Sonntagvormittag, staubiger Boden, ein verwildertes Industriegelände am Rande von Dessau-Roßlau. Es liegt ein Hauch von Festivalstimmung in der Luft: Neben der alten Werkhalle steht eine große Bühne für die Versammlungsleitung, gegenüber ist ein breites Zeltdach für die angereisten Mitglieder aufgebaut. Auf der struppigen Wiese dazwischen tapst ein Kleinkind umher, hinten am Wagen riecht es nach Kaffee und Bratwurst. Der erste Open-Air-Landesparteitag der AfD Sachsen-Anhalt am 20. September 2020 zeigt fraglos, wie Corona auch die Parteipolitik zu Veränderungen zwingt. Doch Organisationskulturen sind beharrlich: Die Videoleinwand zeigt Tagesordnung und Wahlergebnisse, Musik kommt aus der Anlage nur zum abschließenden Singen der Nationalhymne. Im Zentrum des AfD-Parteitags steht die Neuwahl des Vorstands. Ihr Verlauf und Ergebnis verweist auf die fortschreitende Professionalisierung des AfD-Landesverbands.
Wie oft in den vergangenen Jahren, kam vor dem Parteitag organisationspolitische Unruhe auf.[1] Ein dem Meuthen-Lager zugerechneter Kreisvorsitzender hatte eine „Schlacht epischen Ausmaßes“ angekündigt und den wohl ironisch gemeinten Rat erteilt, besser einen „Feldspaten“ einzupacken.[2] Er reagierte damit auf den landesparteiengeschichtlich ungewöhnlichen Umstand, dass der AfD-Vorsitzende Martin Reichardt bereits eine Woche vor dem Treffen eine Wahlempfehlung veröffentlicht hatte, die zentrale Konflikte vor ihrer versammlungsdemokratischen Eskalation entschärfte.[3] Diese sah neben seiner Amtsfortführung die Besetzung des einen stellvertretenden Vorsitzes mit dem AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Thomas Tillschneider vor, der als zentraler Akteur der Parteiströmung „Der Flügel“ vom Verfassungsschutz beobachtet wird.[4] Für die Flügel-Gegner sollte dafür der Bitterfelder Kreispolitiker Kai Uwe Ziegler abermals den anderen Stellvertreterposten übernehmen.
Reichardts Vorstoß kam überraschend. Als Vorsitzender und Sympathisant des Flügels war er zuletzt in der Defensive. Bereits bei den letzten Vorstandswahlen im Sommer 2018 hatten sich die Flügel-Gegner durchgesetzt.[5] Seit einigen Monaten verfügten sie im Landesvorstand über eine Mehrheit und hatten ein Parteiausschlussverfahren gegen den AfD-Bundestagsabgeordneten und Flügel-Anhänger Frank Pasemann durchgesetzt.[6] Damit wurde nicht nur die politische Autorität, sondern auch der Führungsstil des Vorsitzenden angegriffen, der das konfliktintensive Instrument des Parteiausschlussverfahrens durch stete Moderation und Ausgleich zu ersetzen versucht hatte.[7] Von diesem „Weg des Friedens“ profitierten mittelfristig indes wohl die durch die Verfassungsschutzbeobachtung unter Druck geratenen Flügel-Anhänger besonders stark.
Grundlage der Volte bildete ein vorab geschlossener Konsens der Kreisverbandsspitzen, die Reichardt in seiner Amtszeit wiederholt in die Klärung schwieriger Fragen integriert hatte.[8] Ihre Einwilligung mag in vielen Fällen höchst widerwillig gefallen sein, da der äußerst radikale, gut vernetzte und machtbewusste Tillschneider innerparteilich lange höchst umstritten war.[9] Vor den 2021 anstehenden Landtags- und Bundestagswahlen waren jedoch alle Funktionäre sowohl an organisatorischer Ruhe als auch aussichtsreichen Kandidaturen stark interessiert. Andererseits hatte sich Reichardt an Tillschneider angenähert, der zuletzt vergeblich für den Landesvorstand kandidiert hatte. Als Kreisvorsitzender des Saalekreises unterstützte er seinen Landesvorsitzenden zugleich darin, als Bundestagsdirektkandidat nicht in seinem Heimatwahlkreis Börde, sondern im aussichtsreichen Wahlkreis 73 im Süden des Landes anzutreten.[10] Auf dem Landesparteitag beschrieb sich Tillschneider nun als „Adjutant“ Reichardts, den er frenetisch als „Kommandeur unserer blauen Armee“ feierte.
