Eine Frage des Blickwinkels?

[kommentiert]: Tobias Neef über Asylrechtsproteste in Deutschland.

Am 18. Juli 2012 sprach das Bundesverfassungsgericht ein folgenschweres Urteil zur Versorgungslage von Asylbewerbern in Deutschland. In diesem Urteil kritisierte es die fehlenden rechtlichen Normen eines „menschenwürdigen Existenzminimums“, die den Mindeststatus sozialer Teilhabe, also das durch Art. 1 des Grundgesetzes festgelegte Maß an Gleichheit, rechtlich konkretisieren. Unabhängig davon war es im Vorfeld dieses Rechtsspruchs in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber zu Protesten gekommen, die von Würzburg aus schnell auf weitere Städte übergegriffen waren. Binnen kurzer Zeit entstanden in mehreren Städten, bundesweit, Protestcamps.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt auf ökonomischer Ebene einen Anspruch auf menschenwürdige Verhältnisse, der sich nicht nur auf die „Sicherung der physischen Existenz“ – also den Anspruch auf eine absolute Versorgungsbasis in Form von Nahrung, medizinischer Mindestversorgung[1] und Kleidung – beschränkt. Flüchtlinge und auch Asylbewerber, so das Bundesverfassungsgericht, haben unabhängig von ihrem konkreten Status auch einen Anspruch auf Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben – also auf Teilhabe an der Öffentlichkeit, auf Menschenwürde, die sich aus der Anerkennung als Teilnehmer innerhalb der Gesellschaft speist. Eine Grundlage dafür mag durch die Anerkennung des gleichen Rechts auf Versorgungsleistungen gegeben sein.

Die Probleme, welche eine solche Teilhabe verhindern, was eigentlich auch Ausgangspunkt der Kritik des Bundesverfassungsgerichts ist, sind jedoch bei weitem noch nicht gelöst. Um sie anzugehen, müsste der Staat auf Regierungspraxen verzichten, mit denen er versucht, die Situation von Flüchtlingen in der Bundesrepublik immer an der Grenze des Erträglichen zu belassen – Praxen, die immer wieder mit dem Verweis auf die Bedrohung der Flüchtlingswellen und auf die Vorrechte deutscher Bürger legitimiert werden. Vielleicht ist der Protest der Flüchtlinge, der sich derzeit in Berlin abspielt, gerade deshalb für unser gesellschaftliches Selbstverständnis so wichtig, weil er Einblicke in solch ein Leben am Rand des Erträglichen gewährt. In Gesprächen mit den Aktivisten geht es weniger um ökonomische Fragen als um Anerkennung und Teilhabe. Und um die Politiken, mit denen diese systematisch verhindert würden: „Sie versuchen uns in einer ungewissen Situation zu halten, bis man müde wird, oder depressiv“, klagt einer der Aktivisten. Für ihn waren die Selbstmordversuche zweier seiner Mitbewohner im Asylbewerberheim Anlass, sich dem Zug nach Berlin anzuschließen. „Du musst hier weg, dieses Land verlassen, woanders hingehen oder dich selbst umbringen“, so sei für ihn das Signal der deutschen Flüchtlingspolitik zu verstehen. Von einem „unsichtbaren Käfig“ spricht er, wenn er über den Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt, das Verhalten der Behörden, die Residenzpflicht, den Alltag in der Gemeinschaftsunterkunft und die ständige Angst vor der Abschiebung berichtet. „Ich glaube nicht, dass wir etwas Großartiges fordern. Wir wollen nur als menschliche Wesen anerkannt werden.“ Er sei enttäuscht von der deutschen Politik, von der er im Iran anderes erwartet habe: „Seid ihr nicht eines der ersten Länder, das die Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet hat…? Mal wirklich, sehen so Menschenrechte aus?“ Die kleinen und großen Politiken der Ausgrenzung seien es, die ihm den Status als selbstbestimmtes Wesen, der schließlich Grundlage der Erklärung der Menschenrechte sei, zunichtemachten.

