Ein sozialistischer David gegen einen neoliberalen Goliath

Beitrag verfasst von: Daniel Albrecht

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[präsentiert]: Daniel Albrecht hat „Rebellische Städte“ von David Harvey gelesen.

Die Stadt ist ein sozialer, kultureller und ökonomischer Knotenpunkt, ein Mikrokosmos des menschlichen Zusammenlebens, ein pulsierendes Zentrum des politischen Handelns –  und dies ist vielleicht eine idealisierte Vorstellung. Denn diese „traditionellen Städte“, wie sie wohl David Harvey am liebsten hätte, sind zerstört. Mehr und mehr Menschen werden durch steigende Mieten an die Randbereiche der Städte gedrängt, können nicht mehr teilhaben an gesellschaftlichen Allgemeingütern. Was also tun? In seinem Buch „Rebellische Städte“, das sich als konzentrierte Zusammenfassung vorheriger Abhandlungen liest,[1] sucht der politisch als Neo-Marxist zu verortende Humangeograph David Harvey nach Ursachen und Lösungen. Sein politischer Bezugspunkt ist dabei das bereits von Henri Levebvre formulierte und vehement eingeforderte „droit à la ville“. Dieses „Recht auf Stadt“ versteht Harvey als kollektives Recht. Bereits der marxistische Philosoph Levebvre setzte sich angesichts der „Existenzkrise“ im Paris der 1960er Jahre vehement für eine „Alternative“, eine „urbane“ und „antikapitalistische“ Massenbewegung von unten ein, welche eine empfundene neoliberal-städtische Sinnlosigkeit und Entfremdung überwinden könne.

Doch zunächst zu den von David Harvey skizzierten Ursachen: Eng verknüpft er die Zerstörung der Städte mit einer generellen Krise des kapitalistischen Systems, welche sich in einer raschen Urbanisierungsdynamik spiegele. Sie sei die Haupttriebfeder für die Transformation der Städte, so die Kernthese Harveys. Dabei meint Urbanisierung bzw. Verstädterung per Definition erst einmal nicht mehr als die Zunahme der Stadtbevölkerung, genauer die innere Verdichtung und räumliche Ausdehnung des städtischen Lebensraumes.[2] Harvey zeigt plastisch auf, dass sich hinter dieser Entwicklung ein  Wachstumsparadigma verbirgt, das zyklische Krisen provozieren muss.

Kapitalbesitzer investieren ihr Geld im urbanen Raum. Dadurch setzen sie sowohl Arbeits- als auch Produktionskraft frei. Steht das aber nicht im Widerspruch zu der eingangs behaupteten Zerstörung der Städte? Nein, weil Harvey mit Zerstörung der Stadt weniger ihr Wachstum meint als vielmehr die mangelnde Partizipation an ihrem steigenden Wohlstand und die politische Exklusion der Stadtbevölkerung. Außerdem seien positive Effekte von kurzer Dauer und würden von langfristigen Nachteilen überlagert. Denn: Die „Gesetze der Konkurrenz zwingen sie [, die Kapitalisten,] zur Reinvestition“ ihres Gewinns. Eine ständige Wiederholung befördere die „Ausweitung der Überproduktion“. Arbeitskraft und Nachfrage würden somit nur „künstlich“ geschaffen und von einer nach „neoliberalen“ Grundsätzen geleiteten Politik durch neue schuldenfinanzierte Bau- oder Infrastrukturprojekte abgestützt – ist es doch das Ziel, die künstlich geschaffenen Arbeitsplätze möglichst zu erhalten. Und so wachsen die Städte weiter an. Die Stadt als Nahbereich gesellschaftlicher Teilhabe wird durch die Ökonomisierung des städtischen Lebens, in Gestalt immer weiterer Shopping- und Vergnügungszentren, förmlich entkernt, ihres „fruchtbaren Chaos“, ihrer kulturellen „Heterotopie“ beraubt, so die Hauptkritik des Sozialtheoretikers.

