[analysiert]: Lisa Bonn über die Rolle der Zeitung Gazeta Wyborcza im politischen Umbruch in Polen 1989
Auf der Titelseite ihrer ersten Ausgabe vom 08 Mai 1989 druckt die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza ein Bild von Lech Wałęsa ab und darunter einen Brief an die Leser, den der legendäre Gewerkschaftsführer mit dem Slogan der Solidarność von 1980/81 beginnt: „Keine Freiheit ohne Solidarität.“[1] Die „erste unabhängige Zeitung zwischen der Elbe und dem Pazifik“ (ebd.) erscheint als Tageszeitung vor den Parlamentswahlen im Juni, bei denen 35 Prozent der Sitze im Sejm und alle Sitze im Senat in freier Wahl bestimmt werden.
Den Listenkandidaten der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PVAP) stehen in dieser Wahl die Kandidaten des gerade erst gebildeten „Bürgerkomitee Solidarność“ gegenüber. Um die Kandidaten des oppositionellen Lagers bekannt zu machen und jeden Zweifel an ihrer politischen Zughörigkeit auszuschließen, werden ihre Namen in der ersten Ausgabe der Gazeta Wyborcza abgedruckt. Wałęsa lässt sich zudem mit jedem einzelnen von ihnen ablichten.[2]
Die Solidarność, die 1980/81 als gewerkschaftliche Massenbewegung mit rund 10 Millionen Mitgliedern die Verhältnisse in der Volksrepublik Polen zum Tanzen gebracht hatte, ist in den Jahren der Illegalität auf eine Organisationsstruktur zusammengeschrumpft, die von vergleichsweise wenigen Aktivisten getragen wird und in der Bevölkerung wenig Vertrauen genießt.[3] Aber sie symbolisieren den „Mythos“ Solidarność; eine nationale Bewegung, die sich im Namen von Freiheit und Brüderlichkeit gegen das Kommunistische Herrschaftssystem erhoben hatte.[4]
Als sich Vertreter der Zweiten Solidarność im Februar 1989 mit Repräsentanten des Regimes am Runden Tisch zusammensetzen, erhoffen sie sich die Wiederzulassung der Gewerkschaft und zeigen sich im Gegenzug bereit, an den vertraglich ausgehandelten Parlamentswahlen teilzunehmen.[5] Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei handelt aus einer noch größeren Not heraus: Angesichts des desaströsen Zustands der Wirtschaft und ihres ramponierten Ansehens hofft die Parteiführung, durch eine kontrollierte politische Beteiligung der Solidarność lasse sich eine zumindest rudimentäre Unterstützung für die PVAP und die von ihr anvisierten Reformen herstellen, ohne die eigene Machtposition zu gefährden.[6]
Das Ergebnis der Wahlen vom 04. Juni, eine verheerende Niederlage für die PVAP, verändert die Machtverhältnisse jedoch radikal und lässt die in der Opposition verbreitete Befürchtung vor einer Kooptation durch das Regime[7] gegenstandslos werden.[8] In der Folge kommt es zur Bildung der ersten nichtkommunistischen Regierung im gesamten Ostblock. Nur kurze Zeit später bricht der Kommunismus in Europa zusammen und das sowjetische Imperium zerfällt – ein Prozess, der die ganze Welt verändert. Die Entwicklung in Polen mit den Parlamentswahlen als Wendepunkt markiert also lediglich den Anfang des epochalen Umbruchs, für den das Jahr 1989 heute steht.[9]
Die geopolitischen Weichen für diesen Anfang warenin der Sowjetunion gestellt worden. Für die Parteiführungen in den Blockstaaten erweist sich der Kurs unter Gorbatschow allerdings als ein zweischneidiges Schwert. Denn einerseits wird klar, dass die Sowjetunion nicht mehr bereit sein würde, zur Stützung eines befreundeten Regimes militärisch zu intervenieren. Andererseits entlässt die Moskauer Führung die Satellitenstaaten damit aus dem Zwang der strikten politischen und strukturellen Vorgaben. Das Ende des Schutzes geht so mit neuen Handlungsfreiheiten einher.[10]
Dass Polen und Ungarn zu den Vorreitern des Veränderungsprozesses gehören, hängt mit den internen Auslösern für den Wandel zusammen: Hoch verschuldet und mit dem Niedergang ihrer Ökonomien konfrontiert, sehen sich die kommunistischen Regierungen zu Reformen gezwungen. In Ungarn werden Ende der 1980er Jahre in großem Stil private Firmen zugelassen, Anfang 1989 werden die Einführung eines Mehrparteiensystems beschlossen und die Grenzanlagen zu Österreich abgebaut. In Polen, wo die PVAP im Laufe der 1980er Jahre die letzten Reste ihrer Legitimation verloren hat, mangelt es dem Staat an politischer Unterstützung.[11] Auch hier sind bereits vor den Preiserhöhungen, auf die 1988 mit Streiks reagiert wird, privatwirtschaftliche Unternehmensformen eingeführt worden.
