Die bürgerlich-konservative Presse ist entsetzt. Welt-Chefredakteur Poschardt wirft der Kanzlerin vor, „dickfellig“ zu sein, FAZ-Herausgeber Kohler „störrische Härte“ im gegenwärtigen Asylstreit mit Innenminister Seehofer der CSU[1]. Wieder einmal gibt es Auseinandersetzungen zwischen den „Schwesterparteien“. Dabei liegt das Problem viel tiefer, als dass es um den 63. Punkt von Seehofers bisher unbekanntem „Masterplan“ ginge oder allein die absolute Mehrheit der Bayernwahl Kernmotivation der Zuspitzung seitens der CSU wäre. Es geht darum, ob die CDU von ihrem seit Jahren eingeschlagenen Modernisierungskurs abrücken soll. Für die Christdemokraten wäre eine solche Abkehr höchst riskant.
Bei der Bundestagswahl 2005 war Merkel mit ihrem wirtschaftsliberalen Reformprogramm grandios gescheitert. Es galt damals als ausgemacht, dass sich auf dem sehr marktorientierten Bereich und auch in gesellschaftlich konservativen Positionen für die CDU keine Wahlen mehr gewinnen lassen. Es folgte dann in der Regierungspolitik der Merkel-CDU in der Großen Koalition der Kurs, der von ihren Kritikern als „Sozialdemokratisierung“, oder „Linksruck“ verstanden wurde. Besonders in der Familienpolitik rückten die Christdemokraten von ihrem einst konservativen Profil ab, in der Wirtschafts-, und Sozialpolitik korrigierten sie vielmehr ihre wirtschaftsliberalen Positionen, die sie auf dem Leipziger Parteitag 2003 mit Forderungen wie der nach einer „Kopfpauschale“ in der Krankenversicherung beschlossen hatten, hin zu klassischen Positionen ihres Arbeitnehmerflügels. Die Partei erschloss damit heterogenere, neubürgerliche und urbanere Bevölkerungsgruppen.[2] Damit hatte die Partei bei Wahlen Erfolg: Die CDU stieß seitdem in breitere Wählersegmente vor; besonders die SPD als volksparteilicher Konkurrent litt darunter.
Selbst in der Migrationspolitik war die Position der CDU-Spitze nicht erst seit 2015 eine liberalere. Bereits in ihrem Grundsatzprogramm von 2007 sprach die Partei von Deutschland als einem „Integrationsland“, Christian Wulff machte in Niedersachsen Aygül Özkan zur ersten muslimisch-gläubigen Ministerin in Deutschland. Wolfgang Schäuble sagte schon 2006 – vier Jahre vor der Aufregung um den selbigen Satz aus dem Munde von Bundespräsident Wulff –, der Islam gehöre zu Deutschland.
Nun hat sich — manifest geworden in den gegenwärtig im Bundestag vertretenen Fraktionen — die Parteienlandschaft seit dem Jahr 2015 verändert. Es ist von einem Auftrieb des Nationalen, von einem Verlust der „Magie der Mitte“[3] die Rede, und damit von dem Ort, welcher immer schwerer dauerhaft zu lokalisieren war, den Merkels Partei jedoch lange erfolgreich bei Wahlen besetzen konnte. Nach Brexit und Trump wird vom Aufkommen einer neuen politischen Konfliktlinie gesprochen: Diese beschreibt die Spaltung gesellschaftlicher Schichten zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus,[4] die auf unterschiedlichsten Politikfeldern wie der Handels-, Migrations-, sowie der Sicherheits-, und Sozialpolitik zutage tritt. Hervorgerufen werden Auseinandersetzungen auf dieser Linie etwa durch soziale Abstiegsängste und nicht zuletzt auch seit der „Flüchtlingskrise“ ab dem Herbst 2015 durch kulturelle Überfremdungsangst.[5]
Während der wesentlich mit Angela Merkel verbundene Kurs der CDU bisherige Erfolge an der Wahlurne erst ermöglichte, gerät die Person der Kanzlerin nun zum Problem: Merkel kann als Parteivorsitzende kaum noch den verschiedenen Strömungen in ihrer Partei, oder gar der Union, präsidieren, weil sie sich in der Migrationspolitik, dem Politikfeld, das aktuelle politische Debatten dominiert, zu sehr exponiert, zu sehr auf eine Seite geschlagen hat. Während in den vergangenen Jahren die konservativen, und noch rechtere Stimmen innerhalb der Gesellschaft sich bei Wahlen nicht bemerkbar machen konnten, werden sie nun von der AfD kanalisiert und im Parlament abgebildet. Dies beunruhigt vor allem die CSU. Der Kurs Merkels hatte in der Vergangenheit allerdings den koalitionstaktischen Vorteil, für verschiedene Koalitionen, von der CSU bist zu den Grünen offen zu sein. Durch die Gewichtsverschiebungen bei der Bundestagswahl 2017 sind jedoch „defekte Lager“[6] entstanden, die klassischen Koalitionsmodelle haben keine Mehrheiten mehr. Die Herrenriege aus Spahn, Dobrindt und Lindner wird bereits als Zukunftsmodell einer schwarz-gelben Zusammenarbeit beschrieben,[7] manchen Konservativeren in der CDU wird nach vielen vergeblichen Profilierungsversuchen in der Vergangenheit Auftrieb bescheinigt.
