Während in Politik und Gesellschaft ein breiter Konsens darüber herrscht, in den Schulen wieder zu Unterricht in Präsenz zurückzukehren, scheint für Universitäten Gegenteiliges der Fall zu sein. Mittels ausgeklügelter Hygienekonzepte wird in den meisten öffentlichen Bildungsinstitutionen versucht, einen annähernden Normalbetrieb wiederherzustellen. Die Bestrebungen, auch in der universitären Lehre wieder Präsenzveranstaltungen zu ermöglichen, fallen dabei deutlich geringer aus. So sprach man sich in der offiziellen Pressemitteilung[1] der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) – selbstbezeichnete „Stimme der deutschen Hochschulen“ – für eine überwiegend digitale Lehre im kommenden Wintersemester 2020/2021 aus. Dabei sollen jedoch so viele Lehrveranstaltungen in den Räumen der Universitäten wie möglich (oder eher wie nötig) angeboten werden.
Einer möglichen Kritik vorauseilend, erklärte der HRK-Präsident Peter-André Alt den Vergleich mit den Schulen und Vereinen für unzulässig und betonte die besondere gesellschaftliche Rolle der Universitäten. Zum einen würden diese aufgrund ihrer Größe ein höheres Hot-Spot-Risiko darstellen. Zum anderen seien Student*innen mit ungleich höheren Selbstlernkompetenzen als Schüler*innen ausgestattet, „so dass sie ihre Leistungen bei allen Kompromissen auch erfolgreich digital erbringen können“[2]. Jedoch wurde zugestanden, dass in einigen Bereichen auf Präsenz und die Nutzung der universitären Räumlichkeiten nicht lange verzichtet werden könne. Vor allem in der Medizin, den Sportwissenschaften und an den Kunsthochschulen seien die Arbeit im Labor, die Zusammenarbeit in Kleingruppen und die Durchführung praktischer Übungen notwendig. Doch wie steht es um die Fächer, die hier unerwähnt bleiben; den Geistes- und Sozialwissenschaften; den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften; in denen das Seminar Kernstück der universitären Lehre ist? Im Seminar werden gelesene Texte besprochen und diskutiert, was ihre digitale Umsetzung im Vergleich zu einer Vorlesung deutlich schwieriger macht.
In diesen Studiengängen, die ja ohnehin einen geringen Praxisanteil aufweisen, sei es, so suggeriert es die Pressemitteilung, ohne weiteres umsetzbar, die Lehre auch weiterhin digital stattfinden zu lassen. Das angestrebte Ziel des Studiums – der Erwerb von Credits und einem Abschluss – ist ja auch ohne das risikobehaftete Zusammentreffen in Seminaren möglich. Gegenwind zu dieser Einschätzung bläst derweil in Form eines offenen Briefes, unterschrieben von zweitausend Lehrenden verschiedener Universitäten und Fachrichtungen. Sie warnen davor, dass die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als nachgereichte Rechtfertigung zur völligen Umstellung auf eine digitale Lehre verwandt werden könnten. Und nicht nur die Lehrenden, auch Student*innen der Fächer äußern sich mit ähnlichen Bedenken. Es drängt sich die zunächst berechtigte Frage auf: Können der notwendige Austausch und eine kritische Gesprächskultur unter den Bedingungen der Online-Lehre aufrechterhalten werden? Im ersten Moment mag man nickend zustimmen, doch wissenschaftlicher Diskurs und kritische Gesprächskultur in Seminaren – wenn auch von einigen Lehrenden unter Berufung auf die humanistischen Bildungsideale vehement verteidigt – sind schon längst nicht mehr die Regel. Da vielen Studierenden auch ohne Pandemie kaum zuzutrauen ist, gewissenhaft ihre Pflichtlektüre zu lesen, existiere das Seminar als Ort des intellektuellen Eros, so sieht es zumindest Michael Sommer in der Frankfurter Allgemeinen, ohnehin nur in der Vorstellung „unverbesserlicher Universitätsromantiker“[3]. Ganz Unrecht hat er mit dieser Feststellung nicht:
„Vom ästhetischen Gefühl aus ist vielleicht das Auffallendste und Peinigendste an der Erscheinung der Hochschule: die mechanische Reaktion, mit der die Hörerschaft dem Vortragenden folgt. Dies Maß von Rezeptivität könnte nur durch eine wahrhaft akademische oder sophistische Kultur des Gesprächs aufgewogen werden. Davon sind auch die Seminarien durchaus entfernt, die sich hauptsächlich ebenso der Vortragsform bedienen, wobei es wenig verschlägt, ob Lehrer oder Schüler sprechen.“[4]
So formulierte es der damals 23-jährige Student und spätere Kulturkritiker Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Das Leben der Studenten“ (1915). Seine Kritik war dem System, der Institution sowie seinen Kommiliton*innen gewidmet. Wissenschaft sei für die meisten Student*innen zur Berufsschule geworden und der Zertifikatserwerb ihr primäres Ziel.