Wie jüngst in der Suprime-Hypotheken-Krise geschehen, lockern Banken in einer wirtschaftlichen Hochphase ihre Kreditkonditionen, sodass nun auch ärmere Bevölkerungsschichten Zugang zu Wohneigentum erhalten. Diese für die Banken risikoreichen Hypothekenkredite lagern sie durch die „Konstruktion neuer Finanzinstitutionen“ und „innovative Finanzinstrumenteschlichtweg aus. Begünstigt wird die Kreditvergabe auch durch die massiv vorangetriebene neoliberale De-Regulierungspolitik des Finanzsektors. Die Urbanisierung und ihre Zusammenhänge werden damit global und der Immobilienmarkt zu einem Spekulationsobjekt. Als viele US-Amerikaner ihre Kredite nicht mehr bedienen können, bricht diese fragile Ordnung zusammen.

Die US-Subprime-Krise hat weite, weltweite Kreise gezogen und gilt dementsprechend als das jüngste Sinnbild für das Versagen des Kapitalismus. Mit Blick auf die verheerenden Folgen – millionenfache Zwangsvollstreckungen, milliardenschwere Wirtschaftsförderprogramme, enorme Arbeitslosenzahlen –  erklärt sich auch der beißende Ton Harveys: Die Urbanisierung stellt sich als verlängerter Arm des Kapitalismus dar, der ökonomisch gesprochen „das Problem eines überschüssigen Kapitals“ löst. Für David Harveyist die Stadt [deshalb] der Ort, an dem der Kapitalismus sich neu erfindet.“[3] „Doch die Risse im System sind deutlich zu erkennen. Immer mehr Menschen leben in gespaltenen, fragmentierten und konfliktanfälligen Städten.“ (46)

Kann es angesichts des informellen Bündnisses aus politisierter Ökonomie und ökonomisierter Politik überhaupt eine Alternative geben, die sich gegen diese Entwicklungen behaupten, zu Wehr setzen kann? Und wenn ja, wie könnt ein solcher „innerstädtischer Klassenkampf“ aussehen?  David Harvey bedient sich dabei eines historischen Vorbildes: Der „Pariser Kommune“. 1871 opponierte die spontan entstandene städtische Bewegung für kurze Zeit erfolgreich gegen die konservative Pariser Zentralregierung, drang von den Randzonen in die politischen Zentren der Stadt und versuchte Paris nach sozialistischem Vorbild zu formen. Anders als noch Levebvre und Marx beschreibt der Humangeograph Harvey als „soziale Formation“ einer heutigen (städtischen) Revolution nicht das Proletariat, sondern ein „Prekariat“, das zwar oft gut ausgebildet sei, jedoch zunehmend in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs arbeite, desorganisiert und versprengt in den Städten lebe. Dieses Prekariat könne, so Harvey, den „Stoffwechsel der Städte zum Erliegen bringen.“ Streiks von „Transportarbeitern“, also Bus- oder Taxifahrer oder Bauarbeitern, haben sich häufig – es sei hier an die Streiks von Taxi- und Busfahrern in Griechenland erinnert – als wirksame „politische Waffe“ erwiesen. Ihre Vereinigung in einem „Moment eines plötzlichen Aufstandes“ berge die „Möglichkeit […,] etwas radikal Neues zu schaffen“ – eine „rebellische Stadt“.

Sicher sind die Vorstellungen von einigem Pathos getragen, sie münden bei Harvey aber in eine praktische „Schlüsselfrage“ – die gleichwohl am schwierigsten zu beantworten ist: „Wie organisiert man denn nun eine [antikapitalistische] Stadt?“ Mit dieser Frage vollzieht Harvey den Schritt von der Kritik an den Verhältnissen zu den daraus zu ziehenden Konsequenzen, die ihm zufolge den Ist-Zustand verändern können. In einem „Recht auf Stadt“ sieht er eine Möglichkeit, eine Alternative zur sozialräumlichen Zergliederung der Städte und zur politischen wie wirtschaftlichen Entmachtung ihrer BewohnerInnen. Es verlangt nicht weniger als die „demokratische Kontrolle über die Produktion und Nutzung des [in Städten erwirtschafteten] Kapitalüberschusses.“ Diejenigen, die die „Mehrwertproduktion“ bewerkstelligen, sollten auch an ihrem Gewinn beteiligt werden.

