Die Utopie der besseren Welt vor Ort

[analysiert]: Felix Butzlaff über Christentum und Arbeiterbewegung als Vorbilder für lokale Selbsthilfen.

„Es ist so toll, die Leute, die letztendlich aus einem Zorn zusammengetrieben werden, wenn sie in die Gesichter der Leute reinschauen, sehen sie unglaublich wache Augen, wache Gesichter und bei allem Ärger die Bereitschaft, sich gegenseitig anzulächeln, das ist faszinierend. Unter dem Gesichtspunkt würden sie von vielen hören, sie haben ein neues Verhältnis zu dieser Stadt gewonnen, das eben auch eine Aufbruchsstimmung ist und dieses Gefühl: Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen!“ Dieses Zitat eines Stuttgarter Protestierenden macht deutlich, wie stark die Protest-Bewegungen auch zur Heimat der Einzelnen geworden sind und wie sehr die Teilnahme an den Aktionen zusammenschweißt, auch zu neuen Bekanntschaften und Freundschaften führt. Diese Einbindung in eine Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt, die einem auch ermöglicht, über längere Zeit Aufgaben zu übernehmen, an Infotischen zu stehen oder Flugblätter zu verteilen, findet sich an vielen Protestschwerpunkten, die wir im Rahmen des Projekts untersucht haben, welches am Ende in das Buch „Die neue Macht der Bürger“ gemündet ist.

Gerade auch wenn die Bewegungen oder Initiativen einen regionalen Bezug stark unterstrichen, verschmilzt oft der einzelne Aktive in seiner Gruppe mit einer Art Lokalidentität. Dies war z.B. bei Großstadtinitiativen der Fall, etwa wenn es um die Entwicklung im Stadtviertel oder dem eigenen Kiez ging – den sogenannten Gentrifizierungsprotesten – oder wenn ein größeres Bauprojekt wie beim Stuttgarter Bahnhof oder bei der Flughafenerweiterung in München ein regionales urbanes Gefüge unter Veränderungsdruck setzte.


Foto: ©Stephanie Hofschlaeger/pixelio.de

Dieses Gefühl, Teil einer großen, wachsenden und breit ausgreifenden Protestierendenschaft zu sein, ist ein wichtiger Quell der Motivation – aus ihr ziehen die Akteure viel Legitimation für ihr Handeln. Je mehr Menschen dazustoßen und je größere Teile der Gesellschaft ihnen Unterstützung signalisieren, umso stärker haben sie das Gefühl, nicht nur inhaltlich im Recht zu sein, sondern auch nicht mehr überhört werden zu dürfen. Eine zusätzliche Motivation liegt in der Tatsache, dass man sich ja für die gemeinsame Stadt oder das Lebensumfeld einsetzt. Sie führt dazu, dass viele Befragte vom Konfliktgegenstand aus auf höhere oder abstraktere Ziele schauen. Man engagiert sich gegen einen Bahnhof oder einen Flughafenausbau, aber eben für das Umfeld aller und den generellen Umgang damit. Innerlich wird man dadurch auch zu einem Kämpfer für eine bessere Welt, weit weg vom Kampf für das individuelle Partikularwohl.

Diese Überhöhung des eigenen Einsatzes findet sich gerade in Stuttgart und München in den Äußerungen der Aktivisten sehr häufig. Für viele ist das konkrete Protestobjekt nur eine Abstraktion dessen, was sie eigentlich an dieser Gesellschaft und deren Verfasstheit stört. Beide angesprochenen Bauprojekte stehen dann für eine Verschwendungssucht und Hybris von Politik und Wirtschaft, die für Prestige- und Leuchtturmbauten die Prinzipien der Responsivität von Politik wie das Gebot eines adäquaten Ressourcenverbrauchs außer Kraft setzten. Und bei den Hamburger Gentrifizierungsprotesten etwa stehen die Entwicklungen der Mietpreise und die Renovierung ganzer Straßenzüge für eine Entwicklung hin zu einer immer stärker von ökonomischem Kalkül durchdrungenen Gesellschaft, die die eigene lokale Identität bedroht.

Fragt man die Aktiven dieser Protestfelder nach ihren Wünschen, auch nach Sehnsüchten und Hoffnungen, dann scheinen oft Bezüge zu einer jahrhundertealten Bewegung durch, die unter anderem im Urchristentum ihren Anfang genommen hat und die zum Ziel hatte, Schutz- und Trutzburgen aufzubauen, um ihre gesellschaftlichen Ideale und Lebensvorstellungen zu realisieren. Seitdem die krassen sozialen Ungleichheiten und Zwangslagen zur Zeit Jesu dazu geführt haben, dass sich Menschen in kollektiven Notsituationen vereinigten, sind genossenschaftliche Zusammenschlüsse entstanden, um sich gegen widrige Einflüsse zu schützen und eine Gemeindesolidarität zu leben, die als emotionales und ökonomisches Auffangnetz fungiert.[1] Die christlichen Bezüge des Teilens von Eigentum, der Solidarität mit den Schwachen einer Gemeinschaft und der Gleichheit aller Beteiligten liegen auf der Hand – gleichzeitig wollte die Genossenschaftsidee auch die lokale Ebene und ihre damit einhergehenden persönlichen Beziehungen dazu nutzen, sich gegenüber einer übermächtigen Staatlichkeit oder Zentralinstanz (sei es ein Staat oder der global agierende Kapitalismus) abzuschirmen.