Auf dem Parteitag erfolgte eine sorgsame Orchestrierung. Mit der Autorität des Parteichefs verkündete Reichardt vor fast allen Wahlen am Mikro den ersten Kandidatenvorschlag. In mehreren Redebeiträgen forderte er die rund 560 stimmberechtigten Anwesenden dazu auf, das „Tableau der Einheit“ zu unterstützen und erinnerte daran, dass Einigkeit im „Deutschland unter Corona“ die vornehmste Pflicht sei. Sein Narrativ wurde von den meisten Kandidaten aufgegriffen. Tillschneider etwa verwies auf das von Alexander Gauland popularisierte Schiller-Zitat „Seid einig, einig, einig!“ und mahnte eindringlich: „Einen zerstrittenen Haufen, den wählt niemand. Und einen gespaltenen Haufen, den wählt man noch viel weniger!“ Eindruck machten derartige Appelle vermutlich vor allem auf die anwesenden Neumitglieder, die seit 2018 massenhaft in die aktuell insgesamt 1360 Mitglieder umfassende Landespartei geströmt sind.[11]
Reichardts Vorgehen war schließlich erfolgreich: Infolge der Vorabsprachen blieben Kampfkandidaturen um die vorderen Vorstandsplätze aus, auf die er selbst (Vorsitzender), der Bundestagsabgeordneten Andreas Mrosek (Generalsekretär) sowie Tillschneider und Ziegler (stellvertretende Vorsitzende) gewählt wurden. Erst bei den Wahlen der Schatzmeister und Schriftführer kam es zu den sonst üblichen Kampfkandidaturen. Während die Kandidaten der Flügel-Gegner hierbei nur Ergebnisse zwischen 21 und 42 Prozent erlangten, erzielten die Flügel-Vertreter Ergebnisse zwischen 57 und 90 Prozent.[12] Weithin ohne Konkurrenz und mit teils sehr hohen Ergebnissen wurden die Landtagsabgeordneten Oliver Kirchner, Ulrich Siegmund, Jan Wenzel Schmidt, Hannes Loth und Matthias Lieschke für die fünf Beisitzerposten gewählt.
Angesichts des Gesamtergebnisses verändert sich die Tektonik des AfD-Landesvorstands in Sachsen-Anhalt merklich. Erstens gewinnt das Lager der Anhänger des Flügels, der sich offiziell im Frühjahr aufgelöst hat, nun in den formellen Strukturen des Landesvorstands wieder deutlich an Gewicht. Die AfD Sachsen-Anhalt bildet damit einen Kontrapunkt zur partiell erfolgreichen Rückdrängung von Flügels-Vertretern in anderen Landesverbänden. Die Wahl der in der radikalen Bewegungsrechten verankerten Landtagsabgeordneten Tillschneider und Schmidt stärken den zuletzt angeschlagenen Landesvorsitzenden, könnten aber alsbald Konflikte zwischen Partei- und Bewegungsorientierungen forcieren.[13] Gut denkbar ist zudem, dass der ambitionierte Politiker Tillschneider sich mit der Position des „Adjutanten“ nicht dauerhaft zufriedengeben wird.[14]
Während sich die AfD Sachsen-Anhalt somit personell nicht deradikalisiert, setzt sie – zweitens – dennoch ihren Professionalisierung-Kurs fort.[15] Hierfür spricht, neben dem enormen Mitgliederwachstum und auf dem Parteitag demonstrierten effektiven Führungsformen, auch die stärkere Integration der ressourcenreichen AfD-Abgeordneten, die im neuen Landesvorstand zwei Drittel der Posten besetzen. Die wieder gestiegene Zahl der Landtagsabgeordneten verweist dabei auf deren zentrale Rolle im Landtagswahlkampf 2021.[16] In dieselbe Richtung deutet die voranschreitende Akademisierung des Vorstands: Neben dem habilitierten Islamwissenschaftler Tillschneider wurde auch der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Jan Moldenhauer in den Vorstand gewählt, der sich als leitender Referent der Magdeburger Landtagsfraktion, als Vorsitzender der AfD-nahen Friedrich-Friesen-Stiftung sowie als Autor von Publikationen in neurechten Verlagen und Zeitschriften profiliert hat.[17]
Auch im neuen AfD-Landesvorstand werden Strömungsauseinandersetzungen natürlich virulent bleiben. Dennoch zeigen deutliche Anzeichen einer fortschreitenden Konsolidierung. Anders als etwa in der AfD-Niedersachsen, in der nach einem Machtwechsel an der Landesspitze just auch die Landtagsfraktion zerbrach, zeigen sich im östlichen AfD-Nachbarverband erfolgreiche organisatorische Lernprozesse. Durch interne Koordination und Ausgleich gelingt den verschiedenen Strömungen seit 2018 zunehmend die Koexistenz, wodurch der Landesverband an Effizienz und Handlungsmacht gewinnt. Angesichts der im Vergleich zum Landtagswahlkampf 2016 ergeheblich gewachsenen Mitgliederzahlen, Ressourcen und Kompetenzen verfügt der Verband – bei weiterhin relativ hohen Umfrageergebnissen von aktuell kanpp 20 Prozent – im Doppelwahljahr 2021 wohl über erhebliche Potenziale.