Unter dem Brennglas der Pandemie offenbart sich nun ein Bewusstsein, das von einer ähnlichen, tiefeingesessenen Indifferenz gegenüber dem eigenen Studium zeugt. Vernahm man im Zuge der Bologna-Reform und der Bildungsstreiks 2009/2010 noch lautstarke Kritik, welche die neoliberalisierte Bildungspolitik und die Verschulung der Studiengänge anprangerte, hört man jetzt nur noch ein Stöhnen darüber, dass die Dozierenden es nicht schaffen würden, ansprechende Erklärvideos bereitzustellen.[5] Die Dozent*innen werden zu Dienstleister*innen, die den Student*innen ein Produkt in Form konsumgerechter Bildungshäppchen zu servieren haben.
Wehklagen vernahm man zudem über das Ausbleiben der Genussversprechen, die ein Student*innenleben verheißen. In persönlichen Gesprächen mit Kommiliton*innen über die Erfahrungen mit den digitalen Lehrveranstaltungen wurde häufig das Fehlen der „sozialen Komponente“ moniert. Gemeint sind damit jedoch nicht Diskussionen und reger Austausch zwischen Studierenden, sondern das gemeinsame Mittagessen in der Mensa, die Kneipenabende und WG-Partys oder wie eine Münchener Studentin in der Süddeutschen Zeitung verlautbarte:
„Der Kontakt fehlt. Der Kontakt zu den Kommilitoninnen und Kommilitonen. Die Routine, mit ihnen nach der Vorlesung in die Lieblingsbäckerei zu spazieren oder nach einer besonders harten Klausur in die Bar des Vertrauens. Nach einem Sieg verdienst du dir deinen Aperol Spritz am plätschernden Eisbach, nach der Niederlage brauchst du ihn.“[6]
Sieg und Niederlage – die Gemeinschaft der Studierenden erscheint in diesem Licht als eine Leidensgemeinschaft im Kampf um Credits und Zertifikate. Das Studium, welches einst auf der Produktivität[7] der Studierenden und der selbstständigen Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten beruhen sollte, wird in der Corona-Pandemie vollends durch schulisches Lernen und mechanische Rezeption von zu Kategorien verfestigten Bildungsinhalten ersetzt.
Diese Entwicklung scheint unter Student*innen auf großes Einverständnis zu stoßen. Mehr noch: Indem sich die Kritik am Online-Semester darauf beschränkt, die Medienkompetenz der Dozent*innen zu beurteilen und sich darum zu sorgen, ob die angestrebten Zertifikate in der dafür vorgesehenen Zeit absolviert werden können, offenbart sich ein Bedürfnis nach einem Studium, das bloß noch konsumiert wird wie ein Podcast. Die fast schon gleichgültige Haltung, die dabei an den Tag gelegt wird, ist jedoch nicht Resultat eines Bewusstseins, welches die längst vergangenen, vielleicht niemals dagewesenen – so legen es zumindest Benjamins Thesen nahe – Universitätsideale vergessen hat. Es schlägt sich in der Bewusstseinshaltung der Student*innen nieder, was zuvor unter dem Deckmantel höherer Universitätsideale noch verborgen bleiben konnte und sich nun unter den Bedingungen des Online-Semesters jedoch deutlich zeigte: die Warenförmigkeit von Bildung. Von einem System, das prinzipiell alles zur Ware werden lässt, bleiben auch Wissenschaft und Bildung nicht unbehelligt. Das Einverständnis mit den Bedingungen einer digitalen Lehre ist somit auch ein Einverständnis mit einer auf die Prinzipien kapitalistischer Marktwirtschaft ausgerichteten Universität.
Paul Moersener studiert Philosophie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
Anna Carola König arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung und studiert Globale Politik im Master an der Georg-August-Universität Göttingen.
[1] Pressemitteilung der Hochschulrektorenkonferenz vom 02.07.2020, URL: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-02-PM/HRK_Senat_PM_WS_2020-21_02072020.pdf [eingesehen am 17.08.2020].
[2] Ebd.
[3] Sommer, Michael: Die Mauer des Schweigens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.2020, S. 6.
[4] Benjamin, Walter: Das Leben der Studenten, in: Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Surhkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1977, S. 14
[5] Beispiele liefert z. B. Zeit Campus in Form von studentischen Erfahrungsberichten in der Kolumne „Studium und Corona: Die Kombination aus Unsicherheit und hohem Druck ist Gift.“, in: Zeit Campus Online, 17.06.2020, URL: https://www.zeit.de/campus/2020-06/studium-und-corona-krise-pandemie-universitaet-online-studium [eingesehen am17.08.2020].
[6] Hibsch, Amelie: Und es hat Zoom gemacht, in: Süddeutsche Zeitung Online, 10.05.2020, URL: https://www.sueddeutsche.de/bildung/studium-digitale-und-es-hat-zoom-gemacht-1.4901279 [eingesehen am 28.07.2020].
[7] Mit Produktivität ist hier nicht gemeint, bereits so und so viele Stunden für eine Klausur gepaukt zu haben.