„Kommt ins Offene!“ Unter diesem Appell versammelten sich am vergangenen Mittwoch interessierte Bürgerinnen und Bürger im gut gefüllten Hörsaal 011 im Göttinger ZHG, um einem – bewusst offen gehaltenen – Gespräch zwischen Robert Habeck, Bundesvorsitzender der Grünen als auch promovierter Philosoph, sowie Aladin El-Mafaalani, promovierter Soziologe und seit 2018 Abteilungsleiter im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf, zu lauschen. Beide veröffentlichten jeweils eigene Bücher, welche sich thematisch durchaus ergänzen. In „Das Integrationsparadox“[1] bedient sich El-Mafaalani einer Metapher für Migration und Integration, indem er unsere Gesellschaft als einen Raum skizziert, in den Menschen kämen und auch wieder gingen. Am Tisch sitze die Elite – also die, die das Sagen haben und über Ressourcen verfügen. Anhand dieses sprachlichen Bildes gelingt El-Mafaalani auch die plastische Darstellung von Begriffsunterschieden: Migration bedeute demnach, dass Menschen in den Raum kämen – Integration hingegen, dass sie sich vom Boden an den Tisch setzten und über den zu verteilenden Kuchen mitentscheiden wollten. Dass dies nicht harmonisch zugehe und Integration dementsprechend zu mehr Konflikten führe, leuchtet schnell ein. Habeck hingegen beschäftigt sich in seinem Buch „Wer wir sein könnten“[2] gewissermaßen mit der Debatte am Tisch, oder vielmehr mit ihrer „Logik“, wie er betont. Seine These lautet: Wir haben verlernt, richtig zu streiten. „Richtig“ streiten, das bedeutet für ihn: Scharf, aber nicht ausschließend. Davon ausgehend, dass Sprache Wirklichkeit schafft, spricht er sich für das Erlernen einer „Sprache der Offenheit“ aus.
Das Wort „offen“ fällt an diesem Abend oft. Habeck und El-Mafaalani preisen eine offene Gesellschaft, eine offene Sprache, offene Gemüter. Als Konterpart zur Offenheit setzt Habeck die „alternativlose Gesellschaft“, welche vor allem durch fehlende Kommunikation zwischen ihren Mitgliedern gekennzeichnet sei. Die offene Gesellschaft liege dabei gewissermaßen zwischen zwei Polen: der alternativlosen Gesellschaft auf der einen und der autoritären auf der anderen Seite. Offenheit als Mittelweg zwischen Schweigen und Unterdrückung – ein interessantes Konzept, welches jedoch weiterer Differenzierung bedarf. Wie genau grenzen sich die verschiedenen Gesellschaftsentwürfe gegeneinander ab? Hat Offenheit auch Grenzen?
Auch zwischen den zwei Gesprächspartnern kommt die Frage auf. „Ohne Grenzen geht es nicht“, vermutet El-Mafaalani, und spricht sich dafür aus, diese auch mitzudenken, denn „bisher haben wir immer nur weiter geöffnet“. An diesem Punkt kommt Widerspruch von Habeck: Dies sei ein altes Argument, und dazu kein sonderlich gutes. Schon immer seien Menschen der Meinung gewesen, dass mittlerweile die Grenzen der Offenheit erreicht wären – und trotzdem schritt die Öffnung weiter voran. Habeck spricht sich für mehr Offenheit aus, eine offene Tür – so wählt er das Bild – impliziere für ihn keine Grenzen. El-Mafaalani widerspricht: Die Tür gehöre zu einem Haus, und dieses habe Wände und Decken.
Eine reichlich abstrakte Diskussion also, welche aber natürlich nicht neu ist: Philosoph Karl Popper spricht sich in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ für Toleranzgrenzen aus, denn: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden von Toleranz.“[3] Grenzen sind für ihn dann erreicht, wenn man auf einer „Ebene rationaler Diskussion“ nicht mehr zusammenkommen könne. Auch am Mittwochabend werden konkrete Beispiele des Überschreitens dieser Grenze genannt. Für Habeck liegen sie beispielsweise in Begriffen wie „Asyltourismus“ oder dem Ausspruch von Alexander Gauland „Wir werden Frau Merkel jagen“. Kritik dieser Art ist ebenfalls bekannt aus der „Political Correctness“ – Debatte. Hier spielt die Ersetzung negativ konnotierter Begriffe durch positive eine zentrale Rolle: „Ausländer“ wird so zu „Mensch mit Migrationshintergrund“, „Putzfrau“ zu „Raumpflegerin“.[4] Dies erweckt den Anschein, eine offene Sprache zeichne sich durch das bloße Austauschen von Begriffen aus. Doch ist es wirklich das Wort an sich, das ausschließt, oder nicht vielmehr die Einstellung dahinter? Und ist es überhaupt möglich, eine solche Grenze objektiv festzulegen oder kann dies immer nur subjektiv geschehen?