Alexander Hensel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er forscht zur Entwicklung der Landesparteien und Landtagsfraktionen der AfD und ist Mitautor einer hierzu für die Otto-Brenner-Stiftung durchgeführten Studie. Weitere Artikel zur Entwicklung der AfD-Landesparteien finden sich hier, hier und hier.
[1] Zur Entwicklung der AfD Sachsen-Anhalt vgl. Hensel, Alexander; Finkbeiner, Florian u.a.: Die AfD vor der Bundestagswahl 2017. Vom Protest zur parlamentarischen Opposition. OBS-Arbeitsheft 91, Frankfurt a.M. 2017, hier S. 52ff.
[2] Vgl. Eichler, Hagen: „Packt den Feldspaten ein“. Harzer AfD-Chef kündigt „Schlacht“ beim Landesparteitag an, in: MZ.de, 19.09.2020, URL: https://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/-packt-den-feldspaten-ein–harzer-afd-chef-kuendigt–schlacht–bei-landesparteitag-an-37371846 [eingesehen am 19.09.2020].
[3] Vgl. Eichler, Hagen: Tillschneider soll in der AfD aufsteigen, in: Mitteldeutsche Zeitung, 16.09.2020, S. 5.
[4] Vgl. Eichler, Hagen: Zeltparteitag der AfD wird Strafgericht, in: Mitteldeutsche Zeitung, 21.09.2020, S. 4.
[5] Vgl. Schumann, Jan: AfD-Basis schlägt zurück, in: MZ.de, 10.06.2018, URL. https://www.mz-web.de/mitteldeutschland/afd-basis-schlaegt-zurueck-drei-prominente-rechtsaussen-bei-wahl-gedemuetigt-30597900 [eingesehen am 12.09.2018].
[6] Eichler, Hagen: Der „Flügel“ wird gestutzt, in: Mitteldeutsche Zeitung, 24.08.2020, S. 2.
[7] Im Rechenschaftsbericht verwies Reichardt darauf, dass zu Beginn der letzten Amtsperiode nach zähen Verhandlungen eine Reihe von Ordnungsmaßnahmen vom Vorstand gestoppt wurden, dennoch liefen weitere, teils kontrovers bewertete Ausschlussverfahren.
[8] Im politischen Rechenschaftsbericht auf dem Landesparteitag erwähnte Reichard insgesamt acht Kreisspitzentreffen, auf denen regionale Funktionäre in die innerparteiliche Konfliktlösung einbezogen wurden.
[9] Vgl. Schumann, Jan: Der Spalter, in: Mitteldeutsche Zeitung, 11.08.2018, S. 3.
[10] Vgl. Schlegel, Tobias: Warum es Zoff um einen AfD-Kandidaten gibt, in: MZ.de, 14.09.2020, URL: https://www.mz-web.de/weissenfels/bundestagswahl-2021-warum-es-zoff-um-einen-afd-kandidaten-gibt-37339082 [eingesehen am 19.09.2020].
[11] Laut Rechenschaftsbericht ist die Mitgliederzahl des Landesverbands zwischen Juni 2018 und September 2020 um 542 auf insgesamt 1.360 gestiegen. Mehr als ein Drittel verfügt demnach über relativ geringe organisatorische Erfahrungen. Auf dem Parteitag waren immer wieder Nachfragen gerade jüngerer Mitglieder zu vernehmen, die offenbar nach Orientierung im Wahlgeschehen suchten.
[12] Zum Schatzmeister wurde Arno Bausemer und Jan Moldenhauer (Stellvertreter), zum Schriftführer Gordon Köhler sowie Matthias Büttner (Stellvertreter) gewählt.
[13] Schmidt ist zugleich Vorsitzender der Jungen Alternative (JA) in Sachsen-Anhalt, die derzeit unter den Ostverbänden der AfD-Parteijungend über die höchste Mitgliederzahl verfügt, wie auf dem Parteitag verkündet wurde.
[14] So die Einschätzung von Eichler, Hagen: Der neue Kalbitz, in: Mitteldeutsche Zeitung, 21.09.2020, S. 8.
[15] Vgl. Hensel, Alexander: Zwischen Partei und Bewegung, in: Dudek, Philip et al. (Hrsg.): Umkämpfte Gewissheiten. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2017/18, Stuttgart 2019, S. 219–221, online hier verfügbar.
[16] In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass nicht nur der aktuelle Fraktionsvorsitzende Oliver Kirchner mit 89,3 Prozent ein äußerst gutes Wahlergebnis erzielte, sondern auch sein deutlich jüngerer Stellvertreter Ulrich Siegmund, der mit 90,9 Prozent gewählt wurde.
[17] Vgl. Homepage der Friedrich-Friesen-Stiftung: Publikationen und Vorträge Jan Moldenhauer, URL: https://www.friedrich-friesen-stiftung.de/publikationen-und-vortraege-jan-moldenhauer/ [eingesehen am 22.09.2020]