[kommentiert]: Katharina Trittel über das Werk von Hans Mommsen und seine neuartige Aktualität im Spiegel der Pegida-Bewegung.
Am 5. November 2015 verstarb Hans Mommsen, einer der bedeutendsten Zeithistoriker der Nachkriegszeit. Am 9. November 2015, dem Tag der „Reichspogromnacht“, erklärte Pegida in Dresden den „deutschen Schuldkomplex der 12-jährigen Naziherrschaft offiziell für beendet“[1]. Warum gehören dieser Donnerstag und dieser Montag, Hans Mommsen und Tatjana Festerling in diesem Fall zusammen?
Auf dem Historikertag 1998 in Frankfurt – einem fachhistorischen Kulminationspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – wurde heftig und kontrovers darüber diskutiert, wie sich die Rolle von Historikern, also somit auch der eigenen akademischen Lehrer und Koryphäen, im Nationalsozialismus fassen ließe und wie sie zu bewerten sei. Auch damals verlief dieser Diskurs entlang von Deutungsmustern, die Grade der „Verstrickung“ ausloteten, anhand derer auseinander dividiert wurde, wer nur gutgläubig mitgelaufen sei und wer schwere Schuld auf sich geladen habe. Mitten in die rhetorischen Scharmützel um die Positionierung und Forschungsbeiträge anerkannter Größen des Faches zu Zeiten und zugunsten der Diktatur warf Hans Mommsen ein: „Das ist nicht Affinität zum Nationalsozialismus, das ist der Nationalsozialismus.“
Dieser Ausruf ermahnte seinerzeit die eigene Zunft, die noch 1998 in Maßstäben der Verführbarkeit und Relativität dachte, das in Mommsens Augen eigentliche Wesen des Nationalsozialismus nicht zu verkennen. Er erinnert aber auch an das weitverbreitete Bedürfnis der Nachkriegsgesellschaft, die eigene Schuld durch einen Mechanismus der Relativierung ablegen zu wollen.
Eines der größten Verdienste Hans Mommsens ist aber gerade, diese Bedürfnisse und Deutungsschemata analysiert und aufgebrochen zu haben. Seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war maßgeblich von der sozialgeschichtlichen Annahme geprägt, diesen nicht als Phänomen zu sehen, das von großen Männern getragen worden war, sondern Mommsen wollte die zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen und komplexen Zusammenhänge als Erklärungsansatz des kaum Erklärbaren nutzbar machen. In einer Zeit, zu der das Bedürfnis, die Verantwortung für das Geschehene zu externalisieren, prägend war, aber auch die Erklärungen vieler Historiker an der Spitze und nicht in der Breite oder systematisch ansetzten, war Hans Mommsens Ansatz anders und unbequem. Er versuchte das Wesen des Nationalsozialismus mit dem Schlagwort der „kumulativen Radikalisierung“ zu fassen. Diese These ging davon aus, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik am Ende eines nicht von Beginn an geplanten, jedoch zunehmend sich selbst verstärkenden Radikalisierungsprozesses gestanden habe.
Und Mommsen fragte weiter, auch nach der Verantwortung des Einzelnen in der Diktatur, zuletzt öffentlichkeitswirksam im Falle von Günter Grass, als dieser seine damalige Waffen-SS-Mitgliedschaft offenbarte. Mommsen kommentierte die darauf losbrechende empörte Verurteilung von Grass als „ebenso typisch wie verlogen“[2]. Diese Einschätzung verdeutlicht nicht nur Mommsens Forschungsperspektive, sondern offenbart auch eine Diagnose der Gesellschaft im Jahre 2006. Typisch sei die scheinheilige Erregung, welche die nationalsozialistische Vergangenheit bzw.: Komponenten einer solchen in den Biografien deutscher Größen immer noch auslösten und seit jeher ausgelöst hätten. Ebenso typisch wie verlogen sei aber auch, auf andere zu zeigen, denen man aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position oder Prominenz mit einer besonderen Erwartungshaltung nach moralischer Integrität begegne.
Warum eigentlich? Weil man erwartet, dass die Angehörigen der sogenannten „45er-Generation“ wie Grass und übrigens auch Mommsen irgendwie besser sein müssten als man selbst, als die eigenen Väter? Weil Angehörige dieser Generation eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gesucht haben, ist ein Kontakt mit ihm umso verwerflicher? Mommsen insistierte darauf, dass genau diese Empörung ein typischer Reflex sei, den die Deutschen immer noch hätten, Schuld auf Funktionsträger abzuwälzen und sich über sie aufzuregen, ohne auf sich selbst und die Gesellschaft zu schauen. Wer vom Einzelnen spreche, versuche sich selbst freizusprechen.
In dieser Schuldprojektion erkannte Mommsen schon früh bereits Anfang der 1960er Jahre eine verdeckte Apologetik der deutschen Öffentlichkeit, sich der eigenen Verantwortung nicht stellen zu wollen. Und diese Haltung hat Tradition. Im Jahr 1948 waren laut einer Allensbach-Umfrage 57 Prozent der Deutschen der Meinung, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die lediglich schlecht ausgeführt worden sei; und noch 1955 meinten 48 Prozent, Hitler wäre, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen.[3] Die Erzählung vom „verführten Volk“, welches gutgläubig gefolgt sei, war noch lange nach Kriegsende ein verbreiteter Topos, ebenso wie das Geraune über eine Kollektivschuld, welche die Sieger den Besiegten unterstellen würden und der zufolge alle Deutschen eine vererbbare Schuld auf sich geladen hätten.