El-Mafaalani erzählt dazu von einem Erlebnis mit seiner damals 14-jährigen Tochter: Auf einer Feier werden sie gefragt, wie man denn eigentlich „bei ihnen“ feiere. Während El-Mafaalani die Frage im Kopf automatisch umdeutet – „Wie feiert man eigentlich in Syrien?“ – geht sie seiner Tochter tagelang nicht aus dem Kopf. Das „ihr“ in dieser Frage stört sie sichtlich, auch, wie ihr Vater darauf geantwortet hat. Für sie ist die Wortwahl kränkend, impliziert das Wort „ihr“ doch, dass sie anders, nicht zugehörig sind. Ist mit dieser Frage bereits die Grenze der offenen Sprache überschritten? Passiert dies überall dort, wo sich jemand ungerecht behandelt und ausgeschlossen fühlt?
Aus Sicht der Tochter ist es durchaus verständlich, dass sie „keine Lust mehr hat, nachzugeben“, wie El-Mafaalani das Gefühl vieler junger Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, auf den Punkt bringt. Sie wurde in Deutschland geboren, ihr Vater ebenfalls, Syrien kennt man vor allem aus dem Urlaub. Ob man sich nun als Deutscher oder als Syrer sieht, sei eine persönliche Entscheidung – das Wort „ihr“ nehme diese Entscheidung jedoch vorweg. Doch sollte nicht, von der anderen Seite betrachtet, der Wille des Fragestellers, das Gespräch zu suchen und andere Lebensentwürfe kennenzulernen, gerade bezüglich des Ziels einer offenen Gesellschaft positiv bewertet werden?
Auch El-Mafaalani weist auf dieses Problem hin: Wenn sich die Sprache am Tisch aufgrund der Integration der neuen Mitglieder wandele, führe dies wiederum zur Brandmarkung all jener, welche ihre Wortwahl nicht umstellen, ohne dabei böser Absichten zu sein. „Ich habe auch keine Lösung für das Problem“, gibt El-Mafaalani zu. Diese könnte jedoch im Konzept der Offenheit selbst liegen: Durch dessen Verortung zwischen Unterdrückung und Schweigen scheint ein Mittelweg angebracht zu sein. Auch Habeck spricht sich gegen eine „Sprachpolizei“, welche gewissermaßen von oben herab urteile, aus. Weder repressive Maßnahmen noch das Einstellen aller Kommunikation sollten demnach also unsere Gesellschaft prägen, sondern eine Diskussion mit einer angemessenen Portion Sensibilität. Politik bezeichnet Habeck folgend auch als „das Ringen um den richtigen Begriff“, und kritisiert den Versuch, alles durch Statistiken und Daten darstellen und erfassen zu wollen. Stattdessen könne über persönliche Geschichten viel mehr vermittelt werden, die „kulturelle Dimension“ in der Politik müsse wiederentdeckt werden.
Auch die von El-Mafaalani skizzierte Tischgesellschaft kann im Grunde genommen nur funktionieren, wenn der Toleranzbereich nicht auf ein Minimum schrumpft und damit jegliche Kommunikation von vornherein verhindert wird. Als Grund, warum dies heutzutage nicht immer gelingt, führt Habeck den Begriff der Thalassophobie, der Angst vor tiefem Wasser, an. Die Angst vor dem Unbekannten, dem Offenen, präge unsere heutige Gesellschaft und sei ursächlich für aggressive und ausgrenzende Sprache. Oder in El-Mafaalanis Metapher gesprochen: Nicht nur über die Verteilung des Kuchens und die Tischregeln werde „innen“ neu verhandelt, auch von außen werde kräftig am Haus gerüttelt – durch Entwicklungen wie Globalisierung und Internationalisierung.
Das Gespräch zwischen Habeck und El-Mafaalani macht deutlich: Beide Konzepte – eine offene Gesellschaft und eine offene Sprache – gehen Hand in Hand und sind aufeinander angewiesen. Wann Grenzen überschritten werden, ist in vielen Fällen schwer festzustellen, da die subjektive Empfindung doch erheblich variiert. Offenheit bleibt also ein Balanceakt – dass unsere Wortwahl dabei entscheidend ist, führt Habeck seinem Gesprächspartner abschließend noch einmal deutlich vor Augen. Denn schließlich bediene sich auch El-Mafaalani einer Metapher und beeinflusse damit unsere Wahrnehmung: Deutschland als Haus, in welchem man am Tisch sitzend über einen Kuchen verhandele, klinge schließlich ganz anders, als Deutschland als ein voller Reisebus, in dem alle mitfahren wollen.
Caroline Trocka studiert Politikwissenschaft und Öffentliches Recht in Heidelberg und absolviert derzeit ein Praktikum am Institut für Demokratieforschung.
[1] El-Mafaalani, Aladin: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018.
[2] Habeck, Robert: Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht, Köln 2018.
[3] Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons, Bern/München 1957, S. 359.
[4] Forster, Iris: Political Correctness / Politische Korrektheit, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 15.10.2010, URL: https://www.bpb.de/politik/grundfragen/sprache-und-politik/42730/politische-korrektheit?p=all [eingesehen am 15.03.2019].