Jedoch müsse das „Recht auf Stadt“, verstanden als Manifest der Einheitssuche der Stadtbevölkerung, tiefer gehen, weiter greifen. Sonst reproduziere man systemimmanent genau die kapitalistischen Strukturen, in denen man sich bereits befinde, anstatt die mittlerweile sinnentleerten Städte „als sozialistisches Gemeinwesen“ umzugestalten. Zudem brauche eine erfolgreiche antikapitalistische Bewegung die „Unterstützung“ durch die „populären Kräfte aus dem Volk“. Zeitgleich müsse sich der „Begriff der Arbeit verändern“. Jede „Produktion und Reproduktion“ des „urbanisierten Alltagslebens“ sollte, so Harvey, als Arbeit begriffen werden. Dadurch erst erhalte eine soziale Bewegung eine breite Basis für die Rückeroberung der Städte, sorge für die notwendige „Ausweitung des Klassenkampfes“. Zugleich stelle eine derartige Ausweitung der sozialen Trägerschichten eine soziale Bewegung vor ein organisatorisches Problem, für dessen Lösung es nur erste Ansätze und wenige Vorbilder gebe.

 „Das Beste, was wir haben, ist eine Theorie der Stadt, in der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden, mit allem, was hinsichtlich der Entscheidungsfindung, die unter solchen Umständen möglich ist, dazugehört (die hin und wieder, wenn sie von progressiven Kräften  übernommen wird, die rabiateren Formen der kapitalistischen Entwicklung anfechten und zumindest auf lokaler Ebene damit beginnen kann, die Fragen der lähmenden und eklatanten sozialen Ungleichheit und Umweltzerstörung anzugehen […] ).“ (244)

Vor vielen, vielleicht zu vielen Herausforderungen steht also eine moderne urbane Bewegung. Neben  den ganz praktischen Herausforderungen wie der Überwindung kleinräumlicher Selbstisolation oder der Akzeptanz zumindest „verschachtelter“ Hierarchie- und Organisationsformen in den linken Lagern fehle eine Vision, welche einerseits die innere Zersplitterung linker Gruppen zu überwinden vermöge und zum anderen eine gangbare „Alternative zur Wirksamkeit des kapitalistischen Wertgesetzes auf dem gesamten Weltmarkt“ bieten könne.

Gewiss, David Harveys Lektüre bietet keine konkrete Anleitung für „Rebellische Städte“. Dies kann sie allerdings auch nicht. Denn seine Utopie muss sich, auch wenn sie von linkem Dogmatismus befreit ist und eine solidarische Zukunftsperspektive in Aussicht stellt, sowohl gegen eine als unverrückbar empfundene Gegenwart als auch gegen die größtenteils politikmüden bzw. -verdrossenen Gesellschaften der westlichen Welt behaupten, in denen der Kapitalismus „regiert“. Harveys Verdienst ist es, die Stadt „als wichtige[n] Schauplatz für politisches Handeln“ und als Brennglas für soziale (Ent-)Spannungen interpretiert zu haben. Ein kurzer Blick auf die jüngsten Protestereignisse – den „Arabischen Frühling“,  die politischen Unruhen in der Türkei oder in Brasilien und nicht zuletzt die Bürgerrevolution auf dem Majdan-Platz – bekräftigen seine Schlussfolgerungen. Es „steht ebenfalls fest, dass gewisse Eigenschaften der urbanen Umgebung Aufständen und Protesten zuträglicher sind als andere.“ (206) Überdies dockt seine Kapitalismuskritik nahtlos an das dumpfe Gefühl an, das viele Menschen angesichts der über sie hereinbrechenden Subprime-Hypotheken-Krise und ihrer  gewaltigen Nachbeben empfunden haben mögen.

Daniel Albrecht ist studentische Hilfskraft am Göttinger Insitut für Demokratieforschung.

Rezension zu:

David Harvey: Rebellische Städte, Suhrkamp 2013.


[1]     http://www.taz.de/!124102/

[2]     http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52705/verstaedterung

[3]     http://www.taz.de/!124102/