Der Streit um den Teddybären

[kommentiert]: Johanna Klatt über die politikwissenschaftliche Beschäftigung mit „Kinderkram“.

Jeder, der schon einmal versucht hat, zwei um einen Teddy miteinander ringende Kinder zu trennen, weiß, dass es einen Unterschied zwischen gleichen und gemeinsamen Interessen geben kann. Beide Kinder wollen den Teddy, darin gleicht sich das kindliche Anliegen. Es gibt jedoch, möchte man dem Bären keinen Schaden zufügen, keine wirklich gemeinsame Lösung für das Problem.[1] Zugegeben, wäre das Objekt der Begierde kein bäriger Teddy, sondern ein Schokoladenriegel, fände sich eine gemeinsame Lösung. Das Problem ließe sich mit dem Brotmesser lösen und beide streitenden Parteien mit je einem halben Riegel schnell zufriedenstellen.

Doch nicht immer, so betont es unter anderem die politische Theorie, lassen sich gleiche Interessen miteinander versöhnen und eine gemeinsame Lösung finden. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Politikwissenschaft[2] mit dem Vorhandensein verschiedener – zum Teil unvereinbarer – Interessen, mit Konfliktlinien zwischen Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, Stadt- und Dorfbewohner beispielsweise, die zur Ausbildung von mehr oder weniger festgeformten Lagern entlang der Grundsatzentscheidungen führen können. In der Fachliteratur fänden sich etliche weitere Beispiele für Analysen von Konflikthaftigkeit und „Streit“.

Was die politikwissenschaftliche Forschung dabei weitgehend unberücksichtigt gelassen hat, ist die Bedeutung der Konfliktaustragung und Interessenaushandlung für die demokratische Früherziehung. So trivial die Stofftieranalogie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, weist sie doch auf ein für demokratische Gesellschaften entscheidendes Element hin: den Streit. Dieser muss sich – daran denkt man als Beobachter einer solchen Situation vielleicht als erstes – zivil und ohne Handgreiflichkeiten abspielen. Zu einer demokratischen Streitkultur gehört jedoch noch mehr. Es muss Ansichten, Interessen, vielleicht auch Ideologien geben, die sich voneinander unterscheiden. Nur so kann der Souverän in freien Wahlen eine individuelle Entscheidung zwischen miteinander konkurrierenden Politikvorstellungen treffen. Eine gesunde Meinungsvielfalt sowie der Respekt und die Anerkennung für die Ansichten Anderer werden im Idealfall nicht nur in jedem Kinder- oder Klassenzimmer unterrichtet. Sie gehören auch zur „demokratiepolitischen Bildung“, oder in den Worten von Karen O’Shea zur „Education for Democratic Citizenship“.

Interessant wäre es also beispielsweise zu ergründen, wie sich bei sehr jungen Bürgerinnen und Bürgern Vorstellungen vom demokratischen und zivilen Streiten, von Regeln und Gesetzen, von Politik und Parteien ausbilden und wie Kinder die Unterschiedlichkeit von Meinungen wahrnehmen. Wie werden sie dabei in ihrem Klassenzimmer, auf dem Pausenhof und durch den Dialog mit den Eltern am Frühstückstisch geprägt?

Doch wie gesagt: Die ganz jungen Staatsbürger gehören zum bedauerliches Desiderat der forschenden Politikwissenschaft. Von der bahnbrechenden Studie „Demokratie leben lernen“ vielleicht einmal abgesehen, stößt man auf diesem Gebiet auf keine nennenswerten Forschungsleistungen. Viele Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler scheuen offenbar davor zurück, mit diesem vermeintlichen „,Kinderkram‘“[3] in Berührung zu kommen. Es überwiegt die Einschätzung, die Forschung müsse erst einen Blick auf die Bürgerinnen und Bürger werfen, sobald diese die Pubertät hinter sich gelassen haben und am besten auch noch wahlberechtigt sind. Seit den 1970er Jahren standen ausschließlich Jugendliche im Zentrum des Forschungsinteresses, beklagt auch Abendschön,[4] und dies obwohl es inzwischen deutliche Hinweise darauf gibt, dass sogar quantitative und standardisierte Befragungen etwa mit Grundschulkindern zu plausiblen Erkenntnissen führen können.[5]

