Stillschweigend leiden lassen statt Gesundheits-Management

Beitrag verfasst von: Nora Reckhardt
[gastbeitrag:] Nora Reckhardt berichtet, wie das nicaraguanische Regime die Corona-Krise zur Machterhaltung nutzt

Für den folgenden Beitrag sprach die Autorin Nora Reckhardt persönlich mit der Vorsitzenden des nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte Vilma Nunez und mit Jareth L*., der in diesem Jahr als Austauschstudent nach Deutschland kommen sollte und dessen Name nicht vollständig genannt werden soll.

Präsident Daniel Ortega neben Vizepräsidentin sowie Ehefrau Rosario Murillo. 15.04.2020, Minute 0: 58, URL: https://www.youtube.com/watch?v=vYYLXYQ-sb4 [eingesehen am 27.07.2020].

Kurz nachdem Mitte März der erste offiziell bestätigte Fall von Covid-19 in Nicaragua bekannt wird, verschwindet der Präsident Daniel Ortega. Während die Politiker*innen in Deutschland jeden Tag vor die Kameras treten, fragen sich die Nicaraguaner*innen, wo ihr Präsident ist. Dann, mitten in der weltweiten Krise, nach 34 Tagen Abwesenheit, wendet er sich am 15. April 2020 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Er stellt klar: Einen Lockdown werde es nicht geben. Es gäbe kaum Corona-Infektionen, das Land sei sicher. Es sei ein Zeichen Gottes, dass die USA und andere Industrienationen so stark vom Virus betroffen seien. Diese seien auf einem falschen Weg: Als Strafe für die Investition in Kriegsgüter statt in das Gesundheitssystem habe Gott ihnen nun das Corona-Virus geschickt.[1]

Im Verlauf der Pandemie zeigt sich: Das Regime führt seine politische Linie der Desinformation, Kontrolle und Unterdrückung fort. Es kämpft nicht an erster Stelle für die Gesundheit der Bevölkerung, sondern um die eigene Stellung im Land.

2018 hatte diese Politik zuletzt eine Krise in Nicaragua ausgelöst. Mit aller Härte gingen regierungstreue Kampftruppen damals gegen oppositionelle Demonstrierende vor. Diese protestierten zu Beginn gegen eine geplante Rentenreform. Doch schließlich kämpften die Menschen auf der Straße gegen das autoritär agierende Regime von Daniel Ortega und seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Es folgten Monate des Ausnahmezustands. Hunderte Nicaraguaner*innen kamen ums Leben, verschwanden, wurden aufgrund ihrer politischen Meinung gefoltert und inhaftiert.[2] Ein 15-jähriger Junge wurde zum Symbol für die Brutalität des Regimes: Álvaro Conrado wollte Studierenden, die vom Militär in der Universität festgesetzt worden waren, Wasser bringen. Ein Kopfschuss verletzte ihn schwer, doch das öffentliche Krankenhaus, welches sein Leben hätte retten können, wies ihn ab. Die Anweisung kam von oben: Oppositionelle werden nicht behandelt. Derweil schallte aus regierungstreuen Radios: „Aunque te duela, Daniel se queda[3] („Auch wenn es weh tut, Daniel bleibt!“) als Refrain eines propagandistischen Songs.

Der brutale Umgang mit der eigenen Bevölkerung und die anschließenden Angriffe auf Regierungsgegner*innen ließen erahnen, wie das Regime bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie agieren würde. Eine neue Krise, die die Wirtschaft und den so wichtigen, gerade wieder aufkommenden Tourismus erneut zum Erliegen bringen würde, wollte die Regierung um jeden Preis verhindern. Die Regierung könnte daran scheitern. Statt die Gesundheit der Bevölkerung nun durch angemessene Maßnahmen zu schützen, reagierte die Regierung erneut mit scharfer Kontrolle von Informationen und paradoxem Aktionismus, der darauf abzielte, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die eigene Macht zu demonstrieren. So verbreiteten sich in den vergangenen Monaten nicht nur das Virus, sondern auch die Unterdrückung der Meinungs- und Redefreiheit, der Pressefreiheit und vor allem die fahrlässige Gesundheitsgefährdung der Menschen in Nicaragua.

Während die meisten Regierungen Kontakte beschränkten, rief Vizepräsidentin Murillo per Videobotschaft zu einem Solidaritätsmarsch auf. Unter dem Motto „Liebe in Zeiten von Corona” sollten sich die Menschen versammeln und gemeinsam durch die Hauptstadt ziehen, in Gedanken an die Länder, die von der Corona-Pandemie schwerer betroffen seien als Nicaragua. Öffentlich Angestellte hatten keine Wahl, ob sie sich dem Risiko aussetzen wollten oder nicht. Es wurde kontrolliert, ob sie zu den Veranstaltungen gingen. Wer sich entzog, konnte sich nicht darauf verlassen, den Job zu behalten, berichtet Vilma Nuñez, Vorsitzende des nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH) im persönlich geführten Interview für diesen Beitrag.

