Dringender Handlungsbedarf

[kommentiert]: Teresa Nentwig über die Konferenz „Repräsentation im Wahlkreis – Bevölkerung und Abgeordnete in Deutschland und Frankreich“

Es war eine wahrhaft international besetzte Konferenz, die am 7. und 8. November in Berlin stattfand: Neben zahlreichen deutschen und französischen Abgeordneten und Wissenschaftlern diskutierten unter anderem Professor Gerhard Loewenberg von der University of Iowa und Professorin Cirila Toplak von der University of Ljubljana über die ersten Ergebnisse des Forschungsprojektes „Citizens and Representatives in France and Germany“ (CITREP).

Das Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und ihrem französischen Pendant Agence Nationale de la Recherche (ANR) gefördert wird und an den Universitäten Halle-Wittenberg und Stuttgart sowie am Institut für politische Studien in Bordeaux angesiedelt ist, untersucht seit Februar 2010 politische Repräsentation im deutsch-französischen Vergleich. Zum einen gehen die beteiligten Wissenschaftler der Frage nach, welches Repräsentationsverständnis die Abgeordneten in den nationalen Parlamenten Deutschlands und Frankreichs – Bundestag und Nationalversammlung – besitzen und wie sie ihre Repräsentationsfunktion konkret ausüben. Zum anderen wird die politische Repräsentation aus Sicht der Bevölkerung untersucht: Über welche Einstellungen gegenüber ihren Abgeordneten, deren Tätigkeiten und Leistungen verfügen die Bürgerinnen und Bürger?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden sowohl in Deutschland als auch in Frankreich jeweils rund sechzig Abgeordnete drei Tage bei ihrer Wahlkreisarbeit begleitet. Zu dieser teilnehmenden Beobachtung kamen noch mündliche Leitfadeninterviews und teilweise schriftliche Befragungen hinzu. Daneben wurden repräsentative Bevölkerungsumfragen durchgeführt: Während in Deutschland 1.553 Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Wahrnehmung und Bewertung von politischer Repräsentation befragt wurden, waren es in unserem Nachbarland insgesamt 1.033 Menschen.

Auf der von der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen organisierten Konferenz präsentierten die Forscherinnen und Forscher nun erste Ergebnisse und stellten diese zur Diskussion. Das wohl wichtigste und gleichzeitig gravierendste Resultat der Studie lässt sich kurz und knapp zusammenfassen: Eine breite Mehrheit der Franzosen ist zutiefst unzufrieden mit der Repräsentationsleistung des politischen Systems, wobei sich die Kritik auf die Repräsentation im Allgemeinen, auf ihre Repräsentation in spezifischen Belangen, auf die repräsentierenden Institutionen und auch auf die repräsentierenden Akteure bezieht. In Deutschland bewerten die Bürgerinnen und Bürger Repräsentation nicht ganz so schlecht. Die Mehrheit der Deutschen, so ein weiteres Ergebnis des Forschungsprojektes, besitzt zudem eine ambivalente Einstellung zur Repräsentation: Sie sieht deren positive wie negative Seiten in einem ziemlich ausbalancierten Verhältnis.

Die Unterschiede, die in der Repräsentationswahrnehmung zwischen Deutschen und Franzosen bestehen, haben Auswirkungen auf weitere Einstellungen und auch auf das Verhalten der Bevölkerung: Das Vertrauen zu den politischen Institutionen und die Zufriedenheit mit der Demokratie sind in Frankreich erheblich niedriger ausgeprägt als in Deutschland; in Frankreich gibt es einen wesentlich stärkeren Wunsch nach mehr direkter Demokratie als in Deutschland sowie eine größere Neigung zur Stimmenthaltung, zur Wahl extremistischer Parteien und zum Rückgriff auf alle – vor allem auf nichtlegale – Formen des politischen Protests.

Um diese Kluft zwischen Deutschen und Franzosen zu erklären, wurden im Laufe der Tagung verschiedene Ursachen angeführt und diskutiert. Unter anderem hatte das deutsch-französische Forscherteam feststellen können, dass die Franzosen erheblich höhere Ansprüche an den Prozess der Repräsentation haben als die Deutschen. Werden die Erwartungen nicht erfüllt, können Enttäuschung und Unzufriedenheit die Folge sein.

Immer wieder kamen die Konferenzteilnehmer zudem auf die Frage zu sprechen, wie die Franzosen wieder Vertrauen in die Abgeordneten gewinnen können. Ein Aspekt, der sich in diesem Zusammenhang praktisch durch alle Panels zog, war die Abschaffung des dem deutschen Parlamentarismus nahezu fremden cumul des mandats, das heißt der Ämterhäufung. Damit ist gemeint, dass eine Mehrheit der Abgeordneten – 476 von 577 – noch mindestens ein weiteres Amt innehat, beispielsweise das des Bürgermeisters. Die Partei, deren Abgeordnete am häufigsten Ämter kumulieren, ist die konservative UMP: 83 Prozent ihrer Vertreter in der Nationalversammlung übten Ende Juni noch mindestens ein weiteres Amt aus. Die Sozialistische Partei (PS) steht dem in nichts nach: 76 Prozent ihrer Abgeordneten waren im Sommer sogenannte cumulards, wie die Ämtersammler jenseits des Rheins abschätzig genannt werden.