Dabei lässt sich nicht nur die Politikdidaktik sondern auch die tagesaktuelle politikwissenschaftliche Forschung mit der Bildungsarbeit junger Menschen verbinden. Aktuell stellt diese beispielsweise fest, dass die bundesdeutsche Bevölkerung den demokratischen „Streit“ nur selten explizit goutiert, dass hierzu, über die Wesentlichkeit der demokratischen Konflikthaftigkeit, sogar ein eklatantes politikdidaktisches Wissensdefizit in der Öffentlichkeit besteht. Denn im Gegenteil, in einer erfolgsorientierten Wissensgesellschaft gelten vielmehr Effizienz und Sachlichkeit als tragfähige Orientierungswerte. Verbal politisch „gestritten“ wird allerhöchsten noch in Talkshowrunden, und hier meist durch schauspielerische Darbietung zum Amusement der zuschauenden Bevölkerung. Gerade in finanzpolitisch oder ökologisch verunsichernden Krisenzeiten orientiert man sich an sachlich und kompetent auftretenden Politikerinnen und Politikern, sehnt sich nach einem Wissenschaftler- oder Technokratentypus am Kopf des Staates. Im Moment personifiziert diese rationale Versiertheit vielleicht am deutlichsten der Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière. Viel gestritten oder gar ideologisch gepoltert werden soll um eine politische Richtungsentscheidung eigentlich nicht (denn – so die Annahme – es gebe ja die „eine“ sachlich-richtige Lösung). Ein Trugschluss, wie wir bereits eingangs am Bild des Teddybären gesehen haben. Eines der Kinder wird zumindest kurzzeitig auf ihn verzichten müssen, hier gibt es keine klare gemeinsame Lösung.

Ähnliches ließ sich kürzlich in der Welt der Erwachsenen, in Stuttgart, beobachten. Dort standen sich in ähnlich unversöhnlicher Weise zwei Lager gegenüber. Entweder man baut einen Bahnhof über- oder unterhalb der Grasnarbe, so lauteten verkürzt gesagt die kontrahierenden Ansätze. Auch hier gab es, trotz langwieriger sachlicher Verhandlungen, keine eindeutigen Kompromisse. Politik gleicht, wie man an diesen Beispielen sehen kann, mitunter einem Nullsummenspiel. Es hinterlässt trotz aller Kompromiss- und Beteiligungsmöglichkeiten eine Minderheit unbefriedigt. Umso wichtiger ist die zivile Streitkultur einer Gesellschaft, ohne die, so betont es Sybille Reinhardt ganz richtig, keine pluralistische Staatsform existieren kann. Die Konfliktfähigkeit sei sogar die wichtigste Kompetenz des Bürgers in der Demokratie, schließt die Politikdidaktikerin.[6] Und zu ihr gehört das Verständnis für den Sinn von Konflikten, die Akzeptanz eines mitunter langwährenden Streits um Meinungshoheit.

So ist es nicht nur Aufgabe der Politikwissenschaft, derartige Tendenzen und Stimmungen der politischen Kultur – wie etwa das Wissensdefizit über die Relevanz von Streit und Meinungspluralismus für eine Demokratie – aufzuspüren, sondern sie mit der politischen Bildungsarbeit in Kontakt zu bringen. Und dies insbesondere in Grundschulen und Kitas, wo sich spätestens seitdem die internationalen Vergleichsstudien à la PISA oder TIMSS einen aufrüttelnden Stoß in die deutsche Bildungslandschaft gesandt haben, die Curricula der Kinder mit musikalischer Frühförderung, mit Chinesisch- und Spanisch-Kursen gefüllt haben. Warum sollte zu diesem Programm nicht auch die Ausbildung in „Demokratie“ und in „demokratischen Fähigkeiten“ (democratic skills) gehören? Politikdidaktik und Demokratiepädagogik, aber gewiss auch die Politikwissenschaft muss hier eine maßgebliche Rolle spielen. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat sich, mit dem Projekt Kinderdemokratie, hierfür schon einmal ein mögliches Drehbuch besorgt.

Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Im Projekt der Göttinger Kinderdemokratie geht es u.a. um die Vermittlung von Demokratiekompetenz an Grundschulkinder.


[1] Ich danke an dieser Stelle Carla und Joshi für die Inspiration.

[2] Dies beispielsweise anhand der Cleavage-Theorie  (S.M. Lipset/ S. Rokkan).

[3] Ähnlich kritisch sieht dies: Abendschön, Simone: Die Anfänge demokratischer Bürgerschaft. Sozialisation politischer und demokratischer Werte und Normen im jungen Kindesalter, Mannheim 2009, hier S.359.

[4] Ebd. S. 360.

[5] Ebd. S. 358.

[6] Reinhardt, Sibylle: Politik Didaktik. Praxishandbuch fürs die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, S. 43.