Die Familie Ortega-Murillo nahm nicht am Solidaritätsmarsch teil. Diese habe sich zu Beginn der Krise in einem privaten Domizil isoliert, erzählt Nuñez. Von dort aus verkündet Vizepräsidentin Murillo per Videobotschaft eine Freizeitkampagne: Von der Regierung organisierte Großveranstaltungen sollten die Menschen zusammenbringen. Schönheitswettbewerbe, Boxkämpfe und Fußballspiele fanden statt, über die Osterfeiertage sollten alle an die Strände fahren und ihre Familie besuchen. Schließlich gäbe es in Nicaragua ein hervorragendes Gesundheitssystem und eine Tür-zu-Tür Aufklärungskampagne habe den Menschen vermittelt, wie sie sich vor dem Virus schützen könnten.[4] Private Schulen begannen auf Online-Unterricht umzustellen, während öffentliche Schulen und Universitäten weiterhin Präsenzunterricht abhielten. Für Schüler*innen und Studierende bedeutete dies, zwischen Selbstgefährdung oder einem Verlust des Schuljahres bzw. des Uni-Semesters wählen zu müssen.

Jareth L, Medizinstudent an der Nationalen Autonomen Universität (UNAN), einer der größten staatlich finanzierten öffentlichen Hochschulen in der Hauptstadt Managua, berichtet, er habe sich aufgrund von Halsschmerzen zwei Wochen lang freiwillig unter Quarantäne gestellt. Nun besucht er wieder seine Kurse an der Uni und absolviert parallel ein Praktikum im Krankenhaus. Jareth  weiß, dass er besonders gefährdet ist, sich mit dem Corona-Virus anzustecken – die Kontakte mit möglicherweise Infizierten im Krankenhaus sowie mit vielen anderen Medizinstudierenden an der Universität erhöhen das Ansteckungsrisiko. Auch wenn er Angst davor habe, sich selbst und seine Familie zu infizieren, könne er es sich finanziell nicht leisten, das Semester zu verpassen. Jareth  hoffe, dass die Menschen bald vernünftiger werden und zumindest unnötige Kontakt vermeiden. Viele gingen immer noch in Bars und träfen sich mit Familie und Freunden. Aber ohne Verbote und ohne eine Regierung, die klar Gefahren kommuniziere, werde das schwierig. Seine Informationen beziehe er vor allem aus sozialen Netzwerken und von Journalist*innen im Exil, denn zu Regierungserklärungen und Veranstaltungen sei immer nur regierungstreue Presse geladen. Er selbst äußert sich auch in sozialen Netzwerken nicht mehr offen kritisch, weil das den Verlust seines Studienplatzes bedeuten könnte.

Wer sich falsch äußert, wird bestraft. Es ist seit Jahren ein trauriges Muster in Nicaragua geworden. Seit Beginn der aktuellen Krise versucht ein Bündnis von Ärzt*innen und Pflegepersonal mit Unterstützung der Alianza Cívica (Bürgerliche Vereinigung), einer Gruppe verschiedener Organisationen zur Demokratisierung des politischen Systems in Nicaragua, eine flächendeckende, nationale Quarantäne durchzusetzen. Carlos Quant, ein in Nicaragua bekannter Virologe aus dem Krankenhaus Roberto Calderón, kämpfte offen und laut mit einem Bündnis von Ärzt*innen für die Durchsetzung eines Lockdowns. Ferner hatte er immer wieder auf die schlechte Verfassung des Gesundheitssystems hingewiesen. Nach über 20-jähriger Tätigkeit wurde er am 29. Mai ohne Vorwarnung entlassen.[5] Er ist nur ein Gesicht, das die Unterdrückung seitens der Regierung symbolisiert.