Auch den Protestaktiven, mit denen wir gesprochen haben, schwebt abstrakt eine Idee vor, mit der sie diesen Prinzipien näherkommen: mehr Möglichkeiten, lokal Verantwortung zu übernehmen, der Wunsch, nach anderen Kriterien als streng wirtschaftlicher Effizienz entscheiden und leben, auch anders wirtschaften zu können. Dies bleibt keineswegs begrenzt auf Reste einer 1970er-Jahre-Studentenbewegungs-Nostalgie. Und in ihren Protestzusammenschlüssen setzen sie diese Prinzipien zum Teil auch um: Gerade die Dachvereinigungen der Stadtproteste in Hamburg, der Proteste gegen Stuttgart 21 und den Münchner Flughafenausbau sind Gruppen, die sehr stark darauf achten, keine großen Hierarchien entstehen zu lassen, dem Einzelnen innerhalb abgesteckter Grenzen die größtmögliche Freiheit zu lassen, jedem das gleiche Stimmgewicht einzuräumen. Besonders gegenüber der von den Befragten oft hämisch und beißend kritisierten Parteiendemokratie in Deutschland, die für viele die Verkörperung schlechthin für Ineffizienz und Vetternwirtschaft ist, erscheint ihnen die Vorstellung von lokalen Zusammenschlüssen ungemein attraktiv.

Analog zu den Ansätzen der Kommunebewegung wird die Realisierung der eigenen Werte im kleinen Umfeld angestrebt, um diesen dann Anschaulichkeit und Strahlkraft zu verleihen.[2] Der Wunsch, gleich die ganze Gesellschaft umzukrempeln, erscheint ihnen selbst zu sehr als ein Wolkenkuckucksheim. Die Plakate von den „Lügen“ der Politik oder dem demonstrativen Einbinden der arabischen Demokratiebewegungen etwa („Stuttgart grüßt Kairo“[3]) zeugen aber von dem Kontext, in dem man die eigenen Proteste sieht. Und auch die Bilanz der Freisinger Akteure nach dem erfolgreichen Bürgerbegehren atmet diesen Geist: „Wir kämpfen wirklich für eine bessere Welt und das hörst Du bei den anderen nicht.“ „Und ich glaube nach wie vor, dass die Welt anders geworden ist mit dieser Entscheidung.“

Auch dass man die eigene Stadt und Region innerhalb der Bundesrepublik als gewichtig und bedeutsam – sei es ökonomisch oder kulturell – wahrnimmt und sich selbst als wichtigen, tragenden Teil des Ganzen sieht, mag dazu beitragen, dem eigenen Engagement eine über das konkrete Ziel hinausweisende Bedeutung zu verleihen. Denn die hier untersuchten Aktivisten, die den Protest in den drei betrachteten Regionen tragen, sind Menschen, die mit ihren Berufen, ihrer Erfahrung und ihrer ganz persönlichen Geschichte ihr Stadtviertel, ihren Ort und ihre Region prägen. Und der Stolz und das Selbstbewusstsein, die hieraus resultieren, sind in allen Gesprächen zu spüren. Denn sei es über den Beruf oder vorangegangenes Engagement: Die Erfahrung, dass sie etwas verändern und bewegen können, haben alle bereits gemacht, und das verhilft ihnen zu einer Selbstgewissheit und einer breiten Brust als Beschwerdeträger.

Die Überzeugung, auf lokaler Ebene und mit einer glaubwürdigen regionalen Identität etwas verändern zu können, ist auch insofern interessant, als dass eine Art neuer Kommunitarismus den vielleicht spannendsten Aspekt der aktuellen Diskussion innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung nach der Finanz- und Wirtschaftskrise ausmacht.[4] Auch hier wird die genossenschaftliche Historie der Bewegung – von Robert Owen über Charles Fourier, über die Pioniere von Rochedale bis zu Friedrich Wilhelm Raiffeisen als christlich inspiriertem Vordenker – immer wieder als Inspirationsquellen herangezogen, wenn es um die Verquickung zweier zentraler Fragen geht: Erstens, wie man sich der globalen Verwertungslogik des Kapitals zumindest teilweise entziehen könnte, und zweitens, wie man wieder vermitteln könnte, dass Politik auf lokaler Ebene etwas bewegen und damit Handlungsmotivation wider eine Parteien- und Politikerverdrossenheit stiften kann.

Beide Punkte versuchen genossenschaftliche Projekte zu adressieren. Sie wollen zum einen die Verbindung von Ethik und Wirtschaft mit der Einflechtung anderer Prinzipien als jenen der Kapitalverzinsung schaffen und zum anderen Menschen wieder zu einer Mitarbeit an einem Gemeinschaftsprojekt motivieren, die den Glauben daran bisweilen verloren haben. Insofern sind sich – in diesem einen Punkt – Protestierende und einige europäische Sozialdemokraten einmal erstaunlich nah.

Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Mitherausgeber des Buches „Die neue Macht der Bürger“.

 


[1] Vgl. Heinzfried Siepmann, Christliche Hintergründe des Genossenschaftswesens, in: Evangelische Akademie Mühlheim (Hg.), Alte und neue Genossenschaftsbewegung. Zum Streit um das Erbe einer Reformidee für Wirtschaft und Gesellschaft, H. 8/1988, S. 8-26, hier S. 9.

[2] Vgl. Karl-Ludwig Schibel, Kommunebewegung, in: Roland Roth u. Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a.M. 2008, S. 527-540, hier S. 529.

[3] Vgl. Markus Heffner u. Erik Raidt, Protest im Hamsterrad, in: Stuttgarter Zeitung, 12.03.2012.

[4] Vgl dazu Danny Michelsen, Kommunitarischer Konsens?, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratiforschung, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/kommunitarischer-konsens [eingesehen am 18.02.2013]; oder vgl. auch etwa Ulrike Fokken, Die rote Insel, in: die tageszeitung, 16./17.02.2013.