Die Frage, wie mit der Ämterhäufung umzugehen ist, entzweit die französischen Politiker: Ein Teil spricht sich für ein vollkommenes Verbot aus, ein anderer Teil plädiert für Einschränkungen, und ein weiterer Teil will alles beim Alten belassen. Während die Sozialisten für ein Ende des cumul des mandats sind, sprechen sich die Konservativen für dessen Beibehaltung aus. Zum Teil verschwimmen aber auch die Parteigrenzen: In der PS gibt es Befürworter der Ämterhäufung, genauso wie es in der UMP Gegner gibt. So war es bei der Berliner Tagung der UMP-Abgeordnete und ehemalige Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire, der ein flammendes Plädoyer für die Reduzierung der Ämterkumulation hielt, um das Vertrauensverhältnis zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern zu stärken, ja wiederherzustellen.

Die Befürworter eines Verbots der Ämterhäufung argumentieren, dass die Abgeordneten ihre Arbeit im Parlament vernachlässigten und dass Interessenkonflikte auftreten könnten: Es bestehe die Gefahr, dass die Abgeordneten ihr nationales Mandat in den Dienst ihrer „lokalen Klientel“ stellten – obwohl sie ja eigentlich die gesamte Nation repräsentierten. Außerdem sei das cumul des mandats ein Hindernis für die Erneuerung der politischen Klasse. Es verhindere die Öffnung der Nationalversammlung zu den sozialen Kategorien hin, die traditionell unterrepräsentiert seien: Frauen, junge Erwachsene und Menschen mit Migrationshintergrund. Die Verteidiger des cumul des mandats argumentieren hingegen, dass die Abgeordneten durch ein lokales Mandat viel besser mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut seien. Sie wüssten, welche Probleme es gebe, was die Bürgerinnen und Bürger bewege und was sie sich wünschten. Mit anderen Worten: Durch ihre lokale Verankerung seien die Abgeordneten dem Volk näher.

Fragt man die Franzosen, sind sie mehrheitlich gegen das cumul des mandats: In einer Anfang September durchgeführten Umfrage waren es 59 Prozent, die ein Ende der Ämterhäufung forderten. In der Praxis scheinen die Wählerinnen und Wähler jedoch denjenigen Kandidaten zu bevorzugen, der bereits Bürgermeister, conseiller général[1] oder sogar beides ist. So bekamen die sozialistischen Kandidaten, die weder das Amt eines Bürgermeisters noch das eines conseiller général innehatten, im Juni beim ersten Wahlgang der Parlamentswahl im Durchschnitt 30,9 Prozent der Stimmen. Diejenigen, die zum damaligen Zeitpunkt bereits Generalrat waren, erhielten hingegen 34,8 Prozentpunkte, diejenigen, die als Bürgermeister amtierten, sogar 35,4 Prozentpunkte. Im zweiten Wahlgang verstärkte sich diese Tendenz noch: Diejenigen, die kein Amt innehatten, bekamen 38 Prozent der Wählerstimmen, die Generalräte dagegen 48 Prozent, die Bürgermeister 59 Prozent und diejenigen, die beide Posten kumulierten, sogar 64 Prozent.

Seit 1985 gab es mehrfach Versuche, das cumul des mandats per Gesetz einzudämmen. Die Maßnahmen zeigten jedoch kaum Wirkung, denn die Ämterhäufung prosperierte weiter. Jetzt stehen erneut Änderungen an, denn die seit Mai regierende PS macht sich für ihre Abschaffung stark. Zudem forderte Anfang November die von Staatspräsident François Hollande eingesetzte „Kommission zu Erneuerung und Berufsethos des öffentlichen Lebens“ unter Ex-Premierminister Lionel Jospin, dass die Abgeordneten in der Nationalversammlung wie auch im Senat ab 2014 beziehungsweise 2015 neben ihrem Mandat auf nationaler Ebene keine politische Leitungsfunktion auf kommunaler oder regionaler Ebene mehr ausüben dürfen.

Berücksichtigt man die Ergebnisse der CITREP-Studie und die während der Konferenz geführten Diskussionen, scheint es wichtig zu sein, das Verbot der Ämterhäufung durch weitere Maßnahmen zu flankieren, darunter die frühzeitige Aufklärung der Franzosen über die Funktion und Arbeit von Abgeordneten, die Wahl eines Teils der Parlamentarier über das Verhältniswahlrecht (bisher ausschließlich per Mehrheitswahlrecht) und vor allem die Bekämpfung der Probleme, die den Franzosen derzeit am meisten Sorgen bereiten, wie die hohe Arbeitslosigkeit und die immer größer werdenden sozialen Ungleichheiten. Schnelles, aber überlegtes Handeln erscheint hier vordringlich, um den Rechtsextremen nicht noch weiteren Zulauf zu bescheren.

Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Abbildungen:

Abbildung 1:

Der 43-jährige UMP-Abgeordnete Bruno Le Maire hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erneuerung des politischen Lebens in Frankreich.

Abbildung 2:

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel (zweiter von links), Bernard Rullier – als Berater des französischen Staatspräsidenten zuständig für die Beziehungen zum Parlament (zweiter von rechts) – sowie der UMP-Abgeordnete und Vizepräsident der Nationalversammlung Marc Le Fur (ganz rechts) lauschen den Ausführungen von Serge Bardy (ganz links), der für die „Diverse Linke“ (Divers gauche) in der Nationalversammlung sitzt.


[1] Die Mitglieder des Generalrats (Generalräte, conseillers généraux) vertreten das Volk auf Departementebene. Sie werden für sechs Jahre im Rahmen der sogenannten Kantonalwahlen nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt, wobei alle drei Jahre eine Teilerneuerung stattfindet. Vgl. Kempf, Udo: Das politische System Frankreichs, 4. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 315.