Nachdem die Infektionszahlen in dem Land trotz schwieriger hygienischer Bedingungen und ohne Lockdown in den ersten Wochen schon unglaubwürdig niedrig waren und eine verhältnismäßig hohe Mortalität aufwiesen, wurden sie plötzlich nach oben korrigiert. Wohl immer genau so weit, wie die Ortega-Murillo Regierung es wünschte. Schließlich steht das Gesundheitsministerium Ministerio de Salud (MINSA) weniger im Dienst der Gesundheit der Bevölkerung als im Dienst eines autoritär agierenden Regimes. Vilma Nuñez berichtet, dass Ärzt*innen – abgesehen von der viel zu geringen Anzahl von Tests – keine unabhängige Gewissheit über das Ergebnis hätten, da die Testergebnisse vom Ministerium nur telefonisch mitgeteilt würden. Letzten Endes entscheide somit die Regierung über die Corona-Zahlen. So wundert es nicht, dass in vielen Totenscheinen „Abnormale Lungenentzündung” eingetragen wird. Und auch aus anderen Gründen wundert dies nicht: Ein Totenschein mit Covid-19 als Todesursache bedeute, dass staatliche Versicherungen nicht zahlen dürften, erklärt Vilma Nuñez. Zu Beginn der Pandemie richtete sich die Regierung in einem Brief an die Sozialversicherungen. Wer aufgrund von Covid-19 nicht arbeiten könne oder sogar versterbe, den solle die Versicherung nicht unterstützen – auch nicht die Angehörigen. „Die Menschen bitten Ärzt*innen, nicht Covid-19 als Todesursache in den Totenschein zu schreiben”, schildert Señora Nuñez. Stattdessen sollten sie schreiben, dass sie alt gewesen oder an etwas Anderem gestorben seien. Das Angebot der unabhängigen Panamericana de la Salud, Corona-Testungen und neue Zählungen durchzuführen, die medizinischen Konditionen zu bewerten und Empfehlungen dazu abzugeben, was das Land in der Pandemie am meisten benötigen könnte, wurde abgelehnt.[6]

Das nicaraguanische Regime will keine Aufklärung, sondern Vertuschung und Machtdemonstration, damit seine Basis stabil bleibt. Denn diese gibt es nach wie vor. Dabei ist Ortegas demokratische Legitimation bereits seit Jahren fragwürdig. Der ursprünglichen Verfassung zufolge hätte er schon 2011 für eine dritte Amtszeit nicht mehr als Präsident kandidieren dürfen. Per Dekret verschaffte er sich damals die Möglichkeit anzutreten. Seine darauffolgende Zweidrittelmehrheit im Parlament erlaubte es ihm, die Verfassung zu ändern und von nun an durchgängig zu regieren.[7]

Da ein Lockdown seitens der Regierung nicht abzusehen ist, appelliert die Alianza Cívica an die Vernunft der Menschen und das funktioniert zumindest teilweise. In den Städten und auf den Märkten tragen immer mehr Menschen einen Mund-Nasen-Schutz. Aber in den Wohnvierteln ändere sich das Verhalten der Menschen laut der Zeitung La Prensa Nicaragua kaum. Ob sich dies auf Regierungstreue oder auf Fehlinformation zurückführen lässt, ist unklar.[8]

Währenddessen sterben Menschen. Geschichten von Ärzt*innen und medizinischem Personal, die sich Tag und Nacht für Kranke einsetzen, sowie Bilder von Beerdigungen bei Nacht kursieren in den sozialen Netzwerken und regierungskritischen Medien. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums gab es Mitte Juni rund 1800 Infizierte und nur 64 Tote, die Nicaragua aufgrund von Covid-19 zu beklagen habe. Das regierungsunabhängige Observatorio Ciudadano, ein Zusammenschluss von Freiwilligen, das nach eigenen Angaben versucht, die Informationslücken in Bezug auf Covid-19 in Nicaragua zu schließen, schätzt die Zahl der Infizierten auf rund 6000 und die der Todesfälle auf rund 1700. Im internationalen Vergleich wäre das eine extrem hohe Mortalitätsrate. Einige bewerten das Handeln der Regierung als Genozid durch Schweigen.

Vilma Nuñez erläutert, dass die Arbeit der Opposition erschwert werde. Politiker*innen würden zu Hause aufgesucht, bedroht und ihre Telefone registriert. Regierungstreue Medien feiern das Regime, welches die Bildung der Kinder und das finanzielle Auskommen der Bevölkerung in den Vordergrund stellt. Ortega hetzt gegen die USA und vergleicht, wie schlecht es den Menschen dort aufgrund des Lockdowns gehe. Die sozialen Netzwerke kann er zwar nicht direkt kontrollieren, doch viele trauen sich nicht, sich kritisch zu äußern. Zu groß sei inzwischen das Spionage-Netzwerk, wie Vilma Nuñez erklärt.