Bei einer Betrachtung der Positionierung der Wähler der Union aus CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2017 entlang der neuen Konfliktlinie fällt auf, dass die Anteile der Skeptiker (48%) und Befürworter (52%) von Kosmopolitisierungsprozessen bei der Union mehr als bei den anderen Parteien in etwa gleich stark sind.[8] In diese Gruppe der Skeptiker ist wohlgemerkt der rechte „Flügel“ der CDU sowie die gesamte CSU bereits mit eingerechnet, was wiederum Rückschlüsse auf die Positionierung CDU-Wählerschaft zulässt: Es ist anzunehmen, dass dort die Befürworter stärker vertreten sind als in der Gesamtunion. Dies schränkt die Handlungsmöglichkeiten der CDU besonders ein. Sie muss für die Union insgesamt eine Balance zwischen den Positionen der beiden genannten Wählersegmente erreichen.
Im Jahr 2017 haben für die CDU auf Landesebene zudem mit Laschet in NRW, Günther in Schleswig-Holstein, sowie Kramp-Karrenbauer im Saarland insbesondere Merkel nahestehende Personen Wahlen gewonnen. Mögen diese Politiker zwar leiser auftreten als ihre konservativen Pendants, sie repräsentieren nicht unerhebliche Teile ihrer Gesamtpartei. Schon immer war die CDU in ihrer Geschichte programmatisch heterogener aufgestellt. Sie repräsentierte neben dem gesellschaftlich konservativen auch den wirtschaftsliberalen und sozialkatholischen Flügel; dies im Gegensatz zu den reinen „Konservativen“ der europäischen Schwesterparteien, etwa den Tories in Großbritannien.[9] Merkels CDU hat in der Atomkraft, der Wehrpflicht und in der Flüchtlingspolitik bereits einige inhaltliche Pirouetten gedreht; flexibel kann die Kanzlerin sein und dadurch hat die CDU in der Ära Merkel erhebliche Wähleranteile neu erschlossen. Falls sich die CDU mit Merkel, oder wahrscheinlicher: nach Merkel, nach „rechts“ entwickelt – dies auch über die Flüchtlingspolitik hinaus etwa in der Innen-, und Gesellschaftspolitik oder in einem restriktiven Europakurs – werden eben jene mittigen Wählergruppen gerade nicht zu halten sein. Eine Positionsverschiebung in der Migrationspolitik würde in der öffentlichen Wahrnehmung als Startpunkt einer solchen Abkehr gesehen werden. Ebenso wie für Seehofer ist die gegenwärtige Auseinandersetzung deshalb auch für Merkel von hoher symbolischer Bedeutung.
Michael Freckmann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Poschardt, Ulf: Die CSU fängt jetzt erst an, in: Die Welt, 19.06.2018; Kohler, Bertold: Um alles, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2018.
[2] Walter, Franz / Werwarth, Christian / D’Antonio, Oliver: Die CDU, Baden-Baden 2011, S. 212ff.
[3] Ulrich, Bernd: Wie radikal ist realistisch?, in: Die Zeit, 14.06.2018.
[4] Vgl. Merkel, Wolfgang: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Harfst, Philipp/Kubbe, Ina/Poguntke, Thomas (Hrsg.): Parties, Governments and Elites: The Comparative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9-23.
[5] Vgl. Bude, Heinz: Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen, München, 2016; Vgl. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft, Frankfurt am Main 2016.
[6] Mielke, Gerd: Eine neue Etappe im deutschen Parteiensystem?, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Jg. 68 (2007), H. 4, S. 244-253, hier S. 250f.
[7] Vgl. Neukirch, Ralf/Pfister, Rene/Schult, Christoph: Diese drei Männer wollen Merkel beerben, in: Der Spiegel, 18.01.2018.
[8] Vgl. Vehrkamp, Robert/Wegschaider, Klaudia: Populäre Wahlen, Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl, Gütersloh 2017.
[9] Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993, S. 112ff.