Eine wirtschaftliche Liberalisierung zieht nicht automatisch auch eine Demokratisierung der Gesellschaft nach sich. Um ein repräsentatives Regierungssystem, einklagbare Bürgerrechte, rechtsstaatliche Institutionen und eine freie Presse Wirklichkeit werden zu lassen, müssen zunächst noch die kommunistischen Parteien aus ihren monopolistischen Machtpositionen verdrängt werden. Die Führung der Zweiten Solidarność findet sich mit ihrer Teilnahme am Runden Tisch nicht nur zu einer faktischen Kooperation mit der Parteiführung um Jaruzelski bereit. Zu den konkreten Ergebnissen der Verhandlungen gehört auch ihr Zugang zu den offiziellen Medien und die Zulassung einer Wahlzeitung.[12] Die Gazeta Wyborcza entwickelt sich nach den Wahlen zur größten Tageszeitung Polens, die sich retrospektiv als das erste Pressemedium darstellt, dessen Recht auf freie Meinungsäußerung staatlich, durch eine Art Gesellschaftsvertrag, abgesichert war.
Über die Redaktion der Wahlzeitung, die in einem Rekordtempo von fünf Wochen aus dem Boden gestampft wird, entscheidet das Bürgerkomitee um Wałęsa. Sie wird in erster Linie mit Aktivisten besetzt, die ihr journalistisches Handwerk in der Presse des Zweiten Umlaufs, die vor 1989 an der Zensur vorbei veröffentlicht wurde, erlernt haben.[13] Wie der Chefredakteur Adam Michnik kann ein großer Teil ihrer Journalisten zum ehemals linken Flügel der Solidarność gezählt werden, der aus dem Komitee zur Gesellschaftlichen Selbstverteidigung KSS-KOR und dessen Umfeld hervorgegangen ist.[14]
Als eine unabhängige Zeitung aus dem Lager der Zweiten Solidarność unterstützt die Gazeta Wyborcza entschieden die Regierung Mazowiecki und deren Reformkurs. Unter dem Titel „Euer Präsident, unser Premierminister” veröffentlicht Michnik am 3. Juli 1989 einen mittlerweile berühmten Artikel, in dem er die Möglichkeit einer Machtteilung zwischen Solidarność und PVAP publik macht, und trägt damit zur Realisierung dieser intern bereits heiß diskutierten Lösung des Handlungspatts nach den Wahlen vom Juni bei.[15]
In den politischen Wirren der folgenden Jahre hält sich die Gazeta Wyborcza eng an die Kräfte innerhalb des Solidarnosc-Lagers, die nach 1989 einen dezidiert wirtschaftsliberalen Kurs verfolgen, und entwickelt sich zum liberalen Leitmedium schlechthin. Als es im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1990 zur Spaltung kommt, stellt sie sich hinter Mazowiecki und spricht sich offen gegen die Kandidatur von Wałęsa aus. Im Gegenzug entzieht dieser der Zeitung das Recht, das Logo der Gewerkschaft zu verwenden.[16] So führt der „Krieg an der Spitze“ nicht nur zur parteipolitischen Auseinanderentwicklung der rechten und der ehemals linken und nun liberalen Strömungen innerhalb der Zweiten Solidarność, sondern auch zum symbolischen Nachvollzug der in einem demokratischen Umfeld normalen Trennung zwischen Gewerkschaften, Parteien und unabhängiger Presse.