Als die Opposition 2018 forderte, die Wahlen aus dem Jahr 2021 auf 2019 vorzuziehen, wurde dies von der Regierung abgewiesen. Nun gehen die Nicaraguaner*innen auf das Wahljahr 2021 zu und die sandinistische Partei wird wohl den dann 75 Jahre alten Daniel Ortega zum fünften Mal als Präsidentschaftskandidat ins Rennen schicken. Er wird voraussichtlich gegen ein Bündnis der Opposition antreten müssen, das sich in der letzten Legislaturperiode deutlich auf sich aufmerksam machen konnte – nicht nur in Nicaragua, sondern in der ganzen Welt. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass das Regime die Corona-Krise auch insofern ausnutzt, als dass es zu der Wahl vorerst nicht kommen wird. Zwar gibt es eine treue Basis, die an ihrem Präsidenten festhält, aber die politischen Fehltritte des Regimes in den letzten Jahren sind sichtbarer als je zuvor. Die Hoffnung der Opposition ist, dass immer mehr Menschen gesehen haben, in welchem System der Unterdrückung sie leben und sich mit aller Kraft daran beteiligen, ihre Freiheit wieder zu erlangen.

 

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

 

Nora Reckhardt arbeitet als Lehrerin und freie Journalistin in Bremen. Von 2008–2014 studierte sie in Göttingen Politikwissenschaft und Germanistik. Von 2011 bis 2012 arbeitete sie dreizehn Monate lang in dem Bildungs- und Kulturprojekt “LA Casita del Árbol” in Tipitapa, Nicaragua. Seitdem besuchte sie das Land erneut und hielt engen Kontakt zu Organisationen und Menschen vor Ort, um den Förderverein Puente Nica e. V. mit aufzubauen.

Für den Beitrag interviewte sie die Vorsitzende des nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte Vilma Nunez, die für ihre Arbeit bereits viele internationale Auszeichnungen erhielt und über die Stiftung “Die Schwelle” engen Kontakt nach Deutschland pflegt. Darüber hinaus sprach sie mit Stipendiat*innen von Puente Nica e. V., die in diesem Jahr zum Austausch nach Deutschland kommen sollten sowie mit Mitarbeitenden des Bildungs- und Kulturprojekts in Tipitapa.

 

[1] Canal 4 de Nicaragua: Mensaje del Presidente Comandante Daniel Ortega als pueblo de Nicaragua, 15.04.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=vYYLXYQ-sb4 [eingesehen am 27.06.2020].

[2] ZeitOnline/dpa/sr: Regierung widerspricht Menschenrechtlern bei Totenzahlen, in: ZeitOnline, 08.08.2018, URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/nicaragua-proteste-tote-menschenrechte [eingesehen am 26.06.2020].

[3] Cwiertnia, Laura: Unbedingter Machterhalt, egal zu welchem Preis, in: ZeitOnline, 17.07.2018, URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/proteste-nicaragua-daniel-ortega-tote [eingesehen am 26.06.2020].

[4] Peters, Benedikt: Der Präsident ist zurück – nach 34 Tagen, in: Süddeutsche Zeitung, 16.04.2020. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/nicaragua-ortega-coronavirus-1.4878343 [eingesehen am 25.06.2020].

[5] Moncada, Roy/Enríquez Eduardo: Despido del Doctor Quant es solo el más reciente agravio contra el personal de salud en el Manolo Morales, in: La Prensa Nicaragua, 06.06.2020. URL: https://www.laprensa.com.ni/2020/06/06/nacionales/2682057-despido-del-doctor-quant-es-solo-el-mas-reciente-agravio-contra-el-personal-de-salud-en-el-manolo-morales [eingesehen am 26.06.2020].

[6] Lopez, Lidia: OPS pide al régimen orteguista visitar el país para ayudar con la lucha contra el Covid-19, in: La Prensa Nicaragua, 19.05.2020. URL: https://www.laprensa.com.ni/2020/05/19/nacionales/2675471-ops-en-espera-de-informacion-detallada-del-regimen-de-daniel-ortega-sobre-la-pandemia-del-covid-19 [eingesehen am 26.06.2020].

[7] Süddeutsche Zeitung/dapd/dpa (u.a.): Ortega gewinnt umstrittene Präsidentenwahl, in: Süddeutsche Zeitung, 07.11.2011. URL:  https://www.sueddeutsche.de/politik/nicaragua-ortega-gewinnt-umstrittene-praesidentenwahl-1.1182368 [eingesehen am 30.06.2020].

[8] Torrez García, Cinthya:  Esto ha sido el impacto en la población a 20 días del llamado a la cuarantena voluntaria, in: La Prensa Nicaragua, 20.06.2020 URL: https://www.laprensa.com.ni/2020/06/20/nacionales/2687488-20-dias-del-llamado-a-la-cuarentena-voluntaria-cual-ha-sido-el-impacto-en-la-poblacion [eingesehen am 30.06.2020].