Gerade diese Kritik sollte deutschen Politikern zu denken geben: Die Einforderung von Menschenrechten war in Deutschland bisher fast ausschließlich im Verweis auf das Ausland zu hören, häufig mit dem Beigeschmack der Exklusivität versehen – Kritik an der menschenrechtlichen Situation wurde insbesondere solchen Staaten gegenüber geäußert, die geopolitische Gegner waren, wurde oft genug auch zur Begründung von Sanktionen oder gar von militärischen Einsätzen gegen diese Staaten herangezogen. Jetzt wird sie allerdings auf die eigenen Verhältnisse gerichtet. Und der proklamierte Verstoß gegen Menschenrechte vollziehe sich gerade dadurch, dass seine Opfer aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden, so die Kläger. Weder im Arbeitsmarkt[2] noch durch Sprachkurse oder im normalen gesellschaftlichen Alltag haben sie faktische Möglichkeiten zur Teilhabe. Denn den Status des Asylbewerbers verlassen zu können und damit wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit und Anspruch auf Teilhabe sicher zu wissen, kann sich über Jahre hinziehen.[3]

Die ersten Reaktionen des Bundesinnenministeriums auf die Proteste folgten einem gewohnten Muster: Das Bild der Flüchtlingsströme, die integrative und ökonomische Belastbarkeitsgrenzen der Bundesrepublik sprengen, ist seit den 1990er Jahren im Standardrepertoire der öffentlichen Debatte zu finden. Es wird, unabhängig von der jeweiligen Situation, immer wieder gerne herausgeholt, wenn in Wahlkampfzeiten die Debatte über das Recht auf Asyl aufkommt. In der derzeitigen Situation kann man diese Rhetorik der fast überschrittenen Belastbarkeitsgrenze jedoch nur als Farce bezeichnen: Waren 1993 die Ausgaben für soziale Leistungen für Asylbewerber noch bei 5,68 Mrd. Euro veranschlagt, so waren es 2010 nur noch ca. 0,77 Mrd. Euro – und damit ca. neun Euro pro Jahr für jeden Bundesbürger.

Indes: Die Berliner Aktivisten haben sich nicht nur dazu entschieden, gegen die eigenen Lebensumstände zu protestieren. Gerade durch die Art ihres Protests haben sie mit der eigenen Isolation gebrochen, haben sich und ihr Wort öffentlich gemacht. Diese Erfahrung stellt für viele von ihnen ein Inkarnationserlebnis dar, das einen Zusammenfall des Protests unwahrscheinlich werden lässt – unabhängig von der Entwicklung im Berliner Camp. Eine Bewegung zu einen, ihr in ihrer kulturellen Heterogenität eine gemeinsame Stoßrichtung zu geben – das sei eine „unbezahlbare“ Erfahrung, so ein Aktivist. Ebenso wie die Unterstützung, die die Protestierenden aus der deutschen Gesellschaft erleben. Beide Erfahrungen durchbrechen die persönliche Isolation, beide stellen eine Form von Ankunft in einer Gemeinschaft dar. Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Urteil von der Bundesregierung die Entwicklung von Anspruchsnormen, die eine soziale und kulturelle Teilhabe sichern und es so ermöglichen, Menschenwürde als Norm zu debattieren. Es wäre begrüßenswert, wenn sich darin die Perspektive der derzeit Ausgeschlossenen selber wiederfinden würde.

Tobias Neef arbeitet am Institut für Demokratieforschung.


[1] Medizinische Versorgung durch Ärzte wird Asylbewerbern in Deutschland nur „zur Behandlung akuter Krankheiten und Schmerzzustände“ (AsylblG) sowie in Fällen von Schwangerschaft als Mindestversorgung geleistet. Chronische Leiden oder sich anbahnende Krankheiten werden demnach bis zum Erreichen des akuten Stadiums nicht behandelt, ebenso wie psychische Störungen und Traumata, die nicht zu akuter Suizidalität führen.

[2] De jure kann einem Asylbewerber mit Duldungsstatus nach Ablauf von zwölf Monaten zwar ein nachrangiges Anrecht auf eine Arbeitserlaubnis erteilt werden, de facto sind jedoch die Hürden dafür enorm hoch: So gilt prinzipiell ein Erstrecht auf den Arbeitsplatz für deutsche Staatsangehörige und Ausländer mit unbefristeter Arbeitserlaubnis, und der Prozess zur Beschaffung der Arbeitserlaubnis stellt den potenziellen Arbeitgeber vor einen langwierigen Nachweisprozess, der abschreckend wirkt.

[3] Es gibt hierzu keine offiziellen Zahlen, das Bundesverfassungsgericht geht jedoch davon aus, dass der überwiegende Teil der Asylbewerber sich seit über sechs Jahren in Deutschland aufhält. Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012