Die politische Ausrichtung der Zeitung zeigt sich auch daran, dass sie linksliberale Parteien wie die Demokratische Union und die ihr nachfolgende Freiheitsunion in 1990er Jahren offen unterstützt hat.[17] Passend dazu ist die Berichterstattung der Gazeta Wyborcza bis heute von zwei Grundzügen geprägt: Zum einen hat sie es zu ihrer Sache gemacht, gegen Populimus, Antisemitismus und alle Formen von Chauvinismus anzuschreiben und ist in diesem Kontext weder vor aktuellen, noch vor historischen Themen zurückgeschreckt. Zum anderen gehört die Gazeta Wyborcza bis heute zu den entschiedensten Verfechtern der wirtschaftlichen Umstrukturierung nach 1989. Die durch die Transformation sozial Geschädigten sind aus dieser Perspektive in erster Linie als potenzielle Modernisierungshindernisse wahrgenommen worden und nicht als Menschen, für die Politik und Gesellschaft eine Verantwortung tragen.
So ist die Gazeta Wyborcza nicht nur zu einem Symbol für die Freiheit in der III. Republik Polen geworden, sondern hat in den letzten 25 Jahren auch ihren Anteil daran geleistet, dass sich in der polnischen Politik, in der Öffentlichkeit und im Alltag ein großes Maß an Freiheit hat verwirklichen können. Gegen den Mangel an Chancengleichheit und innergesellschaftlicher Solidarität hat sie allerdings nicht angeschrieben. Mit ihrem auf individuelle Verdienste abstellenden Liberalismus hat sie mit ihrer Berichterstattung vielmehr dazu beigetragen, dass diese Missstände kaum problematisiert und noch seltener lösungsorientiert diskutiert werden.
Es bleibt indes abzuwarten, ob sich der selbstkritische Rückblick, den Jacek Żakowski in der Jubiläumsausgabe der Gazeta Wyborcza vorgelegt hat[18], als Eintagsfliege entpuppt oder ob er den Auftakt zu einer ernsthaften Kursänderung der wichtigsten Tageszeitung Polens markiert.
Lisa Bonn ist Doktorandin am Institut für Soziologie in Hannover. Sie promoviert mit einer Untersuchung zur kollektiven Subjektivität der polnischen Gesellschaft, zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Nationalismus, Populismus und Transformationsgesellschaften.
[1] Nachzulesen in: Piotr Kawecki, 10 lat Gazeta Wyborcza: 100 pierwszych stron, Warszawa 1999.
[2] Siehe Paweł Smoleński, Gazeta Wyborcza. Miroir d’une démocratie naissante, Montricher 1991, S. 18 u. S. 37.
[3] Siehe Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 376 ff.
[4] Siehe Karol Modzelewski, Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Warszawa 2013, S. 372;Ders., Wohin vom Kommunismus aus?, Berlin 1996, S. 154.
[5] Siehe Robert Krasowski, Po południu. Upadek elit solidarnościowych po zdobyciu władzy, Historia polityczna III RP, Warszawa 2012, S. 31.
[6] Siehe Norman Davies, Heart of Europe. The Past in Poland’s Present, Oxford 2001, S. 415 ff.
[7] Siehe das Interview „Tadeusz Mazowiecki über den Runden Tisch: Wir hatten ein Alarmsignal im Kopf: Vorsichtig!“, nachgedruckt in: Polen-Analysen, Nr. 55/09, S. 3-5, online einsehbar unter http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen55.pdf. [eingesehen am 01.06.2014].
[8] Davies, Heart of Europe, S. 418.
[9] Siehe Modzelewski, Wohin vom Kommunismus aus?, S. 21.
[10] Siehe Modzelewski, Zajeździmy kobyłe historii, S. 368.
[11] Siehe Davies, Heart of Europe, 408 ff.
[12] Siehe ebd., S. 416 f.
[13] Siehe Smoleński, Gazeta Wyborcza, S. 17 f.
[14] Siehe Piotr Śmiłowicz, „25 lat temu ukazał się pierwszy numer ‚Gazety Wyborczej‘“, online einsehbar unter http://wyborcza.pl/1,91446,15924272.html [eingesehen am 01.06.2014].
[15] Siehe Krasowski, Po południu, S. 40 f.
[16] Siehe Smoleński, Gazeta Wyborcza, S. 15.
[17] Siehe Śmiłowicz, „25 lat temu ukazał się pierwszy numer ‚Gazety Wyborczej‘“.
[18] Siehe Jacek Żakowski, „Coś znów pękło, coś się zaczyna“, online einsehbar unter http://wyborcza.pl/1,138142,15915435.html [eingesehen am zugegriffen am 01.06. 2014].