysen lokaler Protestkulturen, die ihre Fragestellungen und Bewertungsmaßstäbe der fortschreitenden Analyse entnehmen, anstatt sie von außen an ihren Gegenstand heranzutragen […]“[6] fehlt. Ob dieses Desiderat mithilfe des Konzepts der Brückennarrative bearbeitbar wird, scheint fraglich. Stattdessen scheint die Suche nach alternativen Zugängen notwendig.


[1] Bundesfachstelle Linke Militanz: Fachtagung: Demokratiefeindliche Brückennarrative in der politischen Bildung, URL: http://www.linke-militanz.de/allgemein/fachtagung-demokratiefeindliche-brueckennarrative-in-der-politischen-bildung/ [zuletzt eingesehen: 15.11.22].

[2] Meiering, David et al: Brückennarrative – Verbindende Elemente in der Radikalisierung von Gruppen, PRIF Report 7/2018, URL: https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0718.pdf S. 1.

[3] Vgl. Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“: Bildungs- und Beratungsstelle PHÄNO, URL: https://www.stiftung-spi.de/service/projekte/detail/phaeno [zuletzt eingesehen: 12.11.2022].

[4] Vgl. Jugenschutz.net: Wer wir sind, URL: https://www.jugendschutz.net/ueber-uns/wer-wir-sind [zuletzt eingesehen: 12.11.2022].

[5] Vgl. Scharf, Philipp/Schenke, Julian: Ein Diskurs sucht seinen Gegenstand. Über hartnäckige Begriffsroutinen und empirische Defizite im Themenfeld des Linksradikalismus, in: Demokratie-Dialog 8 (2021), S. 16-26.

[6] Ebd., S. 26.