Diesem Vorwurf begegnete man mit einer Mentalität der Aufrechnung: Der Schuldunterstellung wurden die Opfer des alliierten Luftkrieges und die Vertreibung Deutscher aus den ehemaligen Ostgebieten entgegengehalten. Gerade Angehörige ehemaliger NS-Eliten streuten den Vorwurf, die These der Kollektivschuld sei Ausgangspunkt für die Reparationsforderungen der Alliierten und für Ungerechtigkeiten bei den Entnazifizierungsverfahren. Auch, als man nicht mehr von Schuld, sondern von Verantwortung sprach, dominierte die Einstellung, sich dieser zu verweigern, sich ins Private zurückzuziehen. Und selbst wenn man diese Abwehrreaktion als Ausdruck eines schlechten Gewissens deutet, ist die Schulddebatte doch zu einem Diskurs zwischen Entlastung und Erklärung geraten und hat insgesamt zur Enthistorisierung einer „dämonischen Zeit“ geführt.
Die in diesen Tagen zahlreichen Würdigungen unterstellen Hans Mommsen ein geschärftes Gefühl für die Mechanismen einer Gesellschaft, in der Verantwortung abgeschoben werde,[4] in der das Bedürfnis, einen Schlussstrich zu ziehen, riesengroß sei. Damals wie heute. Hans Mommsen lebte erst wenige Tage nicht mehr, als Tatjana Festerling, die ehemalige OB-Kandidatin für Pegida, am 9. November 2015, in vollem Bewusstsein der historischen Konnotationen dieses Datums, vor der Dresdner Semperoper den „deutschen Schuldkomplex“ offiziell für beendet erklärte. Sie stilisierte das Bedürfnis, „loszulassen“, als ein vorrangiges der heutigen Gesellschaft, ihre Ausführungen gipfelten in der rhetorischen Frage an ihre Mitstreiter: „Seid ihr bereit loszulassen?“ Aus tausend Kehlen brüllte es: „Ja!“
Deshalb: Trotz „traumatischer Spuren […] lassen wir die Vergangenheit jetzt los und deswegen ist jetzt Schluss mit der künstlichen Naziparanoia. […] Ihr könnt euch ab sofort eure Hitlerei an den Hut stecken. […] Und wenn ihr eure Hitlerfantasien und Naziobsession nicht in den Griff bekommt, dann macht Therapie! Aber lasst uns mit eurem Schuldkult, mit der Vergangenheit, für die keiner von uns hier die Verantwortung trägt, endlich in Ruhe!“[5]
Der „Schuldkult“ – eine in NPD-Kreisen gebrauchte Vokabel – wirft die Frage nach der deutschen Verantwortung erneut auf. Doch unter welchen Vorzeichen? Ebenso wie die Kollektivschuld, die man sich nach 1945 durch die Alliierten auferlegt sah, argumentiert Pegida, das rot-grüne Lager habe dem „gesamten Volk“ diesen Schuldkult aufgebürdet, ein Lager, das sich ausgerechnet den ehemaligen Waffen-SS-Mann Günter Grass als Vorzeigepersönlichkeit ausgesucht habe. Die „im Namen des Volkes“ ausgesprochene Erklärung Festerlings zeigt in diesem Zusammenhang v.a., wie groß das Bedürfnis nach einem Schlussstrich immer noch und immer wieder und gerade wieder ist.
Und auch wenn es schnell zur Plattitüde gerät, die Großen eines Faches in Nachrufen als „mahnende Stimmen ihrer Zeit“ zu bezeichnen: Die von Hans Mommsen stets gestellte Frage nach der Verantwortung des Einzelnen wird offensichtlich auch heute noch, siebzig Jahre nach Kriegsende, höchst unterschiedlich beantwortet und muss deswegen immer von Neuem gestellt werden.
Katharina Trittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung
[1] URL: https://www.facebook.com/pegidaevdresden/photos/a.795033410535084.1073741829.790669100971515/1006930156012074/?type=3&theater [eingesehen am 17.11.2015].
[2] Mommsen, Hans: Grass’ Spießroutenlauf. Die Empörung ist so typisch wie verlogen, in: Frankfurter Rundschau, 16.08.2006.
[3] Vgl. Schwelling, Birgit: Wie wurden aus Volksgenossen Staatsbürger? Der Wandel von Einstellungen und Mentalitäten nach dem Übergang vom Nationalszoialismus zur Bundesrepublik, in: Bergem, Wolfgang (Hrsg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S. 41–57, hier S. 46.
[4] Siehe Kellerhoff, Sven Felix: Er rückte Deutschland die Verantwortung ins Gewissen, in: welt.de, 06.11.2015, URL: http://www.welt.de/geschichte/article148496812/Er-rueckte-Deutschland-die-Verantwortung-ins-Bewusstsein.html [eingesehen am 17.11.2015].
[5] PEGIDA Dresden live, 09.11.2015, URL: https://www.youtube.com/watch?v=wfFyZzEIqj4 [eingesehen am